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Deutsche Landwirtschaft: "Eine knallharte Angelegenheit"


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Landwirtschaft in Deutschland
"Die gingen sofort ab zum Schlachthof"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 13.06.2023Lesedauer: 9 Min.
Kind auf einem Bauernhof in den Fünfzigerjahren (Archivbild): Der Historiker Ewald Frie beschreibt den Abschied von der bäuerlichen Welt.Vergrößern des Bildes
Kind auf einem Bauernhof in den Fünfzigerjahren (Archivbild): Der Historiker Ewald Frie beschreibt den Abschied von der bäuerlichen Welt. (Quelle: Gerhard Leber/imago-images-bilder)

Mit zehn Geschwistern wuchs Ewald Frie auf einem Bauernhof im Münsterland auf – in einer Zeit, als das bäuerliche Leben dem Ende zuging. In einem preisgekrönten Buch berichtet der Historiker darüber.

Es war ein Abschied der stillen Art, der sich in den ersten Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik Deutschland ereignete. Ein Abschied von einer Welt, die das Land über Jahrhunderte geprägt hatte: dem bäuerlichen Leben, geprägt von harter Arbeit und Stolz auf das Erreichte. Der Historiker Ewald Frie, selbst 1962 auf einem kinderreichen Bauernhof geboren, hat anhand seiner eigenen Familie diesen Abschied untersucht. Sein Buch "Ein Hof und elf Geschwister" wurde kürzlich mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet. Ein Gespräch.

t-online: Professor Frie, Sie sind mit zehn Geschwistern auf einem Bauernhof im katholischen Münsterland aufgewachsen. Welche Erinnerungen verbinden Sie damit?

Ewald Frie: Verstecken habe ich sehr gerne gespielt, da gab es auf der Tenne reichlich Möglichkeiten. Auch das Apfelpflücken fand ich schön. Wenn ich heute durch Felder fahre, wecken die Gerüche allerlei Erinnerungen an diese Zeit. Manches davon ist dann auch weniger schön, etwa das Jauchefahren.

Sie sind 1962 geboren, in einer Zeit, in der die bäuerliche Welt endgültig ihrem Ende zuging.

Die Fünfzigerjahre waren eine Art letztes Aufbäumen der bäuerlichen Welt, danach kam tatsächlich ihr Ende. Begonnen hatte dieser Prozess allerdings bereits im 19. Jahrhundert mit Industrialisierung und Urbanisierung.

In ihrem preisgekrönten Buch "Ein Hof und elf Geschwister" beschreiben Sie den "stillen Abschied vom bäuerlichen Leben". Es basiert im Wesentlichen auf Interviews mit ihren zwischen 1944 und 1969 geborenen zehn Geschwistern. Nur ein Bruder ist der Landwirtschaft treu geblieben, indem er den Hof übernahm.

Es hat mich sehr beeindruckt, wie groß der Unterschied zwischen meinen ältesten und den jüngsten Geschwistern ist. Die Ältesten hatten tatsächlich das Gefühl, dass die Landwirtschaft eine Zukunft habe. Bei mir war das überhaupt nicht mehr so. Meine beiden ältesten Schwestern, Jahrgang 1950 und 1954, waren da wohl die Übergangsfiguren. Danach gab es niemand mehr, der in der Landwirtschaft seine Zukunft sah.

Ewald Frie, Jahrgang 1962, lehrt Neuere Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 2017 veröffentlichte er "Die Geschichte der Welt", mittlerweile in 4. Auflage erschienen. Für sein neuestes Buch "Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben" wurde der Historiker kürzlich mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet.

Was bedeutete der elterliche Hof für Ihre Familie?

Der Hof war die Grundlage unserer wirtschaftlichen Existenz. Ein Vertrag aus dem Jahr 1838 – übrigens das älteste schriftliche Dokument, das sich auf unserem Hof erhalten hat – illustriert die Bedeutung: Es ist ein achtseitiges Regelwerk, das sich mit Besitz, Eigentum, Niesbrauch, Altenteil, Brautschatz und Abfindung beschäftigt. Was überaus wichtig war, denn nach vorhergegangen Agrarreformen gab es keinen Grundherrn mehr, der irgendwelchen Fürsorgepflichten hätte nachkommen können.

Die Bauernfamilie war also auf Gedeih und Verderb auf den wirtschaftlichen Erfolg ihres Hofes angewiesen.

Richtig. Der Sozialstaat existierte schlichtweg noch nicht, eine Versicherung für den Ernstfall ebenso wenig. Einem Bauern mit Landbesitz hätte die kommunale Armenfürsorge auch nicht beigestanden.

Was wiederum bedeutet, dass jedes Familienmitglied anpacken musste.

In so einem Familienbetrieb mussten alle mitarbeiten, weil vom gemeinsamen Wirtschaften der Erfolg abhängt. Mein Vater betrieb Rinderzucht, da war die Arbeitsintensität durchgehend hoch, anders als beim Getreideanbau. Mit dem ökonomischen Aspekt verband sich untrennbar der soziale: Die Ehe meiner Eltern – und wahrscheinlich auch der vorhergehenden Generationen – basierte zu einem Teil auf Zuneigung, vielleicht auch auf Liebe, aber auf beiden Seiten zusätzlich auf anderen Erwägungen.

Die rationaler waren als Gefühle?

Ist das ein Hof, auf dem ich mich nicht totarbeiten muss? Ist das ein Hof, auf dem ich glücklich werden kann? Diese Fragen stellte sich die Frau. Für den Mann war hingegen die Frage zentral, ob die Auserwählte in der Lage war, den Hof ihrerseits so zu bewirtschaften, dass es allen gut ging. Das mag man aus heutiger Sicht kritisieren, aber es war eine Verschränkung von Logiken, die in dieser bäuerlichen Lebenswelt sinnvoll und vernünftig waren. Meine Eltern haben dann die Verantwortlichkeiten aufgeteilt und sind damit auch gut zurechtgekommen.

Sie beschreiben den elterlichen Hof als relativ abgeschlossenen Kosmos. Schon das nahegelegene Dort Nottuln war eher "fremd", wurde vor allem wegen Kirche und Frühschoppen aufgesucht.

Der Hof war abgeschlossen und ein Kosmos für sich. Allerdings nicht komplett. Die Frauen konnten nicht einfach in den Supermarkt fahren und einkaufen, entsprechend versuchten sie, so selbstständig wie möglich zu sein. Zucker, Mehl und andere Sachen wurden aber sehr wohl eingekauft, bei uns in großen Mengen, weil wir ja recht viele waren. Bis in die Fünfzigerjahre hat meine Mutter Eier, Butter und Käse verkauft, der Erlös ging in eine eigene Kasse. Mein Vater wiederum hat Rinder verkauft.

Bitte beschreiben Sie einmal den Alltag Ihrer Jugend.

Die ersten Kinder verließen morgens gegen halb sieben das Haus, in Coesfeld waren die weiterführenden Schulen. Das war schon ein Weg. Mittags kehrten dann alle zurück, je nachdem wie der Bus fuhr. Anschließend wurde gegessen, danach die Hausaufgaben gemacht. Nachdem das erledigt war, gingen die Jungen zum Vater und die Mädchen zur Mutter. Die beiden hatten immer eine Aufgabe für uns.

"Konnte nicht arbeiten, versteht nichts von den Dingen": Ihre Geschwister beschreiben die Ergebnisse Ihrer Arbeit als eher mangelhaft, heißt es im Buch.

Meine Qualifikationen liegen in anderen Bereichen, ich gebe es zu.

Schule und Mahlzeiten, Hausaufgaben und Arbeit, ihr damaliger Alltag ließ wenig Raum für Freizeit und soziale Bindungen außerhalb des Hofes.

So etwas wie den Besuch von Schulfreunden gab es bis weit in die Sechzigerjahre hinein nicht. Jeder hatte etwas zu tun, auch die Entfernungen waren nicht unwesentlich. Freunde sah man in der Schule – und damit war es gut. Erst die Jüngeren, mich eingeschlossen, profitierten später von einer besseren Infrastruktur und schwindender Konkurrenz in Form von ausziehenden älteren Geschwistern.

Gab es Vorurteile seitens der Menschen in Dorf und Stadt gegenüber den Bauern?

Meine Schwester Katharina erzählte mir, dass einige ihrer Mitschülerinnen nach Bauernhof rochen. Sie selbst hoffte inständig, dass dies bei ihr nicht der Fall gewesen ist. Meiner Schwester Anna wiederum sagte einmal jemand, dass sie stinken würde.

Nicht zuletzt der technologische Fortschritt besiegelte das Ende der bäuerlichen Welt, die Deutschland über Jahrhunderte geprägt hat. Dieser Abschied war kein Paukenschlag, sondern schleichend und still.

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Katharina, geboren 1954, kann sich nicht an das letzte auf den Hof gefahrene Fuder erinnern. Also das Ende der Ernte, als alles wohlbehalten eingebracht worden war. Das war der Anlass für ein Fest. Wann wurde es aufgegeben? Als der erste Mähdrescher kam, die Arbeit viel leichter wurde? Die Ankunft des Neuen spielt in der Erinnerung meiner Geschwister eine größere Rolle als der Abschied des Alten.

Nicht nur davon fand ein stiller Abschied statt.

"Segne Du, Maria, segne mich, Dein Kind", sang meine älteste Schwester, Jahrgang 1950, beim Schweinefüttern noch. Die nächste Schwester, vier Jahre später geboren, hörte dann schon Radio bei der Arbeit.

Die Zuchtviehmärkte waren für Ihren Vater und die älteren Brüder ein Highlight.

Diese Auktionen waren alles andere als eine uralte Tradition, es gab sie seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Ziel war es, die Quantität und Qualität zugleich zu verbessern, dadurch auch mehr Geld zu verdienen. In den Fünfzigerjahren waren diese Veranstaltungen immer noch sehr wichtig, es gab auch noch viel mehr Leute, die etwas vom Vieh verstanden, als in der Gegenwart.

Weil damals noch viele Menschen auf dem Land aufgewachsen sind.

Ja. Können Sie bei der Fahrradfahrt durch ein Getreidefeld beurteilen, ob die Gerste gut oder schlecht gewachsen ist? Ich kann es nicht. Damals vermochten das aber viele noch. Genau so war es bei der Bullenschau. Sie diente finanziellen Zwecken, schuf aber auch Tradition und konnte erfolgreichen Züchtern Ruhm und Anerkennung einbringen.

Wie ihrem Vater.

Wolke 2 hieß das Tier, mit dem mein Vater 1950 den Siegerpreis in Frankfurt am Main holte. Rinderzucht war aber einem hohen Leistungsdruck unterworfen. Welches Tier wird in welche Klasse eingeteilt? Wie viel Mark lässt sich damit beim Zuchtviehmarkt verdienen? Das war eine knallharte Angelegenheit, und auch ein wenig Zockerei.

Als Körung wird die Auswahl von männlichen Tieren bezeichnet, die von Richtern als für die Zucht geeignet befunden werden. Ich nehme an, ungekörte Tiere erwartete ein anderes Schicksal?

Die gingen sofort ab zum Schlachthof. Sie sehen, das war eine völlig unromantische Welt. Mein Vater hat überzählige Kätzchen noch im Teich ersäuft. Idyllisch war das Leben auf dem Bauernhof nicht unbedingt.

Vor allem war es schwere Arbeit, die ihre Spuren hinterließ.

Mein Vater wurde im Laufe der Jahre wortwörtlich immer kleiner. Die Arbeit forderte ihren Tribut. Das war allerdings keine Erscheinung des Daseins als Bauer. Nehmen wir irgendein Dorf, irgendwo in Deutschland, in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts: Den Leuten konnte man ansehen, welchen Beruf sie ausgeübt haben, weil er sie physisch deformierte. Historisch gesehen leben wir in unserer Gegenwart in Sachen Gesundheit in einer absoluten Ausnahmesituation. Was auch ein großer Fortschritt ist.

Das heutige Bild der Landwirtschaft wiederum changiert zwischen der Glorifizierung ländlicher Idylle und gnadenloser Ausbeutung von Natur und Umwelt. Verzerren beide Bilder die Realität?

Beide werden von einem Bedürfnis in unserer Gegenwart erzeugt, das durchaus Anknüpfungspunkte in der Vergangenheit findet. Die Vorstellung einer heilen und idyllischen Landwirtschaft ist eine Übersteigerung – mit meinem Buch möchte ich als Geschichtswissenschaftler an dieser Stelle ein breiteres Bild zeichnen. Die gegenwärtigen Vorstellungen der bäuerlichen Welt thematisieren nur einen Teil der vergangenen Wirklichkeit.

Manchen erscheint die bäuerliche Welt bis heute als eine statische Welt, in der sich niemals etwas verändert hat.

Das ist eine vollkommene Illusion. Auch die Fünfzigerjahre waren für die Bauern nicht die Vergangenheit, sondern das letzte Aufblühen einer mittelbäuerlichen Agrarwelt. Davor lagen die Jahre des Nationalsozialismus, in dem sich meine Eltern weggeduckt haben, der Erste Weltkrieg mit seinen Ablieferungsverpflichtungen für die Bauern, davor die Entscheidung vieler Bauern in West- und Süddeutschland während der Siebziger- und Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts für den Gang in die wesentlich lukrativere Viehwirtschaft. Wir können immer weiter in die Geschichte zurückgehen, aber den Punkt, an dem Normalität, Stillstand oder eben Tradition herrschten, werden wir nicht finden. Veränderungen sind permanent.

Mit dem Ende der bäuerlichen Welt ist nun aber doch eine Art Stillstand eingetreten.

Die Bauern, die heute ihren Beruf noch ausüben, müssen sich ständig neuen Herausforderungen stellen. Ganz grundsätzlich anders als zwei Generationen zuvor ist das aber auch nicht. Die Bauern der damaligen Zeit haben nicht Traditionen der Tradition halber gepflegt. Sie haben Erfahrungswissen geschätzt, weil es wichtig war, etwa bei Wetterprognosen.

Wie wichtig war die Religion für Ihre Familien im katholischen Münsterland?

Für meinen Vater und viele andere Bauern war der Katholizismus zunächst eine Art Lebensversicherung. Wer sich des göttlichen Segens versichert, befindet sich weniger in Gefahr, eine Missernte zu erleiden. Zuhause hatten wir bestimmte Rituale, den Rosenkranz etwa.

1972 hatte ihr ältester Bruder den Hof übernommen, der mit 25 Hektar nicht allzu groß ist. War ihm klar, dass der Betrieb so nicht in alle Zukunft weitergehen konnte?

Schon bei der Übergabe des Hofes wird ihm klar gewesen sein, dass er sich etwas einfallen lassen musste, um den Hof weiter produktiv betreiben zu können. Mit Umbaumaßnahmen und staatlicher Förderung ist ihm das auch gelungen. Mein Bruder hat es geschafft, mit seiner Familie gut durchzukommen, bis der Hof dann einige Jahre nach der Jahrtausendwende stillgelegt worden ist.

War es ein schmerzlicher Abschied?

Das weiß ich nicht. Mein Eindruck ist, dass er den Abschied mit dem Ende seiner aktiven Zeit seit längerer Zeit hat kommen sehen.

Sie gingen an die Universität und blieben dort, ihre anderen Geschwister ergriffen allerlei andere Berufe.

Das Leben meines 1946 geborenen Bruders Kaspar als Bauernkind war ein völlig anderes als das meines Bruders Matthias, der 1966 das Licht der Welt erblickt hat. Die Auflösung der bäuerlichen Welt hat uns Chancen ermöglicht. In den Interviews, die ich für das Buch mit meinen Geschwistern geführt habe, betonen alle die Freiheit, die sie gewonnen haben. Für uns war das Ende der bäuerlichen Welt kein trauriger Abschied.

Ein Kollege vom "Spiegel" schreibt in einer Besprechung Ihres Buches von der "Integrationsmaschine" des modernen Staates.

Das ist ein schönes Bild. Denn es handelt sich um eine große Leistung der Bundesrepublik Deutschland, unterschiedlichste Milieus, die vorher getrennt waren, miteinander in Kontakt zu bringen. Noch in den Sechzigern herrschte die Befürchtung, dass durch das Verschwinden des ländlichen Lebens auch der Hort des Beständigen in Gefahr sei, die Gesellschaft ihr Fundament verliere. Das Gleiche wurde ein Jahrzehnt später im Hinblick auf das Schrumpfen der Kirchen behauptet. Ist etwas davon eingetreten? Nein. Gesellschaften können die Schaffung ihrer Grundlagen nicht an einzelne Institutionen oder Berufsgruppen delegieren. Wir schaffen diese Grundlagen selbst – jeden Tag.

Professor Frie, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Ewald Frie via Videokonferenz
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