Chemnitz "Enthemmte Gesellschaft": Polizeipräsident beklagt Angriffe
Mit der Corona-Krise und den Protesten gegen staatliche Maßnahmen sind Polizisten und Polizistinnen verstärkt Ziel von Beleidigungen und Angriffen geworden. "Die Gesellschaft ist enthemmt", sagte der Chemnitzer Polizeipräsident Carsten Kaempf der Deutschen Presse-Agentur. Er beklagte eine Verrohung von Sprache und Sitten. Zwar würden Polizisten ausgebildet, sich nicht provozieren zu lassen und rechtsstaatlich zu handeln. Wenn sie aber angegriffen, grundlos beschimpft und bespuckt würden, dann lasse das niemanden kalt. "Das macht etwas mit dir, selbst als gestandener Polizist", betonte Kaempf. "Diese Belastungen gehen an niemandem spurlos vorbei."
Die von Beamten geschilderten Erlebnisse etwa bei Einsätzen am Rande sogenannter Corona-Spaziergänge oder Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen spiegeln sich laut Kaempf in der Statistik wider. Wurde im gesamten Vorjahr im Gebiet der Polizeidirektion Chemnitz zu 68 Fällen von tätlichen Angriffen auf Vollstreckungsbeamte ermittelt, waren es bis Ende August 2021 schon 93. Er rechne damit, dass es bis Jahresende weit mehr als 100 sein würden, sagte Kaempf. Zahlen für ganz Sachsen konnte das Innenministerium auf Anfrage nicht nennen.
In den Polizeiberichten tauchen immer wieder Angriffe auf Polizisten auf. Erst vergangenes Wochenende wurden zwei Beamte bei der Kontrolle von Coronaschutzmaßnahmen in Bad Schandau (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) verletzt. Sie waren zunächst beleidigt worden, dann umringte sie eine Gruppe von etwa 20 Menschen. Dabei wurde einem Polizisten gegen das Knie getreten, seinen Kollegen traf eine Flasche am Bein. Auch bei Protesten gegen die Corona-Maßnahmen im Erzgebirge war es dieses Jahr mehrfach zu Attacken auf Polizisten gekommen. Größere Aufmerksamkeit erregten etliche Fälle im Frühjahr in Zwönitz.
Nach Kaempfs Eindruck müssen Polizistinnen und Polizisten sowie andere Einsatzkräfte etwa vom Rettungsdienst zunehmend als Ventil für das verschärfte Klima in der Gesellschaft herhalten. Oftmals schlage ihnen im Einsatz Hass entgegen; Gespräche und Diskussionen seien immer seltener möglich, beklagte Kaempf. "Für viele Menschen gibt es nur noch Schwarz oder Weiß." Die Polizei verfolge einen staatlichen Auftrag und es sei selbstverständlich, dass die Versammlungsfreiheit als wichtiges Grundrecht gewährleistet werde.
Kaempf steht seit Anfang Juli an der Spitze der Polizeidirektion Chemnitz mit rund 2100 Bediensteten. Das Gebiet beinhaltet neben der Stadt Chemnitz die Landkreise Erzgebirge und Mittelsachsen. Sein Ziel sei, als Polizei verstärkt mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen. "Wir wollen eine anfassbare Polizei sein, sind aber keine Kuschelpolizei", erklärte der 53-Jährige, der zuvor Rektor der Hochschule der Polizei in Rothenburg in der Oberlausitz war. Für 2022 ist dazu laut Kaempf erstmals ein Tag der offenen Tür in der Polizeidirektion geplant.