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Gaza-Krieg "könnte katastrophale Auswirkungen haben"


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Historiker Moshe Zimmermann
"Könnte katastrophale Auswirkungen haben"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 06.03.2024Lesedauer: 9 Min.
Israelische Artillerie: Historiker Moshe Zimmermann warnt vor einer Eskalation im Nahen Osten.Vergrößern des Bildes
Israelische Artillerie: Historiker Moshe Zimmermann warnt vor einer Eskalation im Nahen Osten. (Quelle: Mostafa Alkharouf/dpa)
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Ein weiterer Krieg herrscht im Nahen Osten, der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern erscheint als unlösbar. Friede ist aber möglich, sagt Historiker Moshe Zimmermann. Und warnt vor den dramatischen Folgen einer Eskalation.

Krieg, immer wieder Krieg, beherrscht den Nahen Osten. Die restlose Zerstörung der Hamas strebt Israels ultrarechte Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu nun an, nachdem die Terroristen am 7. Oktober 2023 israelische Zivilisten ermordet und entführt hatten. International wird derweil immer mehr Kritik geäußert, weil auch zahlreiche palästinensische Zivilisten bei den Angriffen auf Gaza sterben.

Friede zwischen Israel und Palästinensern? Diese Vorstellung erscheint absurder denn je. Ist sie aber nicht, erklärt mit Moshe Zimmermann einer der bekanntesten Historiker Israels, der gerade das Buch "Niemals Frieden? Israel am Scheideweg" veröffentlicht hat. Denn mit der Zweistaatenlösung ist in der Gegenwart immer noch eine Option existent, die auch schon vor drei Jahrzehnten das Blutvergießen hätte beenden können. Und ein Friede sei dringend notwendig, so Zimmermann: Denn eine Eskalation des Konflikts könnte katastrophale Folgen haben.

t-online: Professor Zimmermann, am 7. Oktober 2023 attackierte die Hamas Israel, seitdem herrscht Krieg. Wie ist die Stimmung der Menschen im Land?

Moshe Zimmermann: Die Stimmung ist bedrückt, die Menschen sind vollkommen ratlos. Man kann es nicht anders ausdrücken. Ratlos, weil man der Regierung unter Benjamin Netanjahu nicht vertrauen kann, ratlos, weil niemand weiß, wie man aus dieser furchtbaren Situation herauskommen kann. Es erscheint als ein Krieg ohne Ende.

Noch immer befinden sich mehr als 100 Geiseln in den Händen der Hamas. Wo liegt die Priorität der israelischen Regierung: Befreiung der Geiseln oder die Zerstörung der Terrororganisation?

Die Geiseln haben ganz klar nicht die höchste Priorität für die aktuelle Regierung. Sie wollen die Hamas zerstören, das ist das Ziel Nummer eins. Und mehr noch: Eigentlich möchte Netanjahu auch keinerlei Verhandlungen mit den Palästinensern. Diese Regierung will eher mit ihrer Siedlungspolitik weitermachen, als Geiseln zurückzuholen.

Weil in ihr zahlreiche Anhänger eines "Großisrael" vertreten sind, das weit über die Grenzen des heutigen Staates hinaus reichen würde? In Ihrem aktuellen Buch "Niemals Frieden? Israel am Scheideweg" schreiben Sie, dass die Ganz-Israel-Ideologie die gesamte israelische Gesellschaft in eine Art Geiselhaft nehme.

So ist es. Sie träumen von "Großisrael", auf Hebräisch "Eretz Israel HaSchlema" genannt, was so viel wie "Vollständiges Land Israel" bedeutet. Es kommt allerdings nicht überall in Israel gut an, dass die Befreiung der Geiseln eine sekundäre Rolle spielt. Kritik kommt von denjenigen Menschen, die ohnehin nichts von dieser Regierung halten, sowie anderen, für die menschliche Anteilnahme eine größere Rolle spielt als für den Großteil der Regierungsmitglieder. Daraus resultiert eine Situation, die geradezu absurd ist: Es ist eine parteipolitische Frage geworden, ob man sich um die israelischen Geiseln bemühen soll.

Moshe Zimmermann, 1943 in Jerusalem geboren, ist emeritierter Professor für Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Antisemitismus und Nationalismus sind die besonderen Forschungsfelder des Historikers. Zimmermann ist Autor zahlreicher Bücher, kürzlich erschien mit "Niemals Frieden? Israel am Scheideweg" ein Plädoyer für die Zweistaatenlösung.

Die Lagerbildung verläuft zwischen rechts und links?

Israels langsam verschwindende Linke steht voll und ganz hinter dem Ziel der Geiselbefreiung, die Rechte voll und ganz hinter Netanjahu. Wir haben eine Pattsituation, die israelische Gesellschaft ist gespalten. Je länger es dauert, desto schlimmer wird es. Insbesondere für die Geiseln in Gaza.

Nun droht trotz internationaler Kritik eine Großoffensive in Rafah im Süden des Gazastreifens, wo Hunderttausende Zivilisten Schutz suchen.

Netanjahu wird vor Rafah nicht haltmachen, die Attacke geht weiter, wenn er und seine Regierung es wollen. Das israelische Militär muss sich entsprechend fügen. Sie erhoffen sich in Rafah Jihia al-Sinwar, den Chef der Hamas-Militärorganisation, den sie als Symbol des Sieges verkaufen können.

Wie weit wird Netanjahu dabei gehen?

Er wird sehr, sehr weit gehen. Die Tatsache, dass noch mehr palästinensische Zivilisten getötet werden, aber auch israelische Soldaten, ist für diese Regierung ebenfalls zweitrangig.

Netanjahus eigentliches Kabinett setzt sich aus ultrarechten und tiefreligiösen Politikern zusammen. Doch nach dem Überfall der Hamas sind Vertreter der Opposition in die Regierung eingetreten, darunter der frühere Regierungschef Benny Gantz. Können sie einen mäßigenden Effekt ausüben?

Diese Leute sitzen dort nur, um ein bisschen aufzupassen – damit die Situation nicht vollends eskaliert. Aber gegen die rabiaten Rassisten in der Regierung haben sie keine Chance. Netanjahu und seine Koalition sind nicht besonders berührt vom Schicksal der Palästinenser in Gaza, weil sie diese Menschen insgesamt schon immer als Sympathisanten der Hamas betrachtet haben.

Auch die USA bemühen sich als engste Verbündete Israels um eine Mäßigung. Hat nicht einmal das einen Effekt?

Es gibt einen Effekt – und zwar einen Bumerangeffekt. Kritik aus dem Ausland bewirkt bei diesen Leuten in Israel nicht, dass sie konstruktiv über eben diese Kritik nachdenken. Nein, wenn das Ausland uns kritisiert, dann sind wir eben umso hartnäckiger! So denken diese Menschen. Für sie ist das Ausland ohnehin antisemitisch und Israel feindlich gesinnt.

Nun hat Israel mit den Vereinigten Staaten und Deutschland auch Freunde in der Welt.

Auch wohlmeinende Ratschläge prallen ab.

Wenn in Israel nun Wahlen abgehalten würden: Was wäre Ihre Prognose?

Die Mehrheit ist gegen diese Regierung – das legen Umfragen nahe. Bei Neuwahlen würde die derzeitige Koalition ihre Mehrheit in der Knesset verlieren. 64 von 120 Sitzen hat sie derzeit inne, danach wären es nicht viel mehr als 50. Das bedeutet aber nicht, dass eine rechte, also nationalistische, Mehrheit im Parlament gefährdet ist.

Netanjahu ist das Stehaufmännchen der israelischen Politik. Wäre er imstande, mit Versprechungen erneut ein Bündnis zu schmieden?

Er musste sich im Laufe der Jahre immer radikalere Partner suchen, weil die weniger Radikalen ihn wegen seiner juristischen Probleme zunächst nicht mehr als Regierungschef haben wollten. Vor Prozess und Urteil will er sich aber drücken; dafür ist er bereit, mit dem Teufel zu paktieren.

Wären nach einem Regierungswechsel grundlegende Änderungen der israelischen Politik denkbar?

Im Grunde schon. Wobei das politische Farbenspiel in Israel anders ist als in Deutschland. Blau-Weiss, die Partei des erwähnten Benny Gantz, gilt als Partei der Mitte. Bei näherer Betrachtung der Strukturen ist Blau-Weiss viel weiter rechts als links ausgerichtet. Und weitere zwei Parteien in der jetzigen Opposition sind eindeutig als rechtsnationalistisch zu bezeichnen.

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Der Terrorattacke der Hamas im letzten Oktober ereignete sich während einer schweren innenpolitischen Krise in Israel: Über Monate demonstrierten Zigtausende Menschen gegen die sogenannte Justizreform der Regierung Netanjahu.

Die Regierung wollte die israelische Demokratie aushebeln, sie versuchte, die Gewaltenteilung abzuschaffen. Die Justiz wäre praktisch neutralisiert worden, schlimmer noch, instrumentalisiert für die Zwecke der Regierung. Es ging ums Ganze, um die Seele der Demokratie, deswegen sind auch so viele Menschen in Israel auf die Straße gegangen.

Herrscht nun angesichts der äußeren Bedrohung Israels eine Art Burgfrieden im Inneren?

Unter der Oberfläche brodelt es weiter, irgendwann kommt es zur Eruption. Dieser Krieg dauert nun rund fünf Monate, Israel ist es nicht gewohnt, so lange Krieg zu führen. Der Sechstagekrieg von 1967 dauerte im Prinzip nur fünf Tage, der Jom-Kippur-Krieg sechs Jahre später etwas mehr als zwei Wochen. Von einem Burgfrieden kann gegenwärtig keine Rede sein: Die Teilnehmer der Demonstrationen gegen die Regierung sind nur eben verantwortungsvolle Staatsbürger, die ihre Pflicht gegenüber ihrem Land erfüllen nach der Attacke der Hamas, und sich deshalb zurückhalten.

Was wird passieren, wenn die schon bestehenden gesellschaftlichen Spaltungen vollends aufreißen?

Schon im letzten Oktober glaubten viele, dass nun die Stunde der Entscheidung gekommen sei. Selbst ein Netanjahu müsste einsehen, dass er überzogen hatte. Doch mit schier unglaublicher Hartnäckigkeit blieb er auf seinem Posten – und dachte nicht einmal an Rücktritt. Selbst das furchtbare Versagen angesichts des Terrorangriffs der Hamas hat Netanjahu politisch ausgesessen, nun lenkt der Krieg in Gaza von seinen Fehlern der Vergangenheit ab.

Welche sind das?

Die Hamas wusste, wie schwach das israelische Militär an der Grenze zu Gaza war. Der Großteil der Soldaten stand nicht dort, sondern im Westjordanland: Gemäß der ultrarechten Politik schützten sie dort die jüdischen Siedler anstelle der Menschen im Kernland Israels. Die Terroristen hatten sich auch in jahrelanger Arbeit gründlich vorbereitet, das Tunnelsystem kommt ja nicht von ungefähr.

Anders als von der Hamas erhofft, blieb der Krieg bislang regional begrenzt und weitete sich nicht zum Zwei-Fronten-Krieg mit der Hisbollah im Libanon aus. Woran liegt das?

Die Amerikaner haben gut aufgepasst – und allen weiteren Akteuren signalisiert, dass es besser wäre, sich nicht zu weiteren Provokationen hinreißen zu lassen. Damit waren der Iran und die von den Mullahs protegierte Hisbollah zunächst abgeschreckt. Aber auch auf eine Meuterei der Palästinenser im Westjordanland hatte die Hamas gehofft. Bislang vergeblich. Das könnte sich aber in den Ramadan-Wochen ändern.

Nun herrscht Krieg im Nahen Osten. Schon wieder. Hegen Sie noch Hoffnung auf einen zukünftigen Frieden?

Friede zwischen Israel und den Palästinensern ist sehr wohl möglich. Aber in der derzeitigen Konstellation ist es überaus kompliziert. Betrachten wir die Situation: Die Hamas ist kein Partner für Friedensverhandlungen, weil sie keinen Frieden will. Aber auch die Autonomiebehörde ist nicht in der Lage, die Rolle des Partners zu übernehmen. Die Regierung Netanjahu ist ebenfalls kein solcher Partner für Gespräche, weil auch sie keinen Frieden anstrebt. Dafür hat sie auch viel getan.

Bitte erklären Sie.

Der israelischen Regierung war die Herrschaft der Hamas über Gaza ganz recht. So konnte sie die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland schwächen und praktisch ausschalten. Deswegen hat die Regierung auch zugelassen, dass die Hamas Gelder erhielt und sich weiter etablieren konnte. Erst nach der Katastrophe vom Oktober 2023 war damit Schluss.

Die Lage, die Sie schildern, ist verfahren. Wer könnte denn überhaupt miteinander über einen Frieden reden?

Es gibt andere Palästinenser als die Hamas: die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland.

Moment! Gerade haben Sie gesagt, dass die Autonomiebehörde als Partner für Gespräche über Frieden nicht infrage kommt. Mit Mahmoud Abbas an der Spitze gilt sie als ebenso korrupt wie inkompetent.

Abbas ist schwach und alt, seine Entourage zu korrupt, ja. Israel hat zudem auch alles dafür getan, die Autonomiebehörde zu schwächen, ich habe es schon erwähnt. Die Autonomiebehörde braucht schlicht und einfach neue Männer, Köpfe, die einen dauerhaften Frieden ermöglichen könnten. Der Name Marwan Barghuti fällt mir dabei ein.

Barghuti sitzt lebenslänglich in einem israelischen Gefängnis ein.

So ist es. Aber "lebenslänglich" muss nicht zwangsläufig "lebenslänglich" bedeuten, wenn eine andere Regierung in Israel an die Macht kommen wird. Es braucht neue Politiker, die für den Frieden einstehen. Barghuti wäre ein Kandidat. Zumal er und eine andere israelische Regierung nicht bei null anfangen müssten.

Sie spielen auf die Ergebnisse des Oslo-Friedensprozesses seit 1993 an?

1993 hat die PLO das Existenzrecht Israels anerkannt, das war ein großer Schritt. Wir könnten auch so viel weiter sein mit der Zweistaatenlösung. Aber nach der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin 1995 wurden so viele Chancen vertan. Es braucht nun Wahlen, andere Politiker müssen regieren, Leute, die mehr die Zukunft als die Vergangenheit im Blick haben. Das gilt für Israel ebenso wie für die Palästinenser.

Jede israelische Regierung, die einen Frieden mit den Palästinensern aushandeln will, wird auf größten Widerstand der rund 700.000 Siedler im Westjordanland stoßen. Was tun?

Die Siedlerbewegung ist heute überaus stark, noch viel stärker als bei der Räumung des Gazastreifens 2005. Diese Leute werden nicht freiwillig gehen. Deswegen habe ich einen anderen Vorschlag: Die jüdischen Siedler verbleiben nach Etablierung eines palästinensischen Staates im Land und bilden dort eine nationale Minderheit. Wie es zahlreiche europäische Staaten vormachen.

Dieser Vorschlag dürfte weder bei den jüdischen Siedlern noch bei den Palästinensern auf Zustimmung stoßen.

Es braucht den Mut zur Veränderung und auch bestimmte Anreize. In Israel leben zahlreiche Araber als israelische Staatsbürger, warum sollten Juden nicht auf die gleiche Weise in einem palästinensischen Staat leben können? Die derzeitige Regierung Israels und die Siedlerbewegung werfen den Palästinensern stets vor, dass diese das Land "judenrein" machen wollten. Damit ist die Diskussion dann schnell bei den Nationalsozialisten angelangt. Das ist für diese Leute bequem, aber es verändert nichts.

Herrscht nicht doch noch zu viel Hass?

Es bedarf klarer Regeln und Maximen und deren Durchsetzung, selbstverständlich. Obendrein sind längst nicht alle Siedler im Westjordanland Fanatiker. Manche leben dort aus Bequemlichkeit, das Leben dort ist vorteilhaft, zumal die Palästinenser billige Arbeitskräfte darstellen. Außerdem lässt der Hass nach, wenn man die richtigen Schritte geht. Deutsche und Franzosen waren über Jahrzehnte Erzfeinde, führten verlustreiche Kriege gegeneinander – doch heute herrscht Frieden. Warum sollte das nicht auch im Nahen Osten möglich sein? Ein Scheitern könnte katastrophale Auswirkungen haben.

Wie katastrophal?

Wenn man in diesen Frontlinien verharrt und der Konflikt noch weiter eskaliert, kann es schlimm werden. Ich denke unter anderem an die vom Iran gesteuerte Hisbollah im Libanon mit ihren Hunderttausenden auf Israel ausgerichteten Raketen. Niemand darf vergessen, dass Israel die Atombombe besitzt. Es könnte bei einem Angriff zu einer extremen Reaktion kommen, ein Atomkrieg ist nicht auszuschließen.

Am Ende bleiben Sie aber hoffnungsvoll für eine Verständigung?

In den Neunzigerjahren war der Friede greifbar, doch die Gelegenheit verstrich ungenutzt. Wie viele Menschen haben deswegen ihr Leben verloren, führen eine Existenz unter weit schlechteren Bedingungen, als es sein müsste? Wenn wir jetzt wieder scheitern, muss eine weitere Generation dafür büßen. Meine einzige Hoffnung ist, dass man begreift, wie katastrophal die Alternative zum Frieden sein wird.

Professor Zimmermann, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Moshe Zimmermann via Videokonferenz
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