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Sexualisierte Gewalt und Evangelische Kirche: "Zerstörte Existenzen"


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Missbraucht in der Kirche
"Die Täter waren größtenteils verheiratete Pfarrer"

InterviewVon Simone Rafael

Aktualisiert am 10.02.2024Lesedauer: 4 Min.
Betroffene fordern Anerkennung und Entschädigung – aber auch einen Plan, wie Taten in Zukunft verhindert werden können.Vergrößern des Bildes
Eine Person schaut auf ein Kreuz (Symbolbild): Betroffene fordern Anerkennung und Entschädigung – aber auch einen Plan, wie Taten in Zukunft verhindert werden können. (Quelle: Nicolas Armer/dpa)

Die Evangelische Kirche in Deutschland will Missbrauch im Kirchenkontext aufarbeiten, doch bei einer Studie hakt es mit der Transparenz. Was sagen Betroffene?

Das Entsetzen war groß, als Ende Januar die erste bundesweite Studie zum Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche vorgestellt wurde. Demnach gab es mindestens 2.225 Opfer, von denen rund zwei Drittel männlich waren und mehr als 1.250 Täter.

Das sei nur "die Spitze der Spitze des Eisbergs", schrieben die Wissenschaftler des interdisziplinären Forschungsverbunds ForuM in ihrer Studie. Denn die dreijährige Untersuchung wurde von den Landeskirchen nicht wie zugesichert unterstützt, Einsicht in Personalakten nicht gewährt. t-online wollte wissen: Was halten Betroffene wie Detlev Zander vom aktuellen Stand der Aufarbeitung?

Detlev Zander: Der Sprecher des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche
Detlev Zander: Der Sprecher des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche (Quelle: Jens Schulze/imago-images-bilder)

Zur Person

Detlev Zander, 60, ist Sprecher des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche, das 2022 ins Leben gerufen wurde. Als Kind wurde er im Kinderheim der Brüdergemeinde Korntal bei Stuttgart von mehreren Tätern vergewaltigt und hinterher von der Kirche diffamiert. Seit zehn Jahren engagiert er sich für die Rechte der Betroffenen.

t-online: Herr Zander, wie sehr hilft die ForuM-Studie, über sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche aufzuklären?

Detlev Zander: Grundsätzlich finde ich die Studie gut. Damit haben wir auch mal Zahlen, auf die wir uns berufen können, um zu zeigen: Es geht nicht um wenige Betroffene. Bisher war die Annahme seitens der Kirche immer: Die Opfer des Missbrauchs sind vor allem junge Frauen und erwachsene Frauen. Von Betroffenenseite haben wir das schon immer angezweifelt. Jetzt wissen wir: Es sind vor allem Jungen betroffen, das Durchschnittsalter ist 11 Jahre. Die Täter wiederum waren größtenteils verheiratete Pfarrer. Das rückt Erzählungen gerade. Den Betroffenen wurde ja so lange nicht geglaubt. Insofern sind Zahlen wichtig für die Aufarbeitung. Gleichzeitig ist es schäbig, auf Zahlen zu gucken. Hinter jeder Zahl steht eine zerstörte Existenz, ein Mensch.

Die Ergebnisse der Forschung

Laut der Studie wurden mindestens 2.225 Menschen missbraucht; rund zwei Drittel der Opfer sind männlich. Es wurde die Zahl von 1.259 Beschuldigten genannt; ein Drittel von ihnen seien Pfarrpersonen wie Pfarrerinnen (0,4 Prozent) oder Pfarrer und Vikare (99,6 Prozent). Rund drei Viertel von ihnen waren zum Zeitpunkt der Erst-Tat verheiratet. Die kommissarische Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischöfin Kirsten Fehrs, zeigte sich erschüttert über das Ausmaß des Missbrauchs und sprach von "täterschützenden Strukturen".

Sie finden die Studie also trotzdem hilfreich, obwohl die Datenlage so schlecht war, viele Teile der evangelischen Kirche die Kooperation verweigert hatten?

Das waren für mich wirklich faule Ausreden. Die Kirche selbst hat die Studie in Auftrag gegeben. Und dann sagen so viele, sie hätten keine Zeit, keine Ressourcen, die Forscher zu unterstützen. Das ist ja auch ein Signal, wenn keine Ressourcen für dieses Thema geschaffen werden. Dass die Personalakten von Tätern nicht von den Forschern eingesehen werden konnten, ist für die Aufarbeitung wirklich schade.

Welche Aufklärung hätten Sie sich von den Akten versprochen?

Darin hätte es Anhaltspunkt zu Fragen gegeben, die viele Betroffene umtreiben: War bekannt, wie lange es Vorwürfe gegen Personen gab, wie lange Missbrauchsfälle andauerten? Gab es Disziplinarverfahren? Wer hat vom Missbrauch gewusst, ihn vielleicht sogar vertuscht? Wurde gar über die Opfer schlecht gesprochen? Wir erfahren es nicht. Von der Studie finde ich auch schwierig, dass ihr Tenor ist: Die Evangelische Kirche tut nichts gegen sexuellen Missbrauch. Sie nutzt aber nur Daten bis 2020. Seitdem ist aber viel passiert. So wurde etwa das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt ins Leben gerufen, dessen Sprecher ich bin.

Was passiert im Beteiligungsforum?

Da sitzen Vertreter der Diakonie, der Synode, der Evangelischen Kirche Deutschland und Betroffene zusammen und verhandeln über das weitere Vorgehen im Umgang mit den Betroffenen sexuellen Missbrauchs – und mit Gegenstrategien. Und wir haben dort wirklich Entscheidungsmacht. Es geht etwa um das Thema Entschädigungszahlungen an Betroffene. Bisher behandelt das jede Landeskirche unterschiedlich. Wir möchten das Verfahren vereinheitlichen.

Was heißt das konkret?

Wir wünschen uns einen Grundbetrag für jedes Opfer für das institutionelle Versagen der Evangelischen Kirche und der Diakonie Deutschland. Hinzu kommt eine individuelle Entschädigung, die bemessen werden soll entsprechend der Schwere und Länge des Missbrauchs – und entsprechend der Folgeschäden für das Opfer, die sind durchaus unterschiedlich.

Wir rufen eine Vernetzungsplattform für Betroffene ins Leben für den Austausch. Außerdem setzen wir uns dafür ein, dass es zwei Stellen gibt, die sich um Opfer kümmern – eine kirchliche, aber auch eine nichtkirchliche. Und versuchen wir, die Evangelische Kirche sprechfähig zum Thema sexueller Missbrauch zu machen. Nur dann kann sie auch handeln.

Gibt es denn bereits Veränderungen in den Strukturen der Kirche, um sexuellen Missbrauch besser zu erkennen oder bestenfalls zu verhindern?

Nein, noch nicht. Es braucht einen Kulturwandel und einen Strukturwandel. Wenn alle sich bei Tee und Keksen duzen und den Betroffenen nicht glauben, verändert sich nichts. Ich selbst musste zehn Jahre lang darum kämpfen, dass mir geglaubt wird. Ich wurde als Lügner bezeichnet, als Nestbeschmutzer, als Teufelsbrut. Die Evangelische Kirche will immer die coolere, liberalere Kirche sein, aber sie muss anfangen, sich mit ihrem Keller, ihren dunklen Seiten, zu beschäftigen. Wir Betroffene helfen dabei, wollen unseren Beitrag leisten.

Was würde die Situation verbessern?

Alle Landeskirchen, alle diakonischen Einrichtungen brauchen einheitliche, klare und verbindliche Präventionskonzepte. Dann müssen wir auf die Machtstrukturen schauen – die Täter waren größtenteils verheiratete Pfarrer, oft fanden die Taten in Pfarrhäusern statt, die Büro und Privaträume umfassen. Das sollte getrennt werden. Wir müssen weniger kritiklos glücklich sein. Wenn Dinge schieflaufen, müssen wir aufmerksam werden. Und wir müssen Strukturen schaffen, die es ermöglichen, diese Probleme anzusprechen und zu bearbeiten. Wir sitzen gerade noch an einem Masterplan zum Thema, der hoffentlich bald verabschiedet wird.

Wie geht es den Betroffenen, wenn dieses Thema in der Öffentlichkeit behandelt wird?

Es gibt ja viele verschiedene Betroffene. Manche erleichtert es, ihre Geschichte öffentlich zu erzählen, andere arbeiten das für sich in Therapie auf. Aber wir wollen darüber hinausgehen. Wer immer an der gleichen Bushaltestelle steht, kommt nicht weiter. Jetzt möchten wir helfen, andere zu schützen und den Betroffenen zu helfen.

Verwendete Quellen
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