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Corona-Impfpflicht | Experten zu Kompromiss: "Das wäre medizinischer Unsinn"


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Corona-Experten der Ampel
"Das wäre medizinischer Unsinn"


Aktualisiert am 26.01.2022Lesedauer: 8 Min.
Grünen-Politiker Dahmen, Liberaler Ullmann: "Die Grenze könnte dann bei 70 Jahren liegen oder bei 20. Je nachdem, wo das Risiko am größten ist."Vergrößern des Bildes
Grünen-Politiker Dahmen, Liberaler Ullmann: "Die Grenze könnte dann bei 70 Jahren liegen, oder bei 20. Je nachdem, wo das Risiko am größten ist." (Quelle: Jürgen Heinrich/Political-Moments/Montage: t-online/imago-images-bilder)

Sie wollen eine Impfpflicht, da sind sich der Grüne Janosch Dahmen und der FDP-Politiker Andrew Ullmann einig. Doch wie soll die aussehen? Ein Streitgespräch.

Rund 73 Prozent der Deutschen sind zweimal geimpft, etwa die Hälfte hat eine Drittimpfung. Reicht das, um die Pandemie zu besiegen?

Bundeskanzler Olaf Scholz ist skeptisch und will eine allgemeine Impfpflicht. Wie genau die am Ende aussieht, darauf sollen sich aber die Abgeordneten im Parlament fraktionsübergreifend einigen. Heute Nachmittag tauschen sie sich erstmals offiziell aus, in einer sogenannten Orientierungsdebatte.

Die aussichtsreichsten Entwürfe haben die Gesundheitsexperten Janosch Dahmen (Grüne) und Andrew Ullmann (FDP) mit ausgearbeitet. Dahmen ist dafür, eine Impfpflicht für alle ab 18 Jahren zu beschließen. Ullmann will bis zum Sommer erst einmal versuchen, die Impfquote mit einem verpflichtenden Beratungsgespräch zu erhöhen – und falls das nicht reicht, eine Impfpflicht ab 50 einführen.

Was sind die Vorteile, was die Nachteile? Wie sehen angemessene Sanktionen aus? Und kann eine Impfpflicht noch abgewendet werden?

t-online: Herr Ullmann, viele FDP-Politiker sind gegen eine Impfpflicht. Sie allerdings nicht. Weil Sie Arzt sind?

Andrew Ullmann: Ich war nicht immer dafür. Aber die Situation hat sich im Dezember dramatisch verändert, vor allem in Thüringen, Sachsen und Bayern waren die Intensivstationen heillos überfordert. Das lag vor allem daran, dass Ungeimpfte behandelt werden mussten. Diese Überlastung hätte man also verhindern können, deshalb hat sich meine Meinung zur Impfpflicht gewaltig verändert.

Und wo bleibt die individuelle Freiheit, die Ihre Partei immer wieder betont?

Andrew Ullmann: Nicht nur die individuelle Freiheit ist für mich ein wichtiger Wert, sondern auch die Freiheit des anderen. Die Verantwortung, die jeder Mensch in dieser Pandemie trägt, kann deshalb nicht nur die Eigenverantwortung umfassen, sondern muss eine gesellschaftliche Verantwortung sein.

Herr Dahmen, Sie sind Notfallmediziner. Können Sie überhaupt nachvollziehen, dass Politiker gegen eine Impfpflicht sind?

Janosch Dahmen: Das muss jeder für sich entscheiden. Die Impfpflicht war doch nie die beste aller Möglichkeiten. Aber man muss jetzt einfach sagen: Ein weiterer Corona-Winter wäre die weitaus schlimmere Option! Wir bekommen diese Pandemie nur mit einer höheren Impfquote in den Griff. Da sind auch Herr Ullmann und ich uns einig.

Aber sie haben unterschiedliche Ansätze: Herr Dahmen ist für eine Impfpflicht für alle Erwachsenen. Sie, Herr Ullmann, im Zweifel für eine Pflicht ab 50 Jahren. Warum genau 50, und nicht 40 oder 60 Jahre?

Andrew Ullmann: Wir wollen die Menschen erreichen, die ohne Impfung besonders häufig auf den Intensivstationen landen. Die Daten von Mitte Januar zeigen, dass die Zahl der Patienten über 50 Jahren auf den Intensivstationen ansteigt. Die Ungeimpften sind dabei besonders gefährdet. Mein Vorschlag ist deshalb medizinisch begründet.

Gibt es einen weiteren Grund?

Andrew Ullmann: Einen rechtlichen. Eine Impfnachweispflicht ab 50 Jahren halte ich für das verhältnismäßigere Mittel. Jüngere Menschen landen schlicht seltener auf den Intensivstationen.

Das ist doch ein valides Argument, Herr Dahmen. Der Gesetzgeber ist angehalten, die Verhältnismäßigkeit zu wahren und im Zweifel das mildeste Mittel zu wählen.

Janosch Dahmen: Bei einem Gesetz muss neben der Verhältnismäßigkeit auch die Wirksamkeit gegeben sein. Und wie wirksam das Gesetz zur Impfpflicht sein kann, ist im Kern eine medizinische Frage: Wenn wir eine Regelung haben, die zwar auf dem Papier milder, aber nicht wirksam genug ist, haben wir doch gar nichts gewonnen. Dann steht das Gesetz auch rechtlich auf wackligen Füßen: Wenn eine Impflicht für wenige uns nicht wirksam aus der Pandemie führt, ist sie auch nicht verhältnismäßig. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Reicht eine Impfpflicht ab 50 Jahren tatsächlich aus, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern?

Janosch Dahmen, 40 Jahre, sitzt seit 2020 im Bundestag und ist gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. Vorher hat er in Berlin als Arzt gearbeitet und unter anderem den Rettungsdienst geleitet. Andrew Ullmann, 59 Jahre, ist seit 2017 Bundestagsabgeordneter. Er ist Professor für Infektiologie, Facharzt für Innere Medizin und einer der wichtigsten Gesundheitspolitiker der FDP.

Was passiert denn, Herr Ullmann, wenn die nächste Virusvariante plötzlich stärker jüngere Menschen betrifft?

Andrew Ullmann: Das kann natürlich niemand ausschließen, weil uns das Virus immer wieder überrascht hat. Die von vielen Kollegen und mir favorisierte Grenze von 50 Jahren basiert auf unserem Wissensstand von Januar 2022. Wir wollen auch weiterhin die wissenschaftlichen Erkenntnisse verfolgen und in die Ausgestaltung miteinbeziehen.

Das heißt, im Herbst könnte die Altersgrenze woanders liegen?

Andrew Ullmann: Wenn sich die Erkenntnisse verändern, reagieren wir darauf natürlich. Die Grenze könnte dann bei 70 Jahren liegen oder bei 20. Je nachdem, wo das Risiko am größten ist. Unser Ansatz ist aber, alle Ungeimpften in einem ersten Schritt zunächst nur zu einem Aufklärungsgespräch zu verpflichten. So wollen wir bis zum Sommer versuchen, mit Freiwilligkeit die Impflücke zu schließen. Erst wenn das nicht ausreicht, würde eine Impfnachweispflicht greifen.

Herr Dahmen, ist diese Unsicherheit bei den Mutationen der Grund, weshalb Sie sagen: Wir lassen die Pflicht gleich für alle Erwachsenen gelten, damit wir auf alles vorbereitet sind?

Janosch Dahmen: Wir haben ja bereits Wissen über andere Mutationen: Wenn wir uns die Delta-Welle anschauen, sehen wir, dass 50 Prozent der Patienten jünger als 65 Jahre alt waren. Es ist zwar richtig, dass ein Großteil davon älter als 50 war. Doch die Impflücke in Deutschland mit mehr als 16 Millionen Ungeimpften ist insgesamt viel zu groß. Allein die schiere Anzahl der Jüngeren darunter, die statistisch schon mit den heutigen Varianten wahrscheinlich erkranken werden, droht das Gesundheitssystem zu überlasten.

Sind Sie sich eigentlich einig darüber, wie die Impfpflicht letztlich kontrolliert werden soll? Was passiert, wenn irgendwann alle Menschen angeschrieben sind, und sich trotzdem viele nicht impfen lassen?

Andrew Ullmann: Die Details müssen noch ausgearbeitet werden.

Sie wissen es also noch nicht.

Andrew Ullmann: Doch, ich habe eine Vorstellung, aber ich bin ja nicht allein. Wir bringen unseren Antrag ja als Gruppe ein. Ich denke, dass es ein Bußgeld geben muss. Ein Gesetz muss strafbewehrt sein, sonst ist es sinnlos. Von einer Beugehaft für Menschen, die nicht zahlen, halte ich aber gar nichts, das wäre kontraproduktiv. Kontrolliert würde spontan, im Grunde ähnlich wie heute schon.

Janosch Dahmen: Ich fürchte, dass diese stichprobenartigen Kontrollen nicht ausreichen werden. Ein Gesetz muss wirksam sein, damit es rechtssicher ist. Und dafür wird es breitere Kontrollen brauchen. Eine Möglichkeit wäre, die Menschen zu verpflichten, an ihrem Arbeitsplatz bis zu einem Stichtag ihren Impfnachweis vorzulegen.

Und wer nicht geimpft ist, verliert den Job?

Janosch Dahmen: Bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht wird ungeimpften Beschäftigten verboten, die Arbeitsstätte zu betreten. Bei der allgemeinen Pflicht bin ich wie Herr Ullmann aber vor allem für Bußgelder. Und zwar im Zweifel auch wiederkehrende Bußgelder, damit sich niemand mit einem Mal herauskaufen kann. Eine Beugehaft ist unverhältnismäßig und nicht nötig.

Welche Impfquote erhoffen Sie sich mit Ihrer Impfpflicht ab 18?

Janosch Dahmen: Der aktuellen Forschung zufolge wären wir als Gesellschaft deutlich besser geschützt, wenn bei den Erwachsenen über 90 Prozent und bei den vulnerablen Gruppen sogar über 95 Prozent geimpft wären. Darum muss es gehen.

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Herr Ullmann, Sie wollen bis zum Sommer ja erst einmal nur mit verpflichtenden Beratungsgesprächen versuchen, die Impfquote ausreichend zu steigern. Bei welcher Quote bräuchte es dann keine Pflicht mehr?

Andrew Ullmann: Meine persönliche Einschätzung wäre, dass es in den vulnerablen Gruppen eine Impfquote von über 95 Prozent braucht. Diese Grenze muss meiner Vorstellung nach der Expertenrat im Kanzleramt festlegen. Aber auch da muss das Gesetz flexibel gehalten werden, damit andere Varianten oder neue Erkenntnisse einfließen können.

Ihr Parteifreund Wolfgang Kubicki sagt, er habe ein Drittel der FDP-Fraktion hinter sich. Mit wie viel Zustimmung rechnen Sie für Ihren Antrag, Herr Ullmann?

Andrew Ullmann: Für die FDP-Fraktion habe ich die berechtigte Hoffnung, dass es ebenfalls etwa ein Drittel sein wird. Aber wir werden ja keine Fraktionsanträge haben. Die Abgeordneten werden unabhängig von ihrer Fraktionszugehörigkeit entscheiden, und das finde ich richtig. Ich kenne auch einige Kollegen von der SPD und den Grünen, die unseren Antrag stützen wollen. Es ist nur schade, dass sich die Union diesem Prozess gerade völlig verweigert.

Das ist zumindest die offizielle Linie von CDU/CSU. Nehmen Sie denn Signale wahr, dass sich Unionsabgeordnete das am Ende noch mal überlegen könnten?

Janosch Dahmen: Ich bekomme positive Rückmeldungen aus allen Fraktionen, auch aus der Union. Ich zähle auf das gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein der Kollegen von CDU und CSU, denen es doch auch um die Menschen in diesem Land geht. Aber natürlich steht für alle noch viel Überzeugungsarbeit an.

Andrew Ullmann: Mir wurde schon in Aussicht gestellt, dass die Mehrheit der Union auf unserer Seite sei. Aber es geht hier nicht um einen Wettbewerb. Es ist einfach generell ein gutes Zeichen, wenn die Union diese Entscheidung jedem einzelnen Abgeordneten frei überlässt.

Wäre es nicht besser gewesen, wenn die Ampel sich vorher geeinigt und einen Gesetzentwurf als Regierung erarbeitet hätte? Dann wären Sie beide jetzt gar nicht auf die Unterstützung der Union angewiesen.

Janosch Dahmen: Wie sich die Mehrheiten verteilen, wissen wir doch noch gar nicht. Und die Impfpflicht bewegt das ganze Land: Bei Sportveranstaltungen und an Stammtischen wird intensiv diskutiert. Da braucht es keine Politik, die mal kurz mit dem Hammer auf den Tisch haut. Die Akzeptanz der Regelungen erhöht sich, wenn wir im Parlament ergebnisoffen und ohne parteipolitische Spielchen diskutieren. Kein Argument von keiner Seite wird irgendwie unter den Tisch gekehrt.

Andrew Ullmann: Ähnlich haben wir übrigens über die Organspende diskutiert – das war eine der besten Debatten der vergangenen Wahlperiode. Ich bin optimistisch, dass das bei der Impfpflicht ähnlich läuft.

Haben Sie keine Angst, dass Ihre Anträge sich gegenseitig die Stimmen wegnehmen und so das gemeinsame Ziel beschädigen?

Janosch Dahmen: Wir haben viele Überschneidungen, das stimmt. Herrn Ullmann und mich eint, dass wir perspektivisch eine Impfpflicht für den richtigen Schritt halten, um das Land aus der Pandemie zu führen. Welche Detaillösung die beste ist, wird sich zeigen.

Heißt das, Sie könnten sich zum Beispiel als Kompromiss auf eine Impfpflicht ab 35 Jahren einigen?

Janosch Dahmen: Nein, das wäre ja medizinischer Unsinn ...

Andrew Ullmann: … das ist ja keine Verhandlung auf einem Basar. Wir wollen eine Überforderung im Gesundheitssystem vermeiden, dazu ist die Impfquote aktuell zu gering. Und jetzt versuchen wir beide, möglichst viele Parlamentarier zu überzeugen.

Olaf Scholz hat sich schon früh für das Modell von Janosch Dahmen ausgesprochen. Sind Sie neidisch auf die Unterstützung von ganz oben, Herr Ullmann?

Andrew Ullmann: Nein. Der Bundeskanzler hat, glaube ich, ein ausreichendes Demokratieverständnis, sollte sich unser Vorschlag durchsetzen. Wobei ich ihn natürlich schon gern auf unserem Ticket hätte. Aber es ist niemand geschädigt, wenn es ein anderes Modell wird.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass am Ende die Impfpflicht – in welcher Weise auch immer – kommt?

Andrew Ullmann: Ich bin optimistisch. Im Februar könnte es eine erste Lesung geben. Die zweite und dritte Lesung halte ich für den März für realistisch.

Janosch Dahmen: Die Impflücke können wir derzeit nur mit einer Impfpflicht schließen. Daher halte ich es für realistisch, dass sie kurzfristig beschlossen und bis zum Sommer endgültig umgesetzt wird.

Stellen wir uns vor, dass es zur Abstimmung im März keine Überlastung der Intensivstationen mehr gibt und die Pandemie unter Kontrolle ist. Haben Sie dann noch ausreichend Rückhalt für eine Impfpflicht in der Bevölkerung?

Janosch Dahmen: Wir haben als Gesellschaft gelernt, dass die Pandemie in Wellen kommt. Vorausschauende Politik muss die nächste Welle verhindern. Und auch die Bevölkerung will keinen weiteren Corona-Winter erleben.

Andrew Ullmann: Die Pandemie ist auch dann nicht vorbei, selbst wenn sie in Deutschland im Griff sein wollte. Es ist anzunehmen, dass weitere Varianten auftreten, auch wenn diese weniger virulent sind. Für all diese hypothetischen Situationen müssen wir uns vorbereiten. Eines kann ich aber klar sagen: Sollten wir tatsächlich in einem endemischen Verlauf sein, erübrigt sich für mich jede Form von Impfpflicht.

Herr Dahmen, Herr Ullmann, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Andrew Ullmann und Janosch Dahmen per Videotelefonie
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