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Antisemitismus: Wie geht es den Juden in Deutschland?


Antisemitismus in Deutschland
Ein Gefühl der Einsamkeit

MeinungEin Gastbeitrag von Ruben Gerczikow

Aktualisiert am 29.06.2024Lesedauer: 3 Min.
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Verbotene Zeichen des Hasses: Ein durchgestrichener Davidstern und ein Hakenkreuz sind an einer Gedenkstätte zu sehen. (Quelle: Daniel Reinhardt/Deutsche Presse-Agentur GmbH/dpa/dpa-bilder)

Jüdinnen und Juden in Deutschland schränken ihr Leben durch die gestiegenen An- und Übergriffe massiv ein. In deutschen Debatten zum Thema fehlt die Empathie für dieses Erleben. Ein Gastbeitrag von Ruben Gerczikow.

Seit 2018 gibt es den Bundesverband RIAS, der jährlich einen Jahresbericht der antisemitischen Vorfälle in der gesamten Bundesrepublik veröffentlicht. Diesen Dienstag war es wieder so weit. Kaum überraschen konnte, dass die RIAS-Meldestellen einen deutlichen Anstieg von 83 Prozent im Vergleich zum Jahr 2022 verzeichnen. Insgesamt dokumentierte RIAS 4.782 Vorfälle.

"Eine Gelegenheitsstruktur für antisemitische Äußerungen"

Davon ereigneten sich 2.787 Vorfälle nach dem 7. Oktober 2023. Laut dem Jahresbericht bot der Hamas-Terror sowie der darauffolgende israelische Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen "eine Gelegenheitsstruktur für antisemitische Äußerungen und Handlungen in Deutschland".

Anders als bei der Polizeistatistik dokumentiert RIAS auch antisemitische Vorfälle, die unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegen. Denn entgegen allgemeiner Vorstellungen ist es in Deutschland nicht verboten, antisemitisch zu denken. Sonst würde sich knapp ein Viertel der Deutschen wegen seines latenten oder manifesten antisemitischen Weltbildes strafbar machen.

Wie geht es den Betroffenen?

Es dauert weniger als fünf Minuten, einen Vorfall zu melden. Auch ich habe das in der Vergangenheit immer wieder getan. RIAS ist vor allem auf die Mithilfe von Betroffenen sowie der engagierten Zivilgesellschaft angewiesen, die sich die Zeit nehmen und Vorfälle auch melden. Daher kann bei den knapp 5.000 Vorfällen nur von der Spitze des Eisbergs gesprochen werden, da die Dunkelziffer vermutlich viel größer sein dürfte.

Deutschland hat ein quantifizierbares Antisemitismus-Problem. So viel ist klar. Doch eine Sache kann RIAS gar nicht abbilden: die Geschichten hinter den 4.782 Vorfällen. Wie geht es der Person, dessen Haus im Oktober 2023 antisemitisch beschmiert worden ist? Wie mussten sich die Mitarbeitenden der Jüdischen Gemeinde Freiburg fühlen, die im November 2023 einen Drohbrief geöffnet haben? Kann das Recht auf Bildung angesichts der 471 Vorfälle in Bildungseinrichtungen für jüdische Kinder und Studierende gewährleistet werden? Und was bedeutet es für Shoa-Überlebende und ihre Nachfahren, wenn sich im Land der Täter 271 antisemitische Vorfälle an Gedenkorten ereignen?

Autor Ruben Gerczikow
Autor Ruben Gerczikow (Quelle: Rina Gechtina)

Zur Person

Ruben Gerczikow ist Autor und hat Publizistik und Kommunikationswissenschaften studiert. Anfang 2023 ist sein gemeinsam mit Monty Ott verfasster Reportage-Band "Wir lassen uns nicht unterkriegen – Junge jüdische Politik in Deutschland" im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen.

Die Folgen für jüdisches Leben in Deutschland sind enorm

Jeder direkte oder indirekte antisemitische Vorfall verstärkt das ohnehin fragile Unsicherheitsgefühl einer dezimierten Minderheit. Ich kenne persönliche Geschichten von Jüdinnen und Juden, die ihr Studium abgebrochen haben oder auf jüdische Symbolik wie etwa eine Davidsternkette in der Öffentlichkeit verzichten. Neben der Angst vor verbalen oder physischen Übergriffen ist es auch das Gefühl der Einsamkeit, das vielen Jüdinnen und Juden zu schaffen macht.

Während RIAS versucht, ein differenziertes Bild des gegenwärtigen Antisemitismus in all seinen Ausprägungsformen zu zeichnen, widmet sich der Verein OFEK vor allem der Beratung bei antisemitischer Gewalt. Laut Aussagen des Vereins sind die OFEK-Mitarbeitenden im "Krisenmodus". Insgesamt bearbeiteten sie vom 7. Oktober 2023 bis zum 6. April 2024 1.333 Beratungsanfragen. Dabei nahmen 987 Anfragen Bezug auf antisemitische Vorfälle oder Angriffe. Bei 316 Anfragen ging es um direkte psychologische oder soziale Folgen des 7. Oktober.

Strategie "Antisemitismus der Anderen"

Einen Tag nach der Vorstellung des Jahresberichts für 2023 twitterte der erste stellvertretende Bundesvorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft und CDU-Mitglied Manuel Ostermann: "Antisemiten haben in Deutschland vor allem zwei Gesichter. Ein islamistisches und ein radikal linkes". Offenbar hat er den RIAS-Bericht nicht gelesen. Finden sich doch hier zahlreiche Beispiele, die seine Aussage ad absurdum führen und zeigen, dass Antisemitismus in allen Teilen des politischen Spektrums verbreitet ist.

Was Ostermann betreibt, ist die Externalisierungsstrategie des "Antisemitismus der Anderen". Diese Strategie ist in Debatten in Deutschland derzeit beliebt. Aus jüdischer Perspektive zeigt sie vor allem, dass Positionen zum Antisemitismus oft geäußert werden, ohne ein Bewusstsein dafür, wie sich Antisemitismus auf jüdische Communitys auswirkt. Das Wohlergehen von Jüdinnen und Juden steht oft nicht im Mittelpunkt hiesiger Antisemitismus-Debatten, sondern vielmehr die Instrumentalisierung der existenziellen Gefahr für die jüdische Gegenwart in Deutschland.

Wo bleibt das Bewusstsein für Jüdinnen und Juden?

Teile der politischen Linken beispielsweise relativieren oder negieren israelbezogenen Antisemitismus (im Jahr 2023 kam es zu 2.475 dokumentierten Vorfällen), mit dem Verweis auf die mörderische Kontinuität des rechtsextremen Antisemitismus. Laut manchen konservativen und rechten Kreisen brauche lediglich der "importierte Antisemitismus" abgeschoben werden.

Insgesamt sind elf regionale Meldestellen in den Bundesländern Mitglied im Bundesverband, die zusätzlich einen eigenen Jahresbericht anfertigen. So legte beispielsweise RIAS Bayern im Jahresbericht 2023 einen Schwerpunkt auf die sogenannte Flugblattaffäre rund um Bayerns Vizeministerpräsidenten Hubert Aiwanger (Freie Wähler).

Was der Jahresbericht des Bundesverbandes der "Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus" vor allem zeigt, ist, dass Jüdinnen und Juden einer Vielzahl von Bedrohungen ausgesetzt sind. Er sollte zum Anlass genommen werden, sich konsequent gegen jede Form von Antisemitismus einzusetzen und jüdisches Leid nicht für die eigene politische Agenda zu missbrauchen.

Verwendete Quellen
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