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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.G7-Gipfel und die Hungerkrise Auch das Agrarsystem braucht dringend eine Zeitenwende
Der Welt droht eine Ernährungskatastrophe, die G7-Staaten müssen nun dringend den Wandel zu einem widerstandsfähigen und nachhaltigen Agrarsystem einleiten.
Das Schlagwort der "Zeitenwende" prägt die Diskussionen dieser Tage. Dieses markiert per definitionem den Beginn einer neuen Zeit, in der die Welt nicht mehr dieselbe ist wie davor. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an das G7-Treffen auf Schloss Elmau, denn die Welt befindet sich im Sommer 2022 in einer dramatischen Situation: Die sich überlagernden Krisen – der Krieg in der Ukraine, die Covid-19-Pandemie, der Klimawandel – bedrohen schon heute die Existenz von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt.
Anja Langenbucher ist Europa-Direktorin der Bill & Melinda Gates Stiftung. Mit Sitz in Berlin leitet die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin Strategie, Regierungsbeziehungen und Kommunikationsaktivitäten der Gates-Stiftung in Europa.
Die sich abzeichnende weltweite Ernährungskrise stellt eine zusätzliche enorme Belastung dar. Eine "Zeitenwende" kann daher nicht nur Schlagwort bleiben, sie muss von den führenden Industrienationen zwingend herbeigeführt werden. In einer gemeinsamen Anstrengung muss es gelingen, ein Agrarsystem aufzubauen, das die Ernährung aller Menschen langfristig sicherstellt.
Die russische Invasion der Ukraine hat eine ohnehin schon angespannte globale Ernährungslage weiter verschärft. Die Russische Föderation und die Ukraine lieferten bislang mehr als 30 Prozent des weltweiten Bedarfs an Weizen und Gerste sowie 75 Prozent der weltweiten Sonnenblumenölexporte.
Nahrung wird immer teurer
Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) importieren 25 afrikanische Länder mehr als ein Drittel ihres Weizens aus der Ukraine oder aus Russland, 15 von ihnen importieren sogar mehr als die Hälfte. Wegen der anhaltenden Trockenheit in weiten Teilen Afrikas werden diese Länder nicht kurzfristig auf eigene Ernten zurückgreifen können. Die Folge sind explodierende Preise für Grundnahrungsmittel – mit verheerenden Folgen.
Hohe Nahrungsmittelpreise treffen ärmere Familien besonders hart. In Ländern mit niedrigem Einkommen machen Lebensmittel 50 bis 70 Prozent des Haushaltsbudgets aus. Ärmere Familien werden daher auf ernährungsphysiologisch hochwertige Lebensmittel wie Milchprodukte verzichten müssen. Die Zahl der von Mangelernährung bedrohten Kinder wird so weiter steigen – mit massiven und irreversiblen Folgen für deren Gesundheit und körperliche sowie mentale Entwicklung.
Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) zählt aktuell 345 Millionen Menschen in 82 Ländern, die akut Hunger erleiden. Das sind rund 200 Millionen Menschen mehr als noch vor der Covid-19-Pandemie und der Invasion Russlands in der Ukraine. Die FAO geht davon aus, dass in Asien und Afrika in den kommenden Monaten mindestens zehn Millionen Menschen in den Hunger getrieben werden, viele weitere Millionen in bittere Armut.
Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass zukünftig auch mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Und wie bei den meisten Krisen werden Frauen und Kinder am stärksten betroffen sein. Schon vor der Pandemie waren von den weltweit mehr als 800 Millionen unterernährten Menschen 60 Prozent weiblich.
Vielfältige Probleme
Angesichts dieser humanitären Notlagen laufen wir Gefahr, Fortschritte, die die Welt im Hinblick auf Armut, Bildung, Gesundheit und Gleichstellung der Geschlechter erzielt hat, innerhalb kurzer Zeit zunichtezumachen. Sicher ist: Schon vor dem Krieg in der Ukraine standen die Lebensmittelpreise unter Druck. Der dramatisch verlaufende Klimawandel sorgt immer häufiger für Ernteausfälle, etwa durch Hitzewellen in Indien oder die schlimmste Dürre in Ostafrika seit mehr als 40 Jahren.
Die G7-Länder, die sich in dieser Woche auf Schloss Elmau treffen, tragen daher eine doppelte Verantwortung. Zum einen gilt es, auf die akute Ernährungskrise zu reagieren, auf der anderen Seite muss es gelingen, ein globales Agrarsystem langfristig aufzubauen, das widerstandsfähiger ist und wirksamer auf die Bedürfnisse der Ärmsten abgestimmt ist.
Um die sich anbahnende Katastrophe zu minimieren, müssen die G7-Länder unmittelbar eine effektive Nahrungsmittelhilfe organisieren. Initiativen wie das WFP können derzeit für das gleiche Geld deutlich weniger Nahrung bereitstellen. Tagesrationen müssen teilweise auf Mengen reduziert werden, die unter dem schieren Existenzminimum liegen.
Hier muss sofort gegengesteuert werden. Zudem sollten die G7 die Regierungen weltweit auffordern, nicht auf die steigenden Preise zu reagieren, indem sie Exporte verbieten und die globalen Nahrungsmittelmärkte weiter verzerren.
Ein widerstandsfähiges Agrarsystem
Für eine nachhaltige "Zeitenwende", die die Welt krisenfester machen würde, ist auch der Aufbau einer nachhaltigen landwirtschaftlichen Entwicklung elementar. Dazu zählen Maßnahmen, um Kleinbauern Zugang zu erschwinglichen Düngemitteln zu verschaffen. Bereits jetzt reduzieren Bauern wegen der hohen Preise den Einsatz von Düngemitteln.
Nach Schätzungen der Nichtregierungsorganisation International Fertilizer Development Center (IFDC) könnte der Düngemittel-Verbrauch in Subsahara-Afrika in diesem Jahr um 30 Prozent sinken, was zu 30 Millionen Tonnen weniger produzierten Lebensmitteln führen könnte. Das entspricht dem Nahrungsmittelbedarf von 100 Millionen Menschen.
Neben bezahlbaren Düngemitteln brauchen Kleinbauern Zugang zu Märkten und relevanteren Daten, damit sie in Echtzeit die besten Entscheidungen treffen können. Dazu zählen Daten zu Wetterbedingungen, Bodengesundheit und Absatzmärkten. Nicht zuletzt muss die Weltgemeinschaft in einer gemeinsamen Anstrengung den Schutz und die Ernährung von Frauen und Kindern sicherstellen sowie die wirtschaftlichen Chancen von Frauen stärken. Das wäre auch ganz im Sinne einer feministischen Entwicklungspolitik, die sich Bundesministerin Svenja Schulze zum Ziel gesetzt hat.
Ein absolut richtiger Schritt ist daher die Initiative des diesjährigen G7-Gastgeberlands Deutschland, mit der neuen Globalen Allianz für Ernährungssicherheit (GAFS) in einem multilateralen Bündnis aktiv zu werden. Dies ist eine notwendige Initiative und wird hoffentlich dazu beitragen, den Hunger weltweit effektiv zu bekämpfen – kurzfristig wie langfristig.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.