Winterkatastrophe 1978/1979 "Es gab nichts mehr" - als der Norden in Schnee versank
Der 28. Dezember 1978, Nachmittag: Nichts deutet darauf hin, dass nur Stunden später die schlimmste Winterkatastrophe der Geschichte über Norddeutschland hereinbricht. "Die Menschen wurden völlig überrumpelt", sagt Thomas Sävert von der Meteomedia Unwetterzentrale im Gespräch mit t-online.de. Und nur sechs Wochen nach dem Jahrhundertereignis sollte sich die Katastrophe wiederholen. Der Meteorologe selbst war damals von bis zu fünf Meter hohen Schneeverwehungen eingeschlossen. Ein Augenzeugen- und Expertenbericht.
Der Innenminister von Schleswig-Holstein, Rudolf Titzck, steht kurz vor dem Jahreswechsel 1978/79 am Strand, dem Meer zugewandt und blickt besorgt auf die Ostsee hinaus. Meteorologen haben eine Sturmflut vorhergesagt, und der oberste Küstenschützer des Landes macht sich selbst ein Bild von der Lage. Plötzlich setzt starker Schneefall ein, und Titzck merkt gar nicht, dass er schon bis zu den Hüften im Schnee steckt.
Diese Karikatur aus einem Buch über die Schneekatastrophe von 1978 ist für Sävert das Symbol der Ereignisse, die an diesem 28. Dezember ihren Anfang nehmen.
Blitzschneller Temperatursturz
Was ist passiert? Tatsächlich warnt der Wetterdienst vor einem Sturmhochwasser an der Ostseeküste. Von starken Schneefällen aber ist nicht die Rede, von Verwehungen schon gar nicht.
Blitzschnell stellt sich das Wetter um: Von Osten strömt extreme Kaltluft ins Land, in kürzester Zeit sinken die Temperaturen um bis zu 20 Grad in den zweistelligen Minusbereich. Gleichzeitig ist es im Süden und der Mitte estrem mild. "Eine besondere und sehr seltene Grenzwetterlage", erklärt Sävert.
Die sehr milde Luft schiebt sich im Übergangsbereich der Luftmassen auf die sibirische Kälte im Norden. Starker Niederschlag fällt in großer Höhe als Regen, der in Bodennähe oder beim Auftreffen auf Gegenstände gefriert. Vereisung ist die Folge. Bis dahin wohl einmalig: "Es hat tatsächlich bei minus zehn Grad geregnet", sagt Sävert.
In fünf Minuten alles weiß
Auch im Süden regnet es kräftig, allerdings bei Plusgraden, und in Schleswig-Holstein setzt massiver, bis dahin nicht gesehener Schneefall ein. Zeitgleich tobt ein Sturm über dem Norden. Sävert lebt zu der Zeit in einem kleinen Ort, nahe Itzehoe, nordwestlich von Hamburg. "Innerhalb einer Minute ging der mäßige Regen in extrem starken Schneefall über. Trotz der vorhandenen Nässe dauerte es keine fünf Minuten, bis der Boden komplett weiß war."
Am Abend stecken die ersten Fahrzeuge im Norden von Schleswig-Holstein in Schneeverwehungen fest, am nächsten Morgen liegt fast das ganze Bundesland lahm.
Ein Land steht still
Katastrophenalarm, Fahrverbote für private Fahrzeuge, Einsatz von Räumpanzern der Bundeswehr - die Behörden versuchen mit allen Mitteln der Katastrophe Herr zu werden. Praktisch alle Ortschaften, Dörfer und Städte im Norden und der Mitte Schleswig-Holsteins sind seit der Nacht zum Mittwoch tagelang von der Außenwelt abgeschnitten.
Vielerorts fällt der Strom aus. Die medizinische und die Versorgung mit Lebensmitteln kommt zum Erliegen. "Nichts ging mehr", sagt Sävert. Die Menschen sind auf sich gestellt.
Nur Hubschrauber des Heeres trauen sich bei dem Schneesturm in die Luft. Sie bringen Schwerkranke und Hochschwangere in Krankenhäuser oder retten Eingeschlossene aus dem Schnee.
Menschen rücken zusammen
"Die Menschen sind in der Katastrophe zusammengerückt", berichtet Sävert: Die Dorf- oder Nachbarschaftsgemeinschaften funktionieren in dieser Bedrohung durch die Naturgewalten, und in der landwirtschaftlich geprägten Region ist die Selbstversorgung mit Lebensmitteln kein Problem.
"In der heutigen, hochtechnisierten Welt wären die Auswirkungen eines solchen Ereignisses noch viel dramatischer", befürchtet Sävert. 1979 haben die meisten auf dem Land noch einen Holzkohle-Ofen oder -Herd im Haus. "Da musste kaum jemand frieren."
Besonders schlimm ist auch die Situation in der damaligen DDR: Das Gros der Energieversorgung wird dort aus der wasserhaltigen Braunkohle gewonnen.
Bei zweistelligen Minusgraden ist ein Abbau in den Tagebauregionen nicht mehr möglich. Selbst die Kohle in den Waggons der Reichsbahn gefriert zu riesigen Klumpen. Die Strom- und Fernwärmeversorgung in der DDR bricht vielerorts zusammen.
Strommasten brechen reihenweise
In Westdeutschland macht vor allem die extreme Vereisung der Hochspannungsmasten und Leitungen große Probleme: Der Eispanzer ist mancherorts bis zu 30 Zentimeter dick, Leitungen reißen und Masten brechen reihenweise unter der Belastung zusammen.
In der Bundesrepublik sterben in den vier Tagen - solange dauert der Schneesturm bei eisigen Minusgraden - 17 Menschen. Einige von ihnen werden erst Wochen später, nach Beginn der Schneeschmelze, zum Beispiel in ihren Fahrzeugen entdeckt.
Die Gräben und Senken sind noch mit Schnee gefüllt und die Schneeberge von den geräumten Straßen meterhoch, als keine sechs Wochen später, am 13. Februar 1979, der Norden eine Fortsetzung der Katastrophe bewältigen muss.
Dieses Mal ist auch Niedersachsen von dem Unwetter betroffen, und die Auswirkungen sind in manchen Regionen noch gravierender als bei dem Sturm zum Jahreswechsel.
Fünf Meter hoher Schnee
Das gilt auch für die Menschen in Itzehoe: "Im Februar war es bei uns in Schleswig-Holstein am schlimmsten", erinnert sich Sävert. Die Verwehungen türmen sich bis zu fünf Meter hoch. "Manche Kinder sind hinterher mit Schlitten aus den Dachluken herunter gerodelt", beobachtet der damals 13-Jährige.
Der Junge hat zu Weihnachten eine Kamera geschenkt bekommen und schießt so gut es eben geht Fotos von dem Sturm. "Das war gar nicht so einfach, bei den Windgeschwindigkeiten und der Kälte."
Auf einem Bild weht ein Riemen seiner Fototasche vor die Linse. Trotzdem kann man gut erkennen, was da los gewesen sein muss: Zwei Lkw stecken auf einer Landstraße in Verwehungen fest, die Konturen der Fahrzeuge verwischen in dem Weiß des Schneesturms.
Hilfskonvois bleiben stecken
Wie kam es zu dem Foto? Um den Fernverkehr aufrecht erhalten zu können, stellen die Behörden einzelne Konvois, meist aus Lkw, zusammen. Schweres Räumgerät wie Radlader, Schneefräsen oder Panzer sollen mehreren Dutzend Fahrzeugen den Weg durch den Sturm bahnen.
Auch auf der Bundesstraße zwischen Hamburg und Husum sind etwa 80 Fahrzeuge unterwegs, berichtet der Norddeutsche Rundfunk. Doch der Konvoi kommt nicht am Ziel an, der Kontakt reißt ab. Das Schicksal der Menschen ist ungewiss.
Auch Sävert sitzt am Abend im eingeschneiten Neuenbrook bei Itzehoe am Radio und verfolgt die neuesten Meldungen. Um halb zwölf in der Nacht klopft es plötzlich an der Haustür. Vor ihm stehen zwei Männer, ganz weiß vom Schnee und in viel zu dünnen Jacken. "Einer von beiden trug einen Bart an dem Eiszapfen hingen."
Die zwei sind Lkw-Fahrer, sie gehören zu dem vermissten Konvoi, der - wie sich jetzt herausstellt - etwa einen Kilometer vor dem Ort in Verwehungen steckengeblieben ist. Beide haben den lebensgefährlichen Versuch unternommen, Hilfe zu holen.
Sofort organisiert die Dorfgemeinschaft einen Trupp mit Spaten und Schaufeln. Die Männer kämpfen sich zu den Eingeschlossenen durch und bringen sie nach Neuenbrook in Sicherheit.
Panzer kommen nicht weiter
120 Menschen werden in dem kleinen 700-Seelen-Ort aufgenommen und tagelang versorgt. Das Foto von Sävert zeigt den ersten Lkw aus dem Konvoi am nächsten Tag. An diesem Freitag versuchen auch Bundeswehr-Panzer von Itzehoe aus zu dem Konvoi vorzustoßen, bleiben aber ebenfalls im Schnee stecken.
Erst zehn Tage nach Beginn der zweiten Schneekatastrophe werden die letzten Straßen geräumt. Bis zu 200 gestrandete Fahrzeuge stehen zeitweilig in dem kleinen Ort Neuenbrook.
Viele Jahre nach den dramatischen Ereignissen kehrt ein Teil der Geretteten regelmäßig dorthin zurück. Die Dankbarkeit ist groß. "Doch nach 35 Jahren werden es immer weniger", so Sävert.
Auch bei dem zweiten schweren Sturm kommen zahlreiche Menschen ums Leben. Besonders tragisch: In einem Fall fährt ein Panzer über ein tief verschneites Auto samt der darin eingeschlossenen Insassen.
Die Freien Universität Berlin gibt die Schneehöhe am 17. Februar in Hamburg mit etwa 70 Zentimetern an - genauso viel wie damals auf dem Feldberg im Hochschwarzwald. "Keine Ahnung, wie die das bei dem Sturm gemessen haben", sagt Sävert. "Aber bei Windstärke 8 bis 10 kommen da schnell drei, vier Meter hohe Schneewehen zusammen."
Mitte März 1979 scheint es noch mal los zu gehen - doch nach einem Tag heftiger Schneefälle mit neuen, hohen Verwehungen ist der Spuk zum Glück vorbei.
Bis weit in den April hinein erinnern überall in Norddeutschland meterhohe Schneeberge an die verheerende Winterkatastrophe. "So viel Schnee hat es davor und danach nicht mehr gegeben", sagt Sävert.