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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Katastrophe im Sudan "Dann haben wir es mit einer viel größeren Krise zu tun"
Seit anderthalb Jahren herrscht im Sudan ein Krieg, der das Land an den Rand des Abgrunds treibt. Im t-online-Interview berichtet der Leiter der Unicef-Programme im Sudan von der katastrophalen Lage.
Neben dem Nahostkonflikt und dem Krieg in der Ukraine gerät der Krieg im Sudan in der öffentlichen Wahrnehmung in Vergessenheit. Seit April 2023 kämpft Militärherrscher Abdel Fattah al-Burhan gegen die RSF-Miliz des Warlords Mohammed Hamdan Daglo um die Vorherrschaft im nordostafrikanischen Land. Mittlerweile haben die Kampfhandlungen 14 von 18 Bundesstaaten des Sudan erfasst.
Die humanitären Folgen sind verheerend. Der Krieg löste die größte Flüchtlings- und Hungerkrise der Welt aus. Rund zehn Millionen Menschen wurden vertrieben, Tausende getötet. Fast 25 Millionen Sudanesen – die Hälfte der Bevölkerung – sind nach UN-Angaben dringend auf Hilfe angewiesen. Etwa 18 Millionen Menschen leiden an Hunger. 3,6 Millionen Kinder sind stark unterernährt.
Das Land versinkt im Chaos, und internationalen Hilfsorganisationen fällt es immer schwerer, in die betroffenen Gebiete vorzudringen. Sheldon Yett leitet die Programme der Unicef im Sudan. Im Interview mit t-online berichtet er von seinen Erfahrungen und warnt vor den Folgen der fehlenden Aufmerksamkeit für den Sudan.
t-online: Mr. Yett, Sie haben schon viele Krisenregionen auf der Welt bereist. Seit August sind Sie im Sudan tätig. Was haben Sie dort erlebt?
Sheldon Yett: Ich arbeite seit fast 30 Jahren in Krisengebieten. Ich war in Ruanda, in Burundi, Somalia, dem Kosovo, dem Kongo, der Zentralafrikanischen Republik. Aber so etwas wie im Sudan habe ich noch nie erlebt.
Was meinen Sie genau?
Die Auswirkungen dieses Krieges sind unvorstellbar. 80 Prozent der Kinder können nicht zur Schule gehen. Es gibt einen massiven Bildungsnotstand. Die Impfquoten gehören zu den niedrigsten der Welt. Schwere Kinderrechtsverletzungen nehmen jeden Monat zu. Zwischen 2022 und 2023 hat sich die Zahl der schweren Kinderrechtsverletzungen verfünffacht. Einen ähnlichen Trend sehen wir jetzt im Jahr 2024. Die Gewalt nimmt zu, die humanitären Zugangsmöglichkeiten ins Land nehmen ab. Cholera breitet sich aus. Wir haben Überschwemmungen.
Zur Person
Sheldon Yett, 1964 in Brookyln, New York, geboren, ist seit August 2024 der Leiter der Unicef-Programme im Sudan. Yett ist seit 1997 für die Kinderrechtsorganisation in Entwicklungs- und Krisengebieten wie Liberia, Armenien, Somalia, Kosovo und Burundi tätig. Zuvor arbeitete Yett als Journalist.
Sie leben in der Hafenstadt Port Sudan, die für viele Vertriebene ein Zufluchtsort ist. Sie haben dort mit vielen Menschen gesprochen. Gibt es eine Geschichte, die sie besonders schockiert hat?
Davon gibt es einige. Viele unserer Mitarbeiter und Kollegen arbeiteten in der Hauptstadt Khartum. Eine Stadt mit der besten Gesundheitsversorgung in der Region, mit guten Schulen und auch vielen Besuchern. Und von einem Moment auf den anderen stehen die Menschen im Kreuzfeuer der Gewalt.
Für die Bewohner Khartums war Flucht die einzige Alternative. Viele stehen unter Schock. Seit anderthalb Jahren werden sie immer wieder vertrieben, da sich die Frontlinien ständig verlagern. Sie wissen nie, was in zwei Wochen passiert, wo sie sein werden, oder ob ihre Stadt unter Beschuss gerät. Ich habe viele Mütter kennengelernt, die unglaubliche Opfer bringen, damit ihre Kinder weiterhin zur Schule gehen können und medizinisch versorgt werden. Auf der einen Seite ermutigt das. Aber auf der anderen Seite zerreißt es einem das Herz, weil es fast unmöglich ist.
Welche Schäden hinterlässt der Krieg bei Kindern?
Das Ausmaß der Gewalt an Kindern ist unglaublich. Es kommt zu Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Tötungen. Kinder werden entführt und als Soldaten rekrutiert. Wir sehen das alles im Sudan. Aber es sind nicht nur die physischen Verletzungen. Ich glaube, dass es im Sudan kein Kind gibt, das durch den Krieg kein Trauma erlitten hat. Jeder hier kennt jemanden, der einen Bruder, eine Tante oder einen Cousin verloren hat. Der Stress und die psychische Belastung für die Familien ist massiv.
Wo setzt man in diesem Chaos an? Was wird am dringendsten benötigt?
Das lässt sich so einfach nicht sagen. Man braucht ein umfassendes Paket an Hilfsleistungen für Kinder. Sie müssen sich sicher fühlen können, sicher vor Gewalt. Sie brauchen Bildung. Sie brauchen Zugang zu Gesundheitsversorgung. Sie brauchen Wasser und sanitäre Einrichtungen. Keines dieser Rechte ist im Sudan derzeit frei verfügbar. Dazu kommt: Wir stehen im Sudan vor einer Hungersnot. Im Zamzam-Camp für Vertriebene in Nord-Darfur ist sie bereits festgestellt. Das ist die erste weltweit bestätigte Hungersnot seit sieben Jahren.
Worum geht es im Krieg im Sudan?
Der Krieg begann im April 2023 als Folge eines eskalierenden Machtkampfs zwischen der sudanesischen Armee (SAF), angeführt von General Abdel Fattah al-Burhan, und der paramilitärischen Miliz Rapid Support Forces (RSF) unter der Führung von General Mohamed Hamdan Daglo. Beide Parteien hatten zuvor gemeinsam den Sturz des Diktators Omar al-Bashir im Jahr 2019 herbeigeführt. Differenzen über die geplante Integration der RSF in die reguläre Armee führten zu der Eskalation. Während Ägypten und Saudi-Arabien die Armee unterstützen, stehen die Vereinigten Arabischen Emirate der RSF aus Interesse an den sudanesischen Goldminen nahe.
Was für Folgen hat das?
Die Hungersnot verschärft das Grauen. Die Schutzbedürftigkeit von Kindern vervielfacht sich, wenn Menschen mit Hunger zu kämpfen haben. Frühverheiratung, Genitalverstümmelung, Kinderarbeit, Rekrutierung für den Krieg – das alles nimmt durch Hungersnöte zu. Es geht also um mehr als um Nahrungsmittel. Der Sudan ist eine einzige große Kinderschutzkrise.
Wie schwierig ist es, im laufenden Krieg Hilfsleistungen dahin zu bringen, wo sie gebraucht werden?
Es ist fast unmöglich. Unicef und unsere Partner arbeiten Tag und Nacht, um Hilfsgüter über die Grenzen zu bringen. Aber das reicht nicht aus. Im Land wüten zahllose Konflikte und man muss oft mehrfach mit allen Konfliktparteien verhandeln, um Hilfslieferungen über die Konfliktlinien hinweg zu befördern.
Und das muss man auch in der Regenzeit tun, wenn die Straßen Flüsse aus Schlamm sind. Es dauert also Wochen und es braucht viele Leute vor Ort, die sicherstellen, dass die Hilfsgüter Zentimeter für Zentimeter zu den bedürftigen Menschen gelangen. Dafür stehen wir mit allen Konfliktparteien auf verschiedenen Ebenen in Kontakt.
Der Krieg im Sudan bekommt im Vergleich zu anderen weltweiten Konflikten kaum Aufmerksamkeit. Wieso?
Es ist ein vergessener Krieg – die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf andere Regionen. Dabei handelt es sich um die größte Vertreibungskrise von Kindern auf der Welt. 11 Millionen Sudanesen wurden vertrieben, 5 Millionen davon sind Kinder. So viele Menschen leben in vielen Ländern überhaupt nicht. Aber auf den Titelseiten und in den Fernsehsendern der Welt findet der Sudan kaum Erwähnung. Die meisten Menschen können den Sudan nicht einmal auf der Landkarte finden. Das muss sich ändern.
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Haben Sie Hoffnung, dass der Konflikt bald enden oder es zumindest zu einer Waffenruhe kommen könnte?
Wissen Sie, ich wäre nicht in diesem Geschäft, wenn ich keine Hoffnung hätte. Es gibt immer einen Lichtblick am Ende des Tunnels. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir selbst inmitten eines Krieges Hilfslieferungen und Expertise dorthin bringen können, wo sie gebraucht wird. Ich habe also die Hoffnung, dass wir das weiterhin tun können.
Wenn wir aber dem Sudan keine Aufmerksamkeit schenken, werden wir es bald mit einer viel größeren Notlage zu tun haben. Der Konflikt beginnt sich bereits über die Grenzen des Landes hinweg auszubreiten. Kümmern wir uns nicht darum, werden noch mehr Menschen fliehen. Dann haben wir es mit einer viel größeren Krise zu tun. Es ist an der Zeit, sich auf den Sudan zu konzentrieren.
- Interview mit Sheldon Yett