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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Oxycodon und Co. Woher kommen die Opiod-Verpackungen auf den Straßen im Ruhrgebiet?
Leserinnen und Leser berichten, vermehrt Verpackungen von Opioiden auf den Straßen im Ruhrgebiet zu finden. Steckt eine Krise dahinter? Wir haben mit Polizei und Suchtexperten gesprochen.
Sie liegen zum Beispiel auf der Essener Straße in der Stadtmitte von Bottrop, auf der Brauerstraße oder auf dem Kirchplatz: Verpackungen von Opioiden wie Oxycodon. Achtlos weggeworfen zwischen Zigarettenstummeln und festgetretenen Kaugummis.
Verpackungsmüll wie jeder andere könnte man meinen. Doch wer sich über Oxycodon, Tramadol, Fentanyl und Methadon – nur einige Namen von Abkömmlingen des Heroins – informiert, der erfährt schnell: In den USA haben Medikamente wie diese für einen nationalen Notstand gesorgt. Zehntausende sind süchtig, inzwischen gehen drei von vier Drogentoten auf das Konto von Opioiden.
Dass ein Szenario wie in den USA nicht in Deutschland droht, ergibt sich schon allein daraus, dass Oxycodon hierzulande unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, während es in den USA selbst bei milden Schmerzen lax verschrieben wurde. Aber dennoch: Mittel wie Oxycodon scheinen auch im Ruhrgebiet auf dem Vormarsch zu sein – das bestätigen nicht nur Funde von Leserinnen und Lesern in Fußgängerzonen und bekannten Drogenumschlagsplätzen.
1,6 Millionen Abhängige in Deutschland
Allein vom Jahr 2020 auf 2021 ist die Zahl der Toten durch Überdosierung von Opioid-Substitutionsmitteln um 167 Prozent gestiegen. Laut dem Epidemiologischen Suchtsurvey sind in Deutschland 1,6 Millionen Menschen abhängig von Schmerzmitteln. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sind das etwa genauso viele wie alkoholabhängige Menschen in Deutschland.
Barbara Stratmann ist Leiterin der Jugendhilfe in Bottrop. Auch in ihrem beruflichen Alltag spielen Medikamente wie Oxycodon eine Rolle. "Die Problematik ist in den USA entstanden und zu uns herübergeschwappt", sagt sie. Es sei durchaus so, dass es derzeit einen Trend unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen gebe, verstärkt Medikamente – darunter auch Oxycodon – zu missbrauchen.
Polizei verzeichnet keinen Trend
"Es gibt immer wieder verschiedene Trends", beobachtet Stratmann. Zu einer Zeit sei Kokain auf dem Vormarsch gewesen, dann wiederum Heroin oder Cannabis. Wichtig aus Sicht der Einrichtungsleiterin: die gesellschaftlichen Hintergründe erkennen – und weder dramatisieren noch bagatellisieren.
Bei der zuständigen Polizei ist der Trend noch nicht angekommen: "Wir haben zuletzt nur eine niedrige Zahl von Straftaten im Zusammenhang mit Oxycodon verzeichnet", teilt ein Sprecher der Polizei Recklinghausen mit. Doch er weist darauf hin: "Das ist natürlich nur das Hellfeld, viel dürfte sich im Dunkelfeld abspielen", sagt er.
Aus Sicht von Stratmann kann das Problem ohnehin nicht auf eine bestimmte Substanz verkürzt werden. "Es ist viel komplexer. Es geht nicht um ein bestimmtes Medikament, sondern die Frage, warum es an einer bestimmten Stelle bei einer bestimmten Klientel verstärkt auftritt", sagt sie.
Corona-Pandemie hat Spuren hinterlassen
Und dafür hat sie eine Erklärung: Während der Corona-Pandemie hätten Jugendliche bestimmte Entwicklungsaufgaben nicht adäquat bewältigen können – etwa in Bezug auf geschlechtliche Identität, Beziehungsgestaltung, berufliche Ausbildung oder Ablösung von der Familie. "Die Pubertät ist immer eine anstrengende Zeit, aber durch die Corona-Regeln war der Kontakt zu Gleichaltrigen eingeschränkt", sagt Stratmann. Schulen seien geschlossen gewesen, Partys hätten nicht stattgefunden, Ferienfreizeiten wurden abgesagt.
"Wir haben beobachtet: Leute, die eher in prekären Verhältnissen groß werden, mussten hinter ihren Möglichkeiten bleiben. Die Familien konnten nicht alles kompensieren", sagt Stratmann. Man dürfe die Generation nicht stigmatisieren, aber bestimmte Menschen seien auf der Strecke geblieben.
Suchtexpertin: "Die Krise ist normal geworden"
Gleichzeitig würden auf der Welt viele Umbrüche passieren. "Die Krise ist normal geworden", sagt Stratmann und denkt an den Krieg in Europa, Migrationsdynamiken und den Klimawandel. In diesem Umfeld müssten sich junge Menschen orientieren. Stratmann überrascht es daher nicht, dass es gerade Betäubungsmittel sind, die verstärkt konsumiert werden.
Nach der Pandemie sei es schnell darum gegangen, Leistung aufzuholen – statt zu fragen "Wie geht es euch überhaupt?", kritisiert Stratmann. Wenn man einen 18. Geburtstag nicht habe feiern können, sei das ein unwiederbringlicher Verlust.
"Diejenigen, die uns von ihren Motiven berichten, sprechen davon, den Kopf freizubekommen und sich keine Gedanken machen zu müssen", sagt Stratmann. Oft würde Oxycodon in einer Gruppe mit anderen konsumiert werden – zur Entspannung zum Beispiel. Die Klientel: gemischt, überwiegend männlich. Laut Stratmann sind Gymnasiasten ebenso vertreten wie junge Menschen aus prekären Verhältnissen.
Oxycodon kann medizinisch hilfreich sein
"Die Jugendlichen konnten auch nicht üben, risikobereit zu feiern und einen Umgang mit bestimmten Substanzen zu finden", sagt die Einrichtungsleiterin. Medikamente seien derweil nicht so stark stigmatisiert wie Heroin, man gelte nicht als "Junkie". "Wir erfahren von den Jugendlichen, dass sie die Medikamente über den Schwarzmarkt bekommen und sie selten Ärzte finden, die ihnen Oxycodon verschreiben", berichtet Stratmann.
Sucht- und Schmerzmediziner Justus Benrath kennt sich mit den Substanzen bestens aus. "Oxycodon ist ein Medikament zur Schmerztherapie und prinzipiell gut und hilfreich", sagt er. Das Medikament werden zum Beispiel bei Rückenschmerzen eingesetzt – und nicht, wie anzunehmen, ausschließlich in der Krebstherapie.
Starke Mittel für moderate Schmerzen
Eine Studie aus dem Jahr 2022 bestätigt, dass starke Schmerzmittel überwiegend bei weniger schwerwiegenden Erkrankungen eingesetzt werden. Rund 80 Prozent derjenigen, die starke Schmerzmittel verschrieben bekamen, waren keine Krebspatienten. Verschrieben wurden die Medikamente fast ausschließlich von Allgemeinmedizinern und hausärztlichen Internistinnen.
"In den USA haben sich die Ärztinnen und Ärzte von der Pharmaindustrie einlullen lassen, dass dieses Medikament keine Abhängigkeit erzeugen würde. Das ist eine Fehlinformation, die dazu geführt hat, dass es unkritisch verschrieben wurde", erklärt Benrath.
Anders als in den USA gebe es hierzulande aber ein sehr striktes System. "Alle Opiate werden nur über ein eigenes Rezeptsystem verschrieben. Ärztinnen und Ärzte haben eine individuelle Nummer, bei jedem Rezept ist nachvollziehbar, wer es verschrieben hat", sagt der Mediziner. Die Rezepte müssten außerdem im Tresor aufbewahrt werden, der Durchschlag zehn Jahre lang aufgehoben werden. "Die aggressive Bewerbung durch die pharmazeutische Industrie ist in Deutschland gesetzlich nicht erlaubt", ergänzt Benrath.
Doppelt so wirksam wie Morphin
Oxycodon, etwa doppelt so wirksam wie Morphin, sei nicht das gefährlichste der Medikamente, aber vergleichsweise leicht verfügbar. "Viel gefährlicher ist Fentanyl, welches 100-mal so stark wirksam wie Morphin ist und in den USA inzwischen das Hauptproblem darstellt", warnt Benrath. Es sei aber schwierig, einem gewissen Missbrauch einen Riegel vorzuschieben – auch nicht mit weiteren Regularien. Betäubungsmittel würden immer wieder auf dem Schwarzmarkt erscheinen, obwohl sie nur unter strengen medizinischen Gesichtspunkten abgegeben werden dürfen.
"Das Oxycodon, welches auf dem Schwarzmarkt erscheint, wird nicht als Tablette geschluckt. Es wird zermartert und intravenös wie Heroin konsumiert", weiß der Mediziner. Seine Wirkung beschreibt er als beruhigend, dämpfend und sedierend – man bekomme einen gewissen Abstand zur Außenwelt.
Hohe Wachsamkeit bei Ärzten
"Wenn man Oxycodon als Tablette einnimmt, ist eine Überdosierungsgefahr so gut wie unmöglich. Wenn man es aber missbräuchlich einnimmt und sogar noch mit anderen Substanzen kombiniert, dann wird es höchst gefährlich", erklärt er. Insgesamt brauche es eine hohe Aufmerksamkeit sämtlicher Mediziner, Missbrauchsmöglichkeiten durch Patienten zu erkennen.
Stratmann will an anderer Stelle ansetzen: "Zuletzt haben nicht nur Drogenkonsum, sondern auch zum Beispiel depressive Erkrankungen, Angst- und Essstörungen sowie aggressives Verhalten zugenommen." Man müsse viel umfassender fragen, was junge Menschen in Krisenzeiten bräuchten. Zu den Antworten zähle ein gutes Netzwerk von Hilfsangeboten und eine Politik gegen den Fachkräftemangel. "Denn Stellen bleiben auch in der Jugend- und Drogenhilfe dauerhaft unbesetzt", sagt Stratmann.
Es brauche Räume und offene Angebote gerade für Kinder- und Jugendliche in ärmeren Vierteln. "Wir müssen aufsuchende sozialarbeiterische Angebote stärken und auch die Psychotherapieangebote hochfahren", meint sie. Abhängigkeitserkrankungen dürften dann kein Ausschlusskriterium sein. "Zu oft heißt es noch: Bekomm erst mal deine Sucht in den Griff, dann kannst du wiederkommen", sagt sie.
- Eigene Recherchen