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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Häusliche Gewalt in Deutschland "Der Staat lässt die Frauen im Stich"
Jedes Jahr werden mehr als hundert Frauen in Deutschland durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet, Zehntausende erfahren häusliche Gewalt. Wie lässt sich das stoppen?
Ob durch Schläge oder mit einer Waffe: Im Jahr 2023 sind mindestens 106 Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet worden – oft durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Das geht aus einer Statistik der Organisation "Femizide stoppen" hervor, die die Frauenmorde anhand von Medienberichten zählt. Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) zeigen für das Jahr 2022 ähnlich viele Tötungen im Kontext der häuslichen Gewalt: 133 Frauen wurden demnach von ihrem Partner oder Expartner umgebracht.
Doch warum kommt es in Deutschland zu so vielen Femiziden? "Das liegt daran, dass häusliche Gewalt noch immer nicht als das gesamtgesellschaftliche Problem anerkannt wird, das es ist", sagt Asha Hedayati. Die Rechtsanwältin arbeitet seit über zehn Jahren im Bereich des Familienrechts und vertritt dabei schwerpunktmäßig von Gewalt betroffene Frauen. Im Interview mit t-online spricht sie darüber, was es braucht, um den Frauen zu helfen, und warum sie selbst dem deutschen Staat vorwirft, sich zum Komplizen gewalttätiger Männer zu machen.
t-online: Frau Hedayati, wo beginnt häusliche Gewalt?
Asha Hedayati: Viele denken bei Gewalt in erster Linie an körperliche Gewalt, an blaue Flecken, an Nasenbeinbrüche bis hin zur extremsten Form der Gewalt gegen Frauen: dem Femizid, also dem Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Aber Gewalt beginnt oft nicht mit dem ersten Faustschlag, sondern viel früher und subtiler. Häufig sehen die Betroffenen diese kleinen Grenzüberschreitungen erst rückwirkend.
Das heißt, was sind die ersten Anzeichen?
Es gibt eine Art Muster. Die Beziehungen beginnen nicht sofort gewaltvoll, häufig gibt es eine Honeymoonphase am Anfang, alles ist rosarot. Dann beginnt psychische Gewalt schleichend durch Isolation, Herabwürdigungen, Demütigungen, Gaslighting. Psychische Gewalt ist auch häufig verschränkt mit wirtschaftlicher Gewalt. Psychische Gewalt kann eine Vorstufe zu körperlicher Gewalt sein, aber auch für sich stehen und völlig zerstörerisch sein.
Wie meinen Sie das?
Betroffene Frauen, die zu mir ins Büro kommen, berichten mir häufig davon, dass die körperliche Gewalt wirklich schrecklich für sie war. Aber das, was sie am Ende in die Knie gezwungen hat, waren die Demütigungen. Davon erholen sie sich oft lange Zeit nicht. Damit will ich körperliche Gewalt nicht verharmlosen. Besonders wenn sie in einem Mord endet, dann ist das das Schlimmste, was passieren kann. Aber die Verletzungen der körperlichen Gewalt, so sagen mir die Betroffenen, heilen. Bei psychischer Gewalt aber wird das 'Ich' zerstört.
Zur Person
Asha Hedayati vertritt als Familienrechtsanwältin viele Frauen, die von Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner betroffen sind. Zudem ist sie Dozentin für Familienrecht, Kinder- und Jugendhilferecht.
Und die wirtschaftliche Gewalt, die Sie angeführt haben?
Wirtschaftliche Gewalt betrifft die finanzielle Situation der Frau. Sie beginnt da, wo der Betroffenen der Zugang zum eigenen Konto verwehrt wird. Auch die Auszahlung von Taschengeld durch den Partner kann Gewalt sein, denn so wird die Frau in die Abhängigkeit getrieben. Er bestimmt dann häufig, wofür sie das Geld ausgeben darf.
In ihrem Buch werfen Sie dem deutschen Staat in diesem Zusammenhang vor, strukturelle Gewalt gegen Frauen auszuüben und so Komplize gewalttätiger Männer zu sein.
Ja, es war mir wichtig, klarzumachen, wie wirtschaftliche Gewalt die körperliche und psychische Gewalt stützt. Das ist alles miteinander verschränkt. Frauen geraten in einer Ehe in eine starke wirtschaftliche Abhängigkeit: Sie sind es oft, die für die Kinder zu Hause bleiben. Und sie sind es, die nicht mehr ihr eigenes Geld verdienen. Stattdessen übernehmen sie die Arbeit im Haushalt, unbezahlt. Wenn ein Mann dann gewalttätig wird, ist eine Trennung für die Frau schwierig. Sie birgt die Gefahr, dass die Frau verarmen wird. Hinzu kommt, dass sie auf dem angespannten Wohnungsmarkt wahrscheinlich gar keine Wohnung finden wird. Das bedeutet: Unser schwacher Sozialstaat stützt die Gewalt an Frauen.
Aber macht das allein den Staat bereits zum Komplizen?
Ja, indem der Staat die Frauen aus der Gewaltbeziehung im Stich lässt. Das sehen wir zum Beispiel vor Gerichten. Das Justizsystem ist auf so vielen Ebenen gewaltvoll gegen Frauen, dass es für mich jedes Mal ein Wunder ist, wenn die Frauen, die vor mir sitzen, noch immer Lebensmut haben. Ich frage mich dann, woher sie diese Ressourcen haben.
Mit welchen Situationen können Frauen denn vor Gericht konfrontiert werden?
Wenn es eine Frau endlich geschafft hat, sich mit einem unfassbaren Mut von ihrem gewalttätigen Mann zu trennen, dann kann es passieren, dass Gerichte oder Jugendämter ihnen das Leben nach der Trennung schwer machen. Es heißt dann, die Wohnung der Frau sei zu klein. Die Kinder könnten sich dort nicht so gut entfalten, daher sei es besser, wenn sie bei dem gewalttätigen Mann bleiben. Gleichzeitig verfolgen Behörden oft nicht konsequent, wenn ein Kindesvater seinen Unterhaltspflichten nicht nachkommt.
Zum Unterhalt sieht das Bundesjustizministerium eine Reform vor. Bei getrennten Elternteilen soll der Elternteil, bei dem das Kind nicht lebt, demnach weniger Unterhalt zahlen müssen, wenn sie sich zeitlich spürbar in die Betreuung einbringen. Was sagen Sie zu dem Vorstoß?
Das hört sich erst mal schön und progressiv an, aber Buschmanns Vorschlag wäre enorm missbrauchsanfällig, gerade in diesen gewaltvollen Partnerschaften.
Warum?
Weil es dem gewalttätigen Ex-Partner einen zusätzlichen Anreiz verschafft, noch mehr Kontakt aufzunehmen, noch mehr das Kind zu sehen, um keinen oder weniger Kindesunterhalt zahlen zu müssen. Gleichzeitig ist Buschmanns Vorschlag total absurd, weil 75 Prozent der Alleinerziehenden in Deutschland bereits jetzt schon gar keinen oder zu wenig Unterhalt erhalten.
Was bräuchte es also Ihrer Ansicht nach?
Der Staat sollte dafür Sorge tragen, dass Alleinerziehende den ihnen zustehenden Kindesunterhalt vom anderen Elternteil erhalten, anstatt Anreize für Auswege davon zu schaffen. Studien zeigen: Jede zweite alleinerziehende Person bekommt keinen Unterhalt vom anderen Elternteil. Da sollte man schauen, woran das liegt, denn es geht um das Kind. Und die Frauen stürzt das in eine noch prekärere Lage. 43 Prozent der Alleinerziehenden gelten in Deutschland als einkommensarm.
Was braucht es Ihrer Ansicht nach, um Frauen die Trennung von gewalttätigen Partnern zu erleichtern?
Wir brauchen eine echte Prävention. Natürlich leisten Frauenhäuser eine sehr wichtige Arbeit, aber das allein reicht nicht. Das übergreifende Ziel muss eine Gleichstellung der Geschlechter sein. Dazu müssen die Löhne angeglichen werden, wir müssen die 40-Stunden-Woche überdenken, es müssen mehr Sozialwohnungen gebaut werden und Kitaplätze müssen leichter verfügbar sein. Armut muss endlich konsequent bekämpft werden. Wir müssen also den Frauen die Möglichkeit geben, jederzeit in der Lage dazu zu sein, sich unproblematisch zu trennen.
Oftmals ist es dann schon zu Gewalt gekommen. Wenn Sie sagen, wir brauchen Prävention, wie kann dann verhindert werden, dass oftmals Männer zu Tätern werden?
Wir kommen nicht umhin, Systemfragen zu stellen. Das ist keine schnelle, aber eine nachhaltige Lösung. Das heißt, Geschlechterrollen müssen hinterfragt werden. Wir leben in (Wirtschafts-) Strukturen, die Sorgearbeit und Empathie noch immer weniger belohnen als Kontrolle und Dominanz. So können auch junge Männer selten aus ihren Rollen ausbrechen.
Das bedeutet, die Verantwortung für Prävention liegt nicht nur beim Staat, sondern auch bei Wirtschaftsunternehmen?
Ja, auch. Wir müssen uns fragen, inwieweit sowohl patriarchale als auch kapitalistische Strukturen den Nährboden für Gewalt gegen Frauen schaffen. Das geht immer zusammen.
Frau Hedayati, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Asha Hedayati im August 2023
- Organisation "Femizide stoppen"