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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Politiker auf TikTok "Jetzt rächt es sich"
Karl Lauterbach will als erster Minister die Videoplattform TikTok erobern. Experte Johannes Hillje mahnt: Der Rest der Bundesregierung sollte rasch nachziehen – trotz großer Gefahren.
Es wäre eine Premiere: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will als erster Minister die umstrittene Videoplattform TikTok bespielen. Das kündigte er im Interview mit t-online an. Vor allem die junge Zielgruppe will Lauterbach dort erreichen – und ein Gegengewicht zur AfD bilden, die TikTok bereits intensiv nutzt.
Auch der Bundeskanzler hat vor Kurzem angekündigt, dass die Bundesregierung verstärkt auf TikTok präsent werden will. Doch der Schritt ist risikoreich. Denn die Videoplattform funktioniert anders als andere soziale Medien – und birgt große Gefahren. Spionage und Einflussnahme aus China werden befürchtet. Manche Regierungen untersagen ihren Mitarbeitern deshalb, die App auf Dienstgeräten zu nutzen.
Ist es das Risiko wert? Und wie können Demokraten den Populisten auf Tiktok den Rang ablaufen? Ein Gespräch mit dem Politik- und Kommunikationswissenschaftler Johannes Hillje, der die AfD auf TikTok intensiv beobachtet.
t-online: Karl Lauterbach hat angekündigt, auf TikTok gehen zu wollen, um der AfD dort Konkurrenz bei der jungen Zielgruppe zu machen. Herr Hillje, was ist TikTok überhaupt?
Johannes Hillje: TikTok ist eine App, ein soziales Netzwerk, das auf Kurzvideos basiert. Anders als bei anderen Plattformen wie Facebook oder Instagram gibt es keine Auswahl der Kommunikationsformate. Man kann also keine reine Text- oder Bildbotschaft posten, sondern es gibt den Zwang zum Video.
Wer nutzt TikTok?
TikTok ist vor allem bei jungen Menschen sehr beliebt. Zwei Drittel der 14- bis 19-Jährigen nutzen TikTok. Das macht es für Politiker zu einer besonderen Herausforderung – denn sie müssen nicht nur vor der Kamera sprechen, sondern auch zielgruppengerecht Jugendliche adressieren. Nur so hat man auf TikTok Erfolg.
TikTok gilt als Sicherheitsrisiko, es gehört einem chinesischen Konzern. Spionage und Beeinflussung werden befürchtet. Wie groß ist die Gefahr?
Die chinesische Firma kann sich dem Einfluss der chinesischen Regierung nicht entziehen. Wenn die Regierung Nutzerdaten von TikTok haben möchte, dann wird sie sie erhalten. Deswegen ist Tiktok ein großes Dilemma für westliche Regierungen: Einerseits will man natürlich nicht ein strategisches Technikwerkzeug Chinas füttern. Andererseits will man aber die Plattform und die junge Zielgruppe dort nicht der AfD oder anderen Radikalen überlassen, die TikTok schon sehr intensiv nutzen. Es rächt sich nun, dass Europa kaum in eigene Plattformen investiert hat.
Regierungsmitarbeitern in den USA und Kanada ist TikTok auf Dienstgeräten verboten. Karl Lauterbach will "definitiv kein Diensthandy" dafür nutzen. Genügt das?
Das kommt darauf an, was Lauterbach genau damit meint. Viele Politiker sprechen jetzt davon, dass sie nicht ihr Diensthandy, sondern ein Privathandy nutzen wollen. Das springt zu kurz und zeugt von mangelnder Digitalkompetenz. Denn auch von dem Privathandy können ja Daten abgeschöpft werden. Es bräuchte da ein ganz neues Denken – und in den Ministerien die Einrichtung von Handys, die allein für den TikTok- und Social-Media-Gebrauch da sind. Das Datenschutzproblem betrifft auch andere Plattformen.
Wie bewerten Sie insgesamt Lauterbachs Ankündigung, mit einem eigenen Account auf TikTok gehen zu wollen?
Unter dem Strich halte ich es für den richtigen Schritt. Die Bundesregierung war bisher zu zögerlich. Andere Regierungen – zum Beispiel in Frankreich oder den USA – sind schon länger dort präsent. Aber auch Kanzler Olaf Scholz hat vor Kurzem angekündigt, dass er es für richtig hält, dort zu kommunizieren. Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung TikTok nicht den Radikalen überlässt.
Warum?
Das entscheidende Argument ist die hohe Nutzung durch junge Menschen. Wenn zwei Drittel der 14- bis 19-Jährigen diese Plattform nutzen, dann sollte auch die Bundesregierung dort präsent sein. Wenn die demokratischen Kräfte jetzt nicht nachziehen, dann könnte im schlimmsten Fall aus der Generation TikTok die Generation AfD werden.
Wie sehr profitiert die AfD von TikTok?
Die AfD hatte lange Zeit nur unterdurchschnittlichen Wählerzuspruch bei jungen Menschen. Auch, weil sie lange nicht die richtigen Inhalte und nicht den richtigen Stil gefunden hat, um sie anzusprechen. Das hat sich geändert, die AfD hat schon länger eine TikTok-Strategie. Und sie hat damit Erfolg: Ihre Zuwächse bei der jungen Wählerschaft nehmen zu, wie die Landtagswahlergebnisse in Hessen und Bayern zuletzt gezeigt haben. Der direkte Zusammenhang lässt sich nicht belegen. Aber die intensive TikTok-Nutzung trägt zum Erfolg unter Jungwählern bei.
Was macht die AfD dort so erfolgreich?
Nutzer entscheiden auf TikTok in Millisekunden, ob sie ein Video weitergucken oder zum nächsten wechseln. Man muss das Publikum also sehr rasch für sich gewinnen. Der EU-Spitzenkandidat der AfD, Maximilian Krah, macht das sehr geschickt: Er adressiert sein Publikum frontal, mit einer sehr zugespitzten, oft provozierenden Ansprache. Er zeigt mit dem Finger in die Kamera, auf den Zuschauer, er spricht ihn direkt mit "Du" an. Grafische Elemente sind bei TikTok außerdem wichtig, eine Kombination aus Video und Text. Und: Man sollte nicht wie auf anderen Plattformen kommunizieren, nicht einfach Inhalte rüberkopieren. Es braucht originelle Inhalte, speziell gemacht für TikTok. Das ist eine sehr große Herausforderung für Politiker.
Warum?
Auf TikTok müssen sie ihre Inhalte in die Lebenswelt junger Menschen übersetzen und auf das Individuum herunterbrechen. Sie müssen nicht eins zu eins die Sprache der Jugend sprechen, aber Themen, Ästhetik und Kommunikationsgewohnheiten junger Menschen aufgreifen. Und im Optimalfall verbinden sie dabei das Private mit dem Politischen. Die typisch erfolgreiche TikTok-Ästhetik ist scheinbar spontan, wirkt echt und authentisch. Das ist gar nicht so einfach, wenn man aus der Altersgruppe schon lange raus ist. Es droht die "Cringe"-Falle – also ein Video, das anbiedernd, unauthentisch wirkt.
Kann Lauterbach die Kommunikation auf TikTok gelingen?
Er wird sicher eine Lernkurve hinlegen müssen. In den Videos, die Lauterbach auf TikTok bereits über sein Ministerium veröffentlicht hat, spricht er die Nutzer nicht persönlich und direkt an, er verwendet Fachbegriffe, zu komplizierte Sprache. Er spricht wie auch in anderen Formaten. Das ist noch ausbaufähig. Aber ich schätze ihn als jemanden ein, der sich auf die neue Kommunikationsumgebung einstellen kann.
Auch andere Politiker wollen auf TikTok nachziehen, Ministerien prüfen das gerade. Kann das die politische Kommunikation verändern?
Die Tiktokisierung der Politik hat Risiken, keine Frage. Aber es ist auch eine Chance, um junge Menschen für Politik zu interessieren. Die haben aktuell oft das Gefühl: In der Politik geht es nicht um meine Themen, da wird nicht meine Sprache gesprochen. Auf TikTok können die Politiker das ändern. Aber TikTok sollte vor allem das Eingangstor zur Politik sein. Es muss gelingen, Jugendliche anschließend für politische Inhalte auch in anderen Formaten, auch jenseits sozialer Netzwerke, zu interessieren.
Herr Hillje, vielen Dank für das Gespräch.
- Gespräch mit Johannes Hillje