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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kehrtwende im Dramè-Prozess Polizeiwissenschaftler kritisiert Staatsanwaltschaft
Seit einem Jahr läuft der Prozess um einen tödlichen Polizeieinsatz gegen einen jungen Flüchtling. Am Ende sieht die Staatsanwaltschaft keine Schuld mehr bei den Polizisten –außer beim Einsatzleiter. Ein Polizeiwissenschaftler kritisiert die Kehrtwende.
Seit Ende Dezember 2023 läuft ein Prozess gegen fünf Polizistinnen und Polizisten wegen ihres Vorgehens bei einem Einsatz im August 2022: Mouhamed Dramé, ein junger Flüchtling, war von der Polizei im Hof einer Jugendhilfeeinrichtung mit einer Maschinenpistole erschossen worden, kurz zuvor waren gegen ihn Pfefferspray und Taser eingesetzt worden. Das Urteil gegen die fünf Beamten soll nun am Donnerstag fallen.
Zum Ende des Prozesses um die tödlichen Schüsse sieht die Staatsanwaltschaft beim angeklagten Schützen sowie bei seinen drei Kollegen keine Schuld mehr für den Tod des 16-Jährigen. Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Schlussvortrag am vergangenen Montag lediglich für den Einsatzleiter eine Haftstrafe zur Bewährung gefordert.
Staatsanwaltschaft sieht eine "irrtümliche Notwehrlage"
Der Schütze habe fälschlicherweise angenommen, sich und seine Kollegen vor einem Angriff schützen zu müssen. In der Dynamik der Situation habe er nicht erkennen können, dass der Jugendliche mit dem Messer gar nicht angreifen, sondern nur der Situation entkommen wollte, sagten die Anklagevertreter in ihrem zweistündigen Plädoyer vor dem Landgericht. Die irrtümlich angenommene Notwehrlage rechtfertige die Schüsse auf den Oberkörper des Jugendlichen, weil alles schnell gehen musste - auch ohne Warnschuss.
Der Polizeiwissenschaftler und emeritierte Professor der Akademie der Polizei in Hamburg, Rafael Behr, kritisiert die Forderung eines Freispruches für vier Beamte. "Professionelle Gewaltanwender", wie es die angeklagten Polizisten seien, müssten "als solche auf diese Situationen vorbereitet sein, zumindest in der groben rechtlichen Bewertung", sagte Behr t-online. Er selbst hätte auf ein Urteil gehofft, das klar die Rechtswidrigkeit der Maßnahmen benennt, aber in der Frage der Schuld beziehungsweise beim Strafmaß milde ausfällt.
Staatsanwaltschaft hielt den Einsatz lange für unverhältnismäßig
Die generelle Kehrtwende der Staatsanwaltschaft könne er nicht nachvollziehen. "Zuerst dekonstruiert die Staatsanwaltschaft die Erzählung der Polizei und geht von Totschlag aus, dann der Freispruch wegen eines Verbotsirrtums", so Behr weiter. "Die Irrtumsproblematik kommt im Prüfverfahren einer Strafbarkeit in der Juristerei relativ weit hinten, aber doch regelmäßig vor. Das hätte Staatsanwalt Dombert schon vorher prüfen und wissen können."
Die Staatsanwaltschaft hatte den Einsatz zum Auftakt des Prozesses für unverhältnismäßig gehalten und dem Schützen lange Totschlag, den übrigen gefährliche Körperverletzung sowie dem Einsatzleiter Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung vorgeworfen.
- Mit Material der dpa
- Rafael Behr, Professor i. R. der Akademie der Polizei Hamburg