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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Notfälle auf hoher See "Nehmen Sie mal das Morphium – oder die Säge"
Ohne Seeleute würde der komplette Welthandel zusammenbrechen. Dennoch mangelt es teilweise an modernen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das hat Folgen.
Die Banane zum Frühstück, der Laptop bei der Arbeit, der Fußball für den Kick im Park: Den ganzen Tag begleiten uns Dinge und Gegenstände, die günstiger im Ausland produziert werden und über den Seeweg zu uns gelangen.
Möglich machen das rund 1,9 Millionen Seeleute auf der ganzen Welt. Unter deutscher Flagge arbeiten knapp 7.100 Menschen auf Schiffen, etwa ein Drittel davon im Ausland. Doch obwohl Seeleute systemrelevant sind und uns im Alltag versorgen, sind sie für viele kaum präsent.
Dieser Meinung jedenfalls ist Matthias Ristau, Generalsekretär der Deutschen Seemannsmission. Im Gespräch mit t-online schlägt er Alarm. "Deutschland ist seeblind!", sagt er. "Wir brauchen endlich ordentliche Arbeits- und Lebensbedingungen für die Menschen an Bord. Es muss sich schleunigst etwas ändern, sonst gibt es keinen mehr, der diesen harten Job machen will."
"Darüber redet keiner, das weiß niemand"
Was er damit vor allem meint: das beschwerliche Leben an Bord großer Frachter. Wochen-, teils monatelang sind die Seeleute von Freunden und Familie getrennt. Sie müssen sich unterschiedlichen Wetterbedingungen und Zeitzonen anpassen, und leben auf engstem Raum mit Dutzenden Kollegen zusammen.
"Das kann verheerende Folgen für die mentale und körperliche Gesundheit haben", sagt Ristau. "Deshalb ist unsere Seelsorge so wichtig." Die Deutsche Seemannsmission kümmert sich seit 137 Jahren um die seelische Gesundheit von Seeleuten. "Das ist schon seit jeher unser Thema und wir sind Fachleute dafür", sagt Ristau.
Doch die Probleme reichen noch weiter und sie sind sehr konkret: Es gehe um fehlendes Internet an Bord, um Kapitäne, die ihrer Mannschaft Landgang verbieten, und um Tote, die im Lebensmittelkühlraum gelagert werden müssen. "Darüber redet keiner, das weiß niemand – und dann wundern wir uns, wenn eines Tages die Supermarktregale leer bleiben, weil kein Schiff mehr fährt", beklagt sich der Generalsekretär.
Nachwuchs stark rückläufig
Wie wichtig die Schifffahrt für die deutsche Wirtschaft ist, zeigen auch die Zahlen: Rund 60 Prozent des Handels mit Drittstaaten erfolgt über den Seeweg, so das Statistische Bundesamt. Mit Blick auf die gesamte Welt erfolgt 90 Prozent des Welthandels per Schiff.
Umso wichtiger erscheint es da, dass die Seefahrt attraktiv für den Nachwuchs bleibt. Tatsächlich aber ist die Zahl derer, die sich für die Arbeit auf hoher See interessieren, stark rückläufig. Machten 2005 noch rund 900 Menschen in Deutschland eine Ausbildung oder ein Studium für einen Job auf einem Schiff, waren es dem Verband Deutscher Reeder zufolge im vergangenen Jahr lediglich etwa 380 Nachwuchskräfte.
Ristau meint zu wissen, wo es hakt: "Die höchste Priorität bei den Reedereien müsste das Wohlbefinden der Mitarbeitenden sein, die über die ganze Welt verstreut sind – doch das kommt immer noch nicht bei allen Betrieben an."
Die Deutsche Seemannsmission e.V.
ist eine evangelische Seelsorge- und Sozialeinrichtung für Seeleute. Sie betreibt 33 Stationen im In- und Ausland, in denen mehr als 700 haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende tätig sind. Die Arbeit wird aus Kirchensteuern, öffentlichen Mitteln, Spenden und freiwilligen Schiffsabgaben der Reeder finanziert. Matthias Ristau wurde Anfang 2022 Generalsekretär.
"Das ist absolut nicht nachvollziehbar"
Der Seemannsmission-Funktionär führt dieses Problem darauf zurück, dass die Ausbildung stark auf das Technische und weniger auf das Soziale ausgerichtet sei, nicht zuletzt auf der Führungsebene. So sei etwa die digitale Anbindung auf den rund 74.000 Schiffen weltweit teilweise mangelhaft. Einige Reedereien böten ihren Mitarbeitenden immer noch keine Internetverbindung an Bord an, um die soziale Isolation vom Festland zu kompensieren. "Das ist absolut nicht nachvollziehbar", sagt Ristau.
Denn: WLAN an Bord sei technisch möglich und heutzutage auch billig zu installieren. "Aber wenn es das nicht gibt, schreckt es vor allem junge Leute ab, die wochen- oder monatelang auf den Zugang zu Social Media und den Kontakt zu Angehörigen verzichten müssen."
Zwar hätten viele Reedereien während der Corona-Pandemie Internet an Bord ermöglicht. Insbesondere im ersten Jahr, als strenge Reisebeschränkungen galten, waren Seeleute monatelang auf ihrem Schiff gefangen und auf WLAN angewiesen, um mit ihren Familien zu kommunizieren. Aber: Standard ist Netz an Bord noch lange nicht – und das, obwohl es dafür eigentlich Regeln gibt.
So ist etwa in der Maritime Labour Convention (MLC), die die Lebens- und Arbeitsbedingungen für Seeleute optimieren soll, festgehalten, dass Mitarbeitende auf hoher See und in Häfen kostenlos online gehen können. Diese Vorgabe aber sei noch nicht verbindlich, erklärt Ristau. "Es ist möglich, also muss es gemacht werden und vor allem für die Crew kostenlos sein", fordert er.
"Verstoß gegen die Menschenrechte"
Ein weiteres großes Problem sieht Ristau in der Tatsache, dass es immer noch einige, wenige Reedereien gibt, die den Landgang verbieten – auch in Deutschland. "Es ist ein grober Verstoß, wenn die Seeleute vier bis neun Monate auf dem Schiff ausharren müssen", sagt er. Manche Reedereien wiesen den Kapitän darauf hin, dass er den Landgang zwar erlauben dürfe, aber wenn es einen Corona-Fall an Bord gäbe, müsse er die Verantwortung dafür tragen.
"Die Kosten sind bei einem Ausbruch erheblich", sagt Ristau. In solchen Fällen verbiete der Kapitän den Landgang – zum Leid der gesamten Crew. "Wenn Leute an Bord eingesperrt werden, ist das in meinen Augen ein Verstoß gegen die Menschenrechte." Es sei jedoch sehr schwierig, solchen Reedereien diesen Umgang nachzuweisen. "Wenn wir von Fällen dieser Art erfahren, sprechen wir sofort die Reedereien an und melden es den Behörden, wenn sich nichts ändert."
"Jeder starke Sturm, jedes Feuer kann plötzlich gefährlich werden"
Im Schnitt sind europäische Seeleute vier Monate am Stück unterwegs, philippinische sogar neun. Die dauerhafte Isolation, vor allem wenn der Kapitän den Landgang untersagt, verstärkt die psychische Belastung der Mitarbeitenden – die ohnehin schon groß ist.
Zu ihrem Alltag gehört nicht nur die Distanz zu ihren Familien, sondern auch die Furcht ums eigene Leben, die manche Seeleute laut Ristau umtreibt. "Sie sind auf einer riesigen Maschine unterwegs – und selbst das größte und modernste Schiff ist den Naturgewalten ausgeliefert. Jeder starke Sturm, jedes Feuer kann plötzlich gefährlich werden."
Eine Ärztin oder einen Arzt gebe es erst ab 50 Leuten an Bord, wie auf Kreuzfahrtschiffen. Auf einem Frachter sei kein medizinisches Fachpersonal dabei. Ristau erklärt: "Es gibt einen Offizier, der eine kurze Ausbildung bekommen hat. Der hat dann ein dickes Buch dabei und tauscht sich bei einem Notfall bestenfalls mit einem Arzt an Land übers Satellitentelefon aus. Wenn etwa einem Kollegen ein Container aufs Bein fällt, heißt es schnell: 'Nehmen Sie mal das Morphium – oder die Säge'."
"Dann kann es unter Umständen schon zu spät sein"
Auch heutzutage brauche es noch bis zu fünf Tage oder länger, bis sich das Schiff – wenn es gerade mitten auf dem Atlantik oder Pazifik ist – der Küste nähern könne, sodass ein Hubschrauber es erreichen kann. Eine weitere Möglichkeit sei das Warten auf den nächsten Hafen. "Doch dann kann es unter Umständen schon zu spät sein", sagt Ristau.
So bleibe es nicht aus, dass an Bord auch Crewmitglieder sterben. "Eine solche Situation ist für Seeleute extrem belastend – unabhängig davon, ob die Person durch einen Unfall gestorben ist oder an einem Herzinfarkt", sagt Ristau. "Früher gab es eine spontane Seebestattung, das kennt man aus alten Filmen. Heute ist das nicht mehr so." Die Leiche werde bis zum nächsten Hafen im Kühlraum verstaut – im besten Fall gebe es davon zwei. "Wenn es nur einen gibt, liegt die der tote Körper manchmal bis zu 15 Tage in einem Plastiksack neben den Lebensmitteln", sagt Ristau.
"Derzeit fühlt sich niemand hundertprozentig verantwortlich"
Sozialarbeiter und Psychologen könnten im Nachgang helfen. Das aber reiche nicht, sagt Ristau. Er fordert mehr Sichtbarkeit und Zuständigkeit vonseiten der Bundesregierung. "Es braucht feste Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner. Derzeit fühlt sich niemand in der Politik hundertprozentig verantwortlich."
Tatsächlich wurde Anfang 2023 eine Extra-Stelle geschaffen. Dieter Janecek (Grüne) ist nun Koordinator der Bundesregierung für maritime Wirtschaft und Tourismus. Er sagt t-online: "Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung der Beschäftigten in der maritimen Branche bewusst." Sie seien ein entscheidender Faktor für eine wettbewerbsfähige maritime Wirtschaft. "Zur Attraktivität von Berufsbildern gehören auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen", sagt Janecek.
Die Konditionen sollen ihm zufolge verbessert werden, indem die Regierung sich dafür einsetzt, dass mehr Schiffe unter deutscher Flagge fahren. Zudem seien die finanziellen Mittel für die Seemannsmissionen in deutschen Häfen stark erhöht worden – und die Unterstützung solle kontinuierlich weitergehen.
Doch Ristau appelliert: "Es braucht noch mehr finanzielle Unterstützung, die Seeleute brauchen klare Signale." Sein Ziel ist es, an noch mehr Häfen aktiv sein zu können. "Nur wenn wir die Bedingungen weltweit verbessert werden können, können wir auf mehr Nachwuchs hoffen", so Ristau.
- Interview mit Matthias Ristau, Generalsekretär der Deutschen Seemannsmission
- seemannsmission.org
- Anfrage an Dieter Janecek (Grüne)
- reederverband.de: "Daten und Fakten zur Seeschifffahrt in Deutschland"
- destatis.de: "Lkw und Seeschiffe wichtigste Transportmittel im Außenhandel"
- bmwk.de: "Maritime Wirtschaft - Lebensader im Welthandel"
- itfglobal.org: "Seearbeitsübereinkommen"
- deutsche-flagge.de: "Leitfaden zum Seearbeitsübereinkommen"
- ilo.org: "Fourth meeting of the Special Tripartite Committee established under Article XIII of the Maritime Labour Convention, 2006, as amended – Part II" (englisch)
- voyagerww.com: "Internetzugang für Seeleute: Steckt der Teufel im Detail?"