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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "Damit legitimiert Putin sexualisierte Gewalt"
Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine werden Frauen und Mädchen systematisch vergewaltigt. Doch es sind nicht nur Soldaten, die ihre Machtposition missbrauchen.
Sie werden in ihrem Zuhause überfallen, mit der Waffe bedroht oder verschleppt: Zahlreiche Frauen berichten seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine von sexualisierter Kriegsgewalt. "Wenn Männer im Krieg sind, bekommen sie eine Waffe in die Hand und können damit über Leben und Tod entscheiden", sagt Sara Fremberg, Leiterin des Bereichs Kommunikation und Politik der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale.
Gemeinsam mit anderen Frauenrechtsorganisationen setzt sich Medica Mondiale seit mehr als 30 Jahren für die Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt ein. Im Gespräch mit t-online nimmt sie auch Deutschland in die Verantwortung.
t-online: Frau Fremberg, es gibt zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen und sexualisierte Übergriffe im russischen Krieg gegen die Ukraine. Welche Entwicklung sehen Sie?
Sara Fremberg: Die sexualisierte Kriegsgewalt in der Ukraine hat zugenommen. Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat bereits in 156 Fällen ein Verfahren eröffnet. Diese Zahlen können aber kein tatsächliches Bild über das Ausmaß der sexualisierten Kriegsgewalt zeichnen, weil viele Fälle aus ganz unterschiedlichen Gründen erst nach einer gewissen Zeit oder gar nicht dokumentiert werden.
Welche Gründe sind das?
Es sind die gleichen, wie wir sie auch aus Friedenszeiten von patriarchalen Gesellschaften kennen: Viele Überlebende tragen ein Trauma mit sich, weshalb sie manchmal erst Jahre später darüber sprechen können, was sie erlebt haben. Zudem werden sie oft stigmatisiert. Sich bei offiziellen Stellen zu melden und diese Gewalt zur Anzeige zu bringen, ist da ein großer Schritt. Das ist für viele Überlebende eine große Überwindung.
Bei den Frauen in der Ukraine kommt nun hinzu, dass sie sich im Krieg befinden …
Genau, gerade im Krieg, in der Sorge um die Familie, auf der Flucht, hat eine Anzeige zu erstatten oftmals nicht die höchste Priorität. Hinzu kommt, dass Hilfsstrukturen zusammenbrechen oder nicht mehr so effektiv arbeiten wie zuvor. Was schon in Friedenszeiten eine Herausforderung ist, wird da noch schwieriger: eine traumasensible, niedrigschwellige Dokumentation der sexualisierten Gewalt.
Einige Fälle wurden dennoch dokumentiert. Welche Tätergruppe können Sie an ihnen ablesen?
Ganz allgemein kann man sagen, dass die Täter, wie auch in Friedenszeiten, in der Regel männlich sind. Im Kontext Krieg sind es Soldaten, Paramilitärs, Polizisten, Zivilisten. Besonders perfide: Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.
Das bedeutet, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen wird nicht zwingend als Kriegswaffe eingesetzt?
Genau. Die Gefahr für sexualisierte Gewalt steigt, je abhängiger Frauen und Mädchen von anderen Personen sind. Wir alle sind in patriarchalen Gesellschaften aufwachsen, wo die systematische Diskriminierung von Frauen und Mädchen zum Alltag gehört. Im Krieg bricht die oftmals so schon schwache Hilfsstruktur zusammen. Polizei oder Frauenhäuser bieten dann nur bedingt Schutz. Frauen und Mädchen sind auf der Flucht zudem oftmals auf Fluchthelfer angewiesen.
Wie genau meinen Sie das?
Wenn Männer im Krieg sind, bekommen sie eine Waffe in die Hand und können damit über Leben und Tod entscheiden. Sie erhalten eine Machtposition und üben diese Macht dann oftmals auch aus, indem sie vergewaltigen. Das ist wichtig zu wissen: Es geht bei sexualisierter Kriegsgewalt nicht um die Befriedigung von irgendwelchen Bedürfnissen, sondern es geht um die Ausübung von Macht.
Von der dann Frauen und Mädchen betroffen sind.
Ja, es sind meistens Frauen und Mädchen. Aber auch Personen, die bereits zu Friedenszeiten in einer patriarchalen Gesellschaft diskriminiert wurden. Also queere, nicht-binäre oder trans Personen. Auch Jungen und Männer können von sexualisierter Gewalt betroffen sein.
Das heißt, sexualisierte Gewalt wird oftmals von Männern ausgeübt – ob als Soldat, als Ehemann oder Helfer. Kann man dennoch sagen, dass etwa Russland sexualisierte Gewalt als militärische Kriegsstrategie anwendet? Die Ukraine erhebt diesen Vorwurf immer wieder.
Ja, Russland setzt im Krieg gezielt auf sexualisierte Gewalt. Dafür braucht es in den meisten Fällen nicht mal eine Anordnung von oben. Offiziere und Befehlshaber schaffen eine Atmosphäre, in der sich Soldaten vor Konsequenzen sicher fühlen können. Es reicht dann aus, wenn Wladimir Putin die Soldaten, die in Butscha im Einsatz waren, nach ihrer Rückkehr öffentlich lobt und ihnen Orden verleiht. Damit legitimiert er schwere Menschenrechtsverbrechen, er legitimiert die Macht, die sie ausüben und legitimiert und begünstigt sexualisierte Gewalt.
Sara Fremberg leitet den Bereich Kommunikation bei der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale, die sich seit mehr als 30 Jahren für Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt engagiert – etwa in der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda, Afghanistan oder im Nordirak. Zusammen mit Partnerorganisationen unterstützen die Helferinnen Frauen und Mädchen wirtschaftlich, medizinisch aber auch juristisch.
Gewalterfahrungen, mit denen Frauen und Mädchen dann leben müssen. Wie können Sie bei Medica Mondiale ihnen helfen?
Wir sind kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges von "Women Against Violence in Europa", einem europäischen Netzwerk von Frauenrechtsorganisationen, kontaktiert worden, die uns nach Fortbildungen gefragt haben. In diesen haben wir unser Wissen darüber weitergegeben, wie Helferinnen mit Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt sensibel umgehen können. Außerdem haben wir Trainings zum Thema Selbstfürsorge angeboten.
Das heißt, sie helfen vor allem den Frauenrechtsaktivistinnen und Helferinnen?
Ja, denn auch die Aktivistinnen, die diese Arbeit leisten, sind im Krieg. Auch sie sind Bombenalarm ausgesetzt, müssen sich möglicherweise um Verwandte sorgen oder haben Familienangehörige verloren. Darum ist es wichtig, dass sie wissen, wie sie auf sich achten können, denn nur dann können sie den Überlebenden sexualisierter Gewalt gut helfen.
Es heißt, Überlebende sexualisierter Gewalt geben ihre Erfahrungen häufig weiter. Wie genau äußert sich das?
Überlebende haben häufig Schlafstörungen oder Flashbacks und beeinflussen damit ihr Umfeld. Es kann passieren, dass sie nicht mehr arbeitsfähig sind oder dass sie die Gewalt, die ihnen widerfahren ist, weitergeben, aber auch erneut Gewalt erfahren, weil sich ihre Wahrnehmung für Gewalt verändert.
Das heißt, es kann sein, dass Betroffene Gewalt gar nicht mehr als solche wahrnehmen?
Genau – darum sind wir alle in der Pflicht, Überlebende sexualisierter Gewalt zu unterstützen: Wenn wir in einer Gesellschaft leben, in der es normal ist, dass Frauen diese Gewalt erleben, dass sie damit allein umgehen müssen und dass die Täter oftmals straffrei davonkommen, dann festigt das die patriarchalen Strukturen, in denen wir leben und dann wird es diese Gewalt immer wieder geben. Das bedeutet, nur wenn wir diese Strukturen als Ursache dafür ansehen und ihnen entgegenwirken, können wir weitere Gewalt verhindern.
Wie kontrovers dieses Thema ist, zeigte sich an den Äußerungen von Ljudmyla Denisowa, der Ombudsfrau der Ukraine für Menschenrechte. Sie hatte sehr drastische Beispiele sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Kinder im Krieg geschildert – aber teils keine Beweise dafür vorgelegt. War ihr Vorstoß sinnvoll oder eher kontraproduktiv, um dafür Aufmerksamkeit zu bekommen?
Grundsätzlich ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft auf sexualisierte Gewalt schauen und die Überlebenden unterstützen, unabhängig davon, ob im Krieg oder im Frieden. Gleichzeitig besteht immer die Gefahr, dass diese Gewalt instrumentalisiert wird – ob durch Medien oder durch die Politik.
- Skandal in der Ukraine: Haben Sie Vergewaltigungen erfunden, Frau Denisowa?
Sie meinen, sie kann für Propaganda missbraucht werden?
Genau, aber da müssen wir gar nicht zwingend in die Ukraine schauen. Auch hier in Deutschland wird sexualisierte Kriegsgewalt instrumentalisiert, beispielsweise in Talkshows.
Sie sprechen die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht an, die bei der ARD-Sendung "Hart aber fair" die sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen von vorwiegend russischer Seite relativiert hatte?
Ja, aber nicht nur. Wir kennen das auch aus anderen Konflikten, etwa aus dem Bosnienkrieg. Es ist vor allem die Art und Weise, wie über sexualisierte Gewalt gesprochen wird.
Das bedeutet konkret? Wie erkennt man die Instrumentalisierung sexualisierter Gewalt?
Daran, dass überhaupt nicht über die Bedarfe der Überlebenden sexualisierter Gewalt gesprochen wird. Wenn in Talkshows die eigenen Interessen oder die eigene politische Agenda im Zentrum der Debatte stehen und über Täter und ihre Motive debattiert wird, über Zahlen – dann verpasst die Gesellschaft den Moment, die Überlebenden sexualisierter Gewalt zu unterstützen und zukünftige Gewalt zu verhindern.
Was braucht es also stattdessen?
Was wir uns als Frauenrechtsorganisation in Deutschland wünschen würden, ist, dass Überlebenden zugehört wird. Es gibt keine Schablone, die für alle passt, aber wir müssen eine Debatte darüber führen, was Überlebende brauchen, wie man sie unterstützen kann, wie man Frauenrechtsorganisationen unterstützen kann.
Frau Fremberg, vielen Dank für das Gespräch!
- Gespräch mit Sara Fremberg von Medica Mondiale