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“Putin macht Polen schweren Vorwurf”: Historiker über Kreml-Propaganda


Propaganda des Kremls
"Putin macht Polen einen schweren Vorwurf"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 16.09.2024Lesedauer: 10 Min.
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Wladimir Putin: Der Kreml-Chef setzt Geschichte als Waffe ein.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der Kremlchef setzt Geschichte als Waffe ein. (Quelle: Sergey Pyatakov/AP)

Wladimir Putin macht Polen absurde Vorwürfe zum Zweiten Weltkrieg. Historiker Stefan Creuzberger erklärt, was damals wirklich geschah und welches Ziel der Kremlchef mit seiner Geschichtsklitterung verfolgt.

Wladimir Putin wähnt sich auf einer Art Kreuzzug. Darin benutzt er auch Geschichte als Waffe. Eingesetzt wird sie gegen die Ukraine, aber ebenso strickt das russische Regime ein Gespinst aus historischen Unwahrheiten gegen Polen. Polen, das am 1. September 1939 von Deutschland überfallen wurde, trüge eine hohe Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, so Putin.

Ein absurder Vorwurf. Umso absurder, als Josef Stalin – Putins Vorgänger im Kreml – seine Rote Armee am 17. September 1939 ebenfalls in Polen einfallen ließ, um das Land später mit Adolf Hitler aufzuteilen. Warum aber paktierten das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion 1939 im Hitler-Stalin-Pakt? Welche Folgen hatte das für Polen? Und wie konstruiert Putin seine pseudohistorischen Behauptungen? Diese Fragen beantwortet Stefan Creuzberger, Historiker und Experte für die Geschichte Russlands, im Gespräch.

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t-online: Professor Creuzberger, Wladimir Putin flankiert Russlands Krieg gegen die Ukraine mit pseudogeschichtlichen Lügen. Gegenüber Polen strickt er ein weiteres historisches Netz aus Unwahrheiten. Wie geht Putin vor?

Stefan Creuzberger: Wladimir Putin gibt Polen eine gewichtige Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – und das nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Schon seit längerer Zeit stellt Putin derartige Behauptungen auf. So tat er es etwa 2020 in einer Rede zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, und auch in einem Interview, das der ultrakonservative und zu rechten Verschwörungsmythen neigende US-Moderator Tucker Carlson mit ihm dieses Jahr geführt hat, argumentierte der Kremlchef ähnlich.

Moment! Tatsächlich hat Deutschland am 1. September 1939 Polen überfallen, am 17. September 1939 ließ Sowjetdiktator Stalin als Komplize Adolf Hitlers die Rote Armee in den Osten des angegriffenen Landes einfallen.

Richtig. Putin macht aber Polen einen schweren Vorwurf – und zwar sei das Land in der schwierigen diplomatischen Situation des Jahres 1939 nicht zu ausreichenden Konzessionen bereit gewesen. Zugleich habe sich Polen aggressiv gebärdet. Das ist eine dreiste Geschichtsklitterung, selbst in der sowjetischen Geschichtsschreibung wären derartige Aussagen so nicht unbedingt mehrheitsfähig gewesen. Putin lässt aber keinerlei kritische Sicht mehr zu, weder auf den Hitler-Stalin-Pakt noch auf den Ausbruch des sogenannten Großen Vaterländischen Krieges am 22. Juni 1941.

Zur Person

Stefan Creuzberger, Jahrgang 1961, lehrt Zeitgeschichte an der Universität Rostock und leitet zugleich die Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Russlands und Mitherausgeber der "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland". 2022 erschien Creuzbergers Buch "Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung", das für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert war.

Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 überraschte die Welt, galten Adolf Hitler und Josef Stalin doch als ideologische Todfeinde. Wie wurde dieser Nichtangriffspakt überhaupt möglich?

Als die Menschen in Deutschland und in der Sowjetunion am Morgen des 24. August 1939 aufwachten, erfuhren sie, dass ihre Regierungen in der Außenpolitik eine 180-Grad-Wende vollzogen hatten. Das war ein ziemlicher Schock, niemand hatte das für möglich gehalten: Über Jahre hatten sich die beiden Regime zuvor gegenseitig als politische und ideologische Gegner betrachtet. Das galt von einem Tag auf den anderen so nicht mehr. Denn Hitler und Stalin waren übereingekommen, dass sie vom jeweils anderen profitieren konnten.

Wie reagierten führende Nationalsozialisten und Kommunisten auf diesen radikalen Schwenk?

Propagandaminister Joseph Goebbels etwa, der von sich selbst sagte, gegebenenfalls auch einen "Pakt mit dem Teufel" abzuschließen, sofern es der Sache Deutschlands diene, vollzog diesen radikalen Kurswechsel problemlos. Für Goebbels als engen Vertrauten Hitlers war dies ohnehin nur eine Allianz auf Zeit. Andere altgediente Nationalsozialisten, beispielsweise der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg, ein eingefleischter Antibolschewist, fanden sich dagegen nur schwer mit der neuen Situation zurecht. Doch aus Loyalität zu Hitler zogen sie mit, wenn auch zähneknirschend. Bei der sowjetischen Parteiführung herrschte ebenfalls große Desorientierung, insbesondere bei vielen nachgeordneten Funktionären, die dringend auf Handlungsinstruktionen und offizielle Sprachregelungen warteten.

Kein Wunder, immerhin war der Antifaschismus diesen Funktionären über Jahre von oben vorgegeben worden?

In der Tat hatten sie lange in der Überzeugung gelebt, die UdSSR sei ein antifaschistisches Bollwerk. Die sowjetische Außenpolitik hatte im Geiste einer kollektiven Sicherheit mit Mächten wie Frankreich und Großbritannien zusammengearbeitet, um die faschistischen Regime Europas einzudämmen. Ebenso hatte man über die Kommunistische Internationale parteiübergreifend und relativ ideologiefern mit rivalisierenden politischen Strömungen wie Sozialdemokraten, Bürgerlichen und Konservativen gegen die Bedrohungen von rechts kooperiert. Das alles war nun im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht zur Disposition gestellt worden.

In der Sowjetunion war zugleich spätestens nach den Jahren des sogenannten Großen Terrors von 1936 bis 1938 jegliche öffentliche Kritik verstummt?

Das stalinistische Regime basierte gleichermaßen auf Terror und Gewalt wie Befehl und Gehorsam. Dieses brutale Prinzip hielt unter dem 1939 neu ernannten Außenminister und Stalin-Vertrauten Wjatscheslaw Molotow ebenso in die sowjetische Außenpolitik Einzug. Gleichwohl äußerten hinter vorgehaltener Hand einfache Sowjetbürger bisweilen auch Kritik am Zustandekommen des Hitler-Stalin-Paktes. Viele waren höchst irritiert über die plötzlich neu verordnete deutsch-sowjetische Freundschaft. Aber der Geheimdienst NKWD hielt mit Argusaugen Ausschau nach diesen sogenannten Abweichlern und brachte sie zum Schweigen.

Sowohl Hitler als auch Stalin machten sich keinerlei Illusionen, dass der Friede zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion langfristig sein würde. War das nicht eine geradezu paradoxe Situation?

Auch im Kreml hatte man Hitlers "Mein Kampf" gelesen, über die nationalsozialistischen Pläne vom "Lebensraum im Osten" wusste Moskau gut Bescheid. Die Umschreibung Frieden auf Zeit trifft auf den Hitler-Stalin-Pakt daher recht gut zu. Der sowjetischen Parteiführung war bewusst, dass es über kurz oder lang eine militärische Auseinandersetzung mit Deutschland geben würde. Stalin verschaffte sich eine Atempause, um die Rote Armee nach mörderischen "Säuberungen" wieder aufzubauen. Den Nichtangriffspakt mit Deutschland stellte der Sowjetdiktator zunächst als Notwendigkeit dar, um die Sowjetunion aus dem Krieg herauszuhalten, der sich abzeichnete.

Der Hitler-Stalin-Pakt umfasste allerdings ein geheimes Zusatzprotokoll, in dem die beiden Diktatoren ihre Interessensphären in großen Teilen Osteuropa aufteilten. Es richtete sich vor allem gegen Polen, das Putin heute wiederum für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verantwortlich macht.

Mit Blick auf den für den 1. September 1939 geplanten Angriff der Wehrmacht auf Polen zählte für Hitler jeder Tag, um einen möglichen Zweifrontenkrieg zu verhindern. Das war seine größte Furcht vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs. Die gesamte deutsche Kriegsmaschinerie wartete auf den entscheidenden Befehl. Mit der Offerte zur Aufteilung Osteuropas in Interessen- und Einflusszonen konnte Hitler Stalin dann ein Angebot machen, zu dem Franzosen und Briten, die Stalin ebenfalls für ein Bündnis gewinnen wollten, als Vertreter liberaler Demokratien nicht imstande waren.

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Die beiden Diktatoren schacherten also um den Osten Europas?

So ist es. Hitler brauchte diesen Pakt unbedingt und Stalin profitierte davon. Um an dieser Stelle aber kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es war das nationalsozialistische Deutschland, das am 1. September 1939 mit seinem Überfall auf Polen einen Weltkrieg mit Millionen von Opfern entfesselte. Dass Stalin durch Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes eine Voraussetzung dafür geschaffen hat, indem er den NS-Diktator von der Sorge eines Zweifrontenkriegs befreite, ändert nichts an der historischen deutschen Schuld.

Im Putinschen Russland spielen heute weder Stalins Komplizenschaft mit Hitler noch das geheime Zusatzprotokoll zur Teilung Polens eine Rolle.

Ja. All das wird heutzutage in den offiziellen Geschichtsdiskursen weitgehend tabuisiert. Wie es auch früher bereits der Fall war: Zunächst leugnete die sowjetische Seite jahrzehntelang kategorisch die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls. Erst seit 1987 setzten sich die dortigen Historiker im Zeichen von Michail Gorbatschows Glasnost, "Offenheit", differenzierter und vor allem quellenbasierter mit diesen Ereignissen auseinander. Am 29. Oktober 1992 räumte dann eine Kommission handverlesener russischer Geschichtswissenschaftler ein, das geheime Zusatzprotokoll im Moskauer Präsidentenarchiv "entdeckt" zu haben. Allein die postsowjetischen 1990er Jahre waren schließlich dazu angetan, sich frei von politischen Zwängen mit diesem unrühmlichen Kapitel stalinistischer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Bleiben wir dabei: Wie rechtfertigte Stalin die offensichtliche Aggression der Sowjetunion, als die Rote Armee am 17. September 1939 in den Osten Polens einfiel?

Nachdem auch die Sowjetunion in Polen eingedrungen war, musste statt der deutschen nun die polnische Armee einen Zweifrontenkrieg führen. Die Invasion rechtfertigte die sowjetische Seite mit fadenscheinigen Vorwürfen, es war zum Beispiel die Rede vom "Schutz der slawischen Brüder und Schwestern". Am 17. September 1939 zeigte sich dann auch deutlich das Verwerfliche am Hitler-Stalin-Pakt. Denn das geheime Zusatzprotokoll bedeutete weit mehr als einen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion – es war eine geheime Militärallianz zum Nachteil der anderen Staaten Osteuropas.

Beide Diktatoren betrieben ein perfides Spiel?

Ein verwerfliches Spiel, das schon vor dem 17. September 1939 begonnen hatte. Die Sowjetunion hatte zuvor starke Verbände der Roten Armee an der Grenze zu Polen konzentriert, das sollte die Verteidigung der polnischen Streitkräfte erschweren. Zugleich ließ Stalin sogar Einheiten der Wehrmacht im Zuge der deutschen Attacke über sowjetisches Territorium ziehen, um polnische Verbände zu umgehen. Und nicht zuletzt übte Berlin mächtig Druck auf Moskau aus, damit die Rote Armee so früh wie möglich ihrerseits in Polen eindrang, um die Wehrmacht zu schonen. Spätestens nach dem 17. September 1939 hatte Polen dann keine Chance mehr.

Zumal die Westmächte Frankreich und Großbritannien Deutschland am 3. September 1939 den Krieg erklärten, ansonsten aber nahezu untätig blieben?

Genau. Propagandistisch klagte der Kreml die Westmächte an, nicht zum Frieden bereit gewesen zu sein, Stalin warf Polen zugleich aggressive Forderungen vor. So sicherte die Sowjetunion ihre eigene Aggression und die Solidarisierung mit dem deutschen Überfall auf Polen ab.

Das heutige russische Regime argumentiert in die gleiche Stoßrichtung.

Putin passt das bestens. Zumal unter ihm jede kritische Aufarbeitung der Stalin-Ära nahezu zum Erliegen gekommen ist. Nach der Besetzung Polens teilten Deutschland und die Sowjetunion Polen unter sich auf und schlossen einen Freundschaftsvertrag, alles flankiert von einer umfangreichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit, die die deutsche Kriegsmaschinerie intakt hielt. Insgeheim hegte Stalin zudem die Hoffnung, dass sich die sogenannten imperialistischen Staaten – also die Westmächte im Krieg gegen Deutschland – derart schwächen und zermürben würden, dass die Sowjetunion am Ende profitieren könnte.

Die Westmächte hatten sich ebenfalls um Stalin bemüht. Gab es keine Hoffnung auf ein derartiges Bündnis?

Nein. Stalin strebte schon seit 1933 eine gute Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Regime an. Er bewunderte Hitler auf gewisse Art. Das begann mit dem sogenannten Röhm-Pusch, in dem Hitler 1934 seine politischen Widersacher beseitigt hatte. Es war allein der deutsche Diktator, der den Avancen des Kremls immer wieder entschieden eine Abfuhr erteilt hatte. Die Lage veränderte sich allerdings deutlich im Jahre 1939 – und das umso mehr, als Stalin seit dem Frühjahr durch den Auslandsgeheimdienst der Roten Armee über Hitlers Kriegspläne gegen Polen unterrichtet war.

Eine Chance, die Stalin nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte.

Richtig. Nun ergab sich für ihn eine einzigartige Gelegenheit, die lang gehegte politische Annäherung an das NS-Regime zu vollziehen. Als sich dann noch die deutsche Offerte eines geheimen Zusatzprotokolls über Osteuropa abzeichnete, stand spätestens fest: Die im August 1939 nach Moskau entsandte Militärmission der Westmächte hatte keinerlei Chance, eine gemeinsame Abwehrfront gegen die unmittelbar bevorstehende deutsche Aggression zu schmieden. Denn Stalin hatte seinen Kriegsminister Kliment Woroschilow bereits zuvor angewiesen, die Verhandlungen schnellstmöglich scheitern zu lassen. Hitler hatte einfach mehr zu bieten. Zugleich verdächtigte Stalin die Westmächte, die Sowjetunion in einen verlustreichen Krieg gegen Deutschland treiben zu wollen. Als Kastanienrede ist Stalins Ansprache aus dem März 1939 bekannt, in der die Frage stellt, warum sein Land für die Westmächte die Kastanien aus dem Feuer holen solle.

In gewisser Weise holte Stalin dann aber für Hitler die sprichwörtlichen Kastanien aus dem Feuer und erleichterte es, den polnischen Staat zu zerschlagen?

So ist es. Polen war in vielerlei Hinsicht ein Laboratorium des weltanschaulichen und rassenideologischen Vernichtungskriegs, den das nationalsozialistische Deutschland führte. Nach der Besetzung und der Aufteilung des Landes kam es dann zunächst zu einer bemerkenswerten Kooperation zwischen der deutschen Gestapo und dem sowjetischen Geheimdienst NKWD. Im Sommer 1940 trafen sich deren Vertreter etwa in Krakau und tauschten "Erfahrungen" aus. Die deutsche Seite hörte ihren NKWD-Kollegen genau zu, denn diese hatten während des "Großen Terrors" einschlägiges Wissen erworben, wie sich die Instrumentarien von Terror und Gewalt am besten zur Anwendung bringen lassen.

In den von den Deutschen besetzten Teilen Polens ermordete die SS Zehntausende Angehörige der polnischen Elite, die jüdische Bevölkerung wurde von den deutschen Besatzern gequält und zunächst in Ghettos gesperrt. Wie gingen die Sowjets vor?

Das stalinistische Regime nahm eine Sowjetisierung der besetzten Gebiete Polens unter Anwendung brutalster Gewalt vor. Die alte intellektuelle polnische Elite sollte in stalinistischer Manier ausgelöscht werden. Tausende Offiziere der polnischen Armee ließ Stalin etwa an verschiedenen Orten ermorden, der Wald von Katyn ist das bekannteste Beispiel. Während im deutsch besetzten Polen das rassenideologische Momentum vorherrschte, war im sowjetisch besetzen Teil das Momentum des Klassenkampfes ausschlaggebend. Verbunden mit der entfesselten Gewaltkultur des Stalinismus, die die Liquidierung von sogenannten Klassenfeinden forderte.

Das Bündnis auf Zeit zwischen Hitler und Stalin endete dann am 22. Juni 1941, als Deutschland mit seinen Verbündeten die Sowjetunion überfiel. Wie reagierte Stalin?

Stalin wollte es nicht wahrhaben, aber Deutschland griff die Sowjetunion tatsächlich an. Er unterlag damit einer fatalen Selbsttäuschung, obwohl es im Vorfeld des Überfalls viele zuverlässige Warnungen gegeben hatte. Der sowjetische Diktator wollte dagegen Hitler keinerlei Vorwand liefern, die bilaterale Kooperation aufzukündigen. Doch Adolf Hitlers Entschluss war schon längere Zeit gereift. Spätestens seit dem Ende des erfolgreichen Westfeldzugs im Sommer 1940 setzen die einschlägigen Vorbereitungen ein. Und ab dem 22. Juni 1941 führte Deutschland dann auch gegen die Menschen der Sowjetunion einen erbarmungslosen rassenideologischen Vernichtungskrieg, der dort bis heute als "Großer Vaterländischer Krieg" bezeichnet wird.

In der offiziellen Sichtweise des Kremls begann der Zweite Weltkrieg für die Sowjetunion also mit dem deutschen Überfall vom 22. Juni 1941. Eine sehr verkürzte Sicht der Geschichte.

Das war schon immer die Sicht des Kremls, weil erst ab diesem Zeitpunkt die UdSSR offiziell in das Kriegsgeschehen einbezogen war. Das hat sich nicht erst seit Wladimir Putin geändert. Der Unterschied zu früher besteht heutzutage vor allem darin, dass eine korrekte historische Kontextualisierung der damaligen Ereignisse konsequent unterbunden wird. Mehr noch: Wer in Putins autoritärem Staat kritisch auf das Zustandekommen des Hitler-Stalin-Paktes blickt, wird des mangelnden Patriotismus beschuldigt. Das wiederum kann hohe Geld- oder gar Haftstrafen nach sich ziehen. Da einer lebendigen, konstruktiven Zivilgesellschaft in Russland inzwischen die Grundlage entzogen worden ist, finden sich gegenwärtig nur wenige Couragierte, die derartigen Interpretationen mutig entgegentreten.

Putin hingegen sieht in einer Traditionslinie mit russischen Herrschern, die das Land "groß" gemacht hätten?

Es gilt die große historische Meistererzählung von der heroischen Sowjetunion, die Stalin zwischen 1939 und 1945 zur Groß- und Weltmacht geformt habe. Und exakt in dieser Traditionslinie verortet sich Wladimir Putin nach dem Ende der UdSSR als konsequenter Vollstrecker russischer Großmachtfantasien. Die Geschichtsklitterung gegenüber der Ukraine und Polen ist da nur ein naheliegendes Mittel zum Zweck.

Professor Creuzberger, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Stefan Creuzberger via Videokonferenz
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