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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte Herfried Münkler "Dann könnte es erst richtig brenzlig werden"
Die Ukraine ist in der Offensive, die Wagner-Söldner meuterten: Kurzzeitig schien sich die Lage gegen Wladimir Putin zu wenden. Doch der Kremlchef hat Nuklearwaffen in der Hinterhand. Was daraus folgt, erklärt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Interview.
Die Hoffnung vieler Deutscher war groß: Der Westen liefert der Ukraine schwere Waffen, darunter den als nahezu unbesiegbar verklärten Leopard-2-Panzer, dann könne die ukrainische Armee die russische Front aufrollen. Doch nun kommt Kiews Gegenoffensive bestenfalls stockend voran, und Russlands Diktator Putin sitzt nach der Revolte der Wagner-Söldner immer noch im Kreml. Ein schnelles Ende des Ukraine-Konfliktes ist nicht in Sicht, dementsprechend breitet sich bei vielen Beobachtern hierzulande Enttäuschung aus.
Herfried Münkler, einer der angesehensten deutschen Politikwissenschaftler, warnt im t-online-Interview vor überzogenen Erwartungen. Im Gespräch erklärt er, warum die Schlachten in der Ukraine derzeit dem Ersten Weltkrieg ähneln, warum Putins mögliche Nachfolger noch radikaler sein könnten und warum Europa dringend eine Strategie gegen die atomare Bedrohung aus Russland entwickeln sollte.
t-online: Professor Münkler, sehen Sie nach dem Putschversuch von Söldnerchef Prigoschin Anzeichen dafür, dass Putins Herrschaft erodiert?
Herfried Münkler: Noch hat Putin die Macht im Griff, aber weitere Niederlagen in der Ukraine könnten riskant für ihn werden.
Nun haben die Ukrainer bei ihrer Offensive gar nicht alle Soldaten und Waffen eingesetzt. Der Westen erwartet nach seinen Waffenlieferungen jedoch ukrainische Erfolge.
Die deutschen Erwartungen an die Ukraine sind überzogen. Das begann schon mit der Farce Anfang vergangenen Jahres, als die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht der ukrainischen Armee 5.000 Helme anbot. Das erzeugte die irrige Vorstellung, dass die militärisch weitaus effektivere Lieferung von Kampfpanzern quasi automatisch zum Zusammenbruch der russischen Front führen würde. Diese Vorstellung war und ist absurd. Leider hat man in Deutschland immer noch ein verzerrtes Bild der Lage in der Ukraine.
Die Ukrainer mussten lange warten, bis sich die Bundesregierung zur Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern durchrang.
Ein folgenschwerer Fehler. Im Herbst vergangenen Jahres hätte der Einsatz von Leopard-Panzern den Russen stark zugesetzt und wahrscheinlich einen weitaus größeren Effekt gehabt als jetzt. Stattdessen kommt nun Monate später, wo die ukrainische Armee endlich mit Leopard-Panzern angreifen kann, in Deutschland Frustration auf. Denn im direkten Vergleich mit russischen Panzermodellen erweist sich der Leopard 2 zwar als überlegen, eine "Wunderwaffe" ist er aber ganz sicher nicht. Es gibt entsprechende Verluste, mehrere Leoparden sind in russischen Minenfeldern zerstört worden.
Herfried Münkler, Jahrgang 1951, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018 Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der vielfach ausgezeichnete Politologe ist Autor zahlreicher Bücher, darunter "Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch" von 2021. Im Herbst erscheint "Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert".
Was folgt daraus für den Kriegsverlauf?
Die Ukrainer müssen jetzt sehr, sehr vorsichtig sein. Sie dürfen sich keinen Fehler erlauben. Denn sie haben nicht nur eine relativ überschaubare Anzahl an westlichen Waffensystemen, sondern verfügen zudem lediglich über eine begrenzte Zahl an Soldaten. Die Russen haben in der Tiefe ihrer Reserven viel mehr Soldaten, was ihnen im Verlauf eines auf lange Zeit angelegten Erschöpfungskriegs unausgleichbare Vorteile verschafft. Selbst dann, wenn Putin auf eine Generalmobilmachung weiterhin verzichtet.
Rechnen Sie damit, dass es zu der Generalmobilmachung noch kommt?
Diesen Schritt scheut Putin, denn er würde die Stimmungslage in Russland zu seinem Nachteil verändern. Vor allem die jungen Männer aus der Mittelschicht dürften wenig erfreut sein über eine Einberufung. Sie müssten davon ausgehen, dass die im russischen Militär verbreiteten Quälereien und Demütigungen für sie schon auf dem Exerzierplatz beginnen.
Falls Putins Regime tatsächlich irgendwann zusammenbrechen sollte, bestünde dann die Chance für eine Demokratisierung Russlands?
Wo sollte die denn herkommen? Schauen Sie nur mal, was es dafür bräuchte: einen funktionierenden Rechtsstaat, eine lebendige Zivilgesellschaft und eine alternative politische Klasse, eine am Prozess des politischen Beratschlagens interessierte Bevölkerung. All das gibt es in Russland nicht.
Mit Alexei Nawalny sitzt die bekannteste politische Alternative im Straflager.
Seine harten Haftbedingungen sind eine tägliche Warnung an alle Unzufriedenen in Russland: Wage dich nicht zu weit vor, sonst ergeht es dir ebenso! Selbstverständlich ist es denkbar, dass Leute aus dem Militär oder dem Geheimdienst Putin absetzen oder ihn aus dem Weg schaffen. Dann würde aber lediglich die Person an der Spitze ausgewechselt. Ein Regimewechsel wäre das noch lange nicht. Der hierzulande verbreitete Wunschglaube "Wenn nur der Putin weg wäre, wird alles wieder gut" ist grundfalsch. Im Gegenteil: Dann könnte es erst richtig brenzlig werden. Denn ein Nachfolger Putins, sei es Dimitri Medwedew oder wer auch immer, stünde unter einem massiven Druck, sich erst einmal als "harter Hund" zu beweisen.
Also können wir in gewisser Weise froh sein, wenn sich Putin halten kann?
Nach meinem Dafürhalten ist die Chance für einen Waffenstillstand mit Putin jedenfalls größer als mit jemandem, der aus der zweiten Reihe auf seinen Platz nachrückt. Vieles spricht dafür, dass diese Leute unangenehmer wären. Das hätte im Übrigen auch für Prigoschin gegolten.
Wie kann der Ukraine-Konflikt überhaupt noch enden?
Die Erwartungshaltung, dass die Ukrainer mit ihrer Offensive schnell zum Asowschen Meer durchstoßen können und dabei die russische Front aufspalten, war und ist utopisch. Derartige Hoffnungen erinnern an die Anfangsphase des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 mit den großen Kesselschlachten. Tatsächlich bietet sich in der aktuellen Situation viel eher der Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg an: Wir sehen wie damals de facto einen furchtbaren Stellungskrieg, in dem beide, um ein paar Quadratkilometer ringende Seiten ausgeblutet werden.
Damals wollte keine Seite nachgeben, weil man schon so hohe Opfer gebracht hatte. Also ging der Krieg noch jahrelang weiter.
Putin und Selenskyj haben das gleiche Problem: So viel Blut wurde bereits zur Erreichung ihrer Ziele vergossen – wie können sie dann Verhandlungen rechtfertigen, wenn der Sieg noch nicht errungen ist? Donald Trump hat getönt, dass er den Krieg binnen 24 Stunden beenden könne, Alice Schwarzer hat ähnliche Vorstellungen. In der Realität gestaltet sich so etwas allerdings weit schwieriger. Das haben Leute wie Trump und Schwarzer nicht begriffen. Sie haben überhaupt diesen Krieg in seiner Dynamik und seinen Folgen nicht begriffen.
Man könnte doch aber aus der Geschichte lernen.
Aus der Geschichte lässt sich eine Menge lernen, es gibt nur keine Garantie dafür, dass die Menschen das auch tun und dass sie dabei auch das Richtige lernen. Im Gegenteil: Sehr oft werden falsche Schlüsse aus der Geschichte gezogen.
Eine Lehre aus der Geschichte wäre die Tatsache, dass Appeasement gegen aggressive Diktatoren nicht funktioniert. Putin droht uns immer wieder mit seinen Atomwaffen. Was wäre eine geschichtsbewusste Antwort darauf?
Die größte Herausforderung ist, dass Putin die russische Nuklearstrategie dramatisch verändert hat. Im Kalten Krieg waren Atomwaffen "politische Waffen", die sicherstellen sollten, dass die konventionellen Streitkräfte der beiden Machtblöcke nicht aneinandergerieten. Die Eskalationsspirale wäre unbeherrschbar gewesen und aus der Konfrontation konventioneller Kräfte wäre mit großer Wahrscheinlichkeit eine nukleare Konfrontation geworden. Um das zu verhindern, durfte man keine konventionelle Konfrontation riskieren. Nuklearwaffen verhinderten den konventionellen Krieg der Blöcke. Mit der wiederkehrenden Drohung nuklearer Eskalation will Putin nun dagegen den Gebrauch seiner konventionellen Waffen optimieren, weil die Drohung die USA und die Europäer davon abhalten soll, die Ukraine massiv zu unterstützen. Das ist eine grundlegend andere Situation, auf die der Westen eine Antwort finden muss, wenn er nicht in eine Erpressungsschleife hineingeraten will.
Die Logik atomarer Abschreckung ist damit auf den Kopf gestellt.
Wir sollten dringend eine Antwort finden, wie wir auf derartige Drohungen reagieren. Bislang kamen sie nur von Leuten aus Putins Entourage, mittlerweile droht Putin aber selbst mit Atomwaffen. Deutschland befindet sich in der unangenehmen Situation, dass wir auf der einen Seite von den Russen bedrängt werden und wir dadurch auf der anderen Seite noch viel mehr in die Abhängigkeit von den Amerikanern geraten, die ihren atomaren Schild über uns halten.
Halten Sie gemeinsame Atomwaffen der EU-Staaten in Zukunft für möglich?
Ausgeschlossen ist das nicht. Es müsste aber tatsächlich eine europäische Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung sein – nicht nur französische Atomwaffen, die weiter allein unter Pariser Kontrolle stehen.
Wäre die Bundespolitik überhaupt in der Lage, die deutsche Bevölkerung von der Notwendigkeit eigener Atomwaffen zu überzeugen?
Es kommt auf die Argumentation an. Während des Kalten Krieges waren Hunderttausende US-Soldaten in Westdeutschland stationiert, die so etwas wie die Geiseln Europas für die Glaubwürdigkeit der US-amerikanischen Abschreckung waren. Ein atomarer Angriff auf Europa hätte einen amerikanischen Gegenschlag ausgelöst. Diese Lebensversicherung haben Deutschland und Europa nach dem Abzug der Amerikaner verloren.
Nun hat die Ampelkoalition eine Nationale Sicherheitsstrategie veröffentlicht. Kann die helfen?
Diese Nationale Sicherheitsstrategie ist eher eine Bestandsaufnahme dessen, was die Bundesrepublik leisten kann – und was sie nicht zu leisten imstande ist.
Sie wirken unbeeindruckt.
Deutschland betreibt eine Politik des Mittelwegs, Bundeskanzler Olaf Scholz ist das beste Beispiel dafür. Ob dies aber den gegenwärtigen Umständen angemessen ist? Im 19. Jahrhundert hat der Dichter Friedrich von Logau den Satz geprägt: "In Gefahr und höchster Noth bringt der Mittelweg den Tod". Er gilt in bestimmten Konstellationen bis heute: Wir können uns unsere unentschlossene Haltung immer weniger leisten. Für mutige, vielleicht sogar visionäre Entscheidungen bräuchte es allerdings einen anderen Typ von Politiker als den derzeit vorherrschenden.
Warum gibt es den hierzulande nicht mehr?
Die Parteien, jedenfalls die großen, bringen Politikerinnen und Politiker hervor, deren Stärke die Beobachtung und das auf kurze Sicht angelegte Taktieren ist: Sie haben genau im Blick, welche Positionen innerhalb von Partei und Gesellschaft existieren, und dann schließen sie dementsprechend Kompromisse, die den Querschnitt der Meinungen und Interessen aller Beteiligten widerspiegeln. In einer konsensorientierten Demokratie ist das der Königsweg zur Macht. In krisenhaften Zeiten dagegen wirkt sich das lähmend aus, und in Konflikten mit zynischen Regimes wirkt es häufig als eine Politik der Schwäche.
Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik auch Beispiele für Politiker, die in Krisensituationen schnell und entschlossen handelten. Kanzler Helmut Schmidt zum Beispiel.
Ja, Schmidt hat dabei unkonventionell gehandelt. Als Hamburger Innensenator zog er während der Sturmflut 1962 Kompetenzen an sich und dehnte die verfassungsmäßige Beschränkung seiner Macht stark aus. Letzteres kann man durchaus kritisieren. Aber es war ein effektives Agieren im Angesicht der Katastrophe.
Ist die Zeit des konsensorientierten Führens ohnehin längst obsolet geworden? Die osteuropäischen Nato-Verbündeten fordern von Deutschland schon lange mehr Führung.
Deutschlands zögerliche Führung hatte lange Zeit ihre Berechtigung – insbesondere im Rahmen der Europäischen Union, in der die Zentrifugalkräfte groß sind. Hätten die deutschen Regierungen nicht diese zurückhaltende Rolle gespielt, wäre die EU vielleicht schon zerfallen. Jetzt braucht es aber tatsächlich eine Führung von vorn.
Trauen Sie so eine mutige Führung dem Kanzler und den Ministern der Ampelregierung zu?
Sie müssen sie lernen. Die Zeit drängt. Falls Donald Trump Ende nächsten Jahres wieder ins Weiße Haus einzieht, würde er wohl schnell erklären, dass der russische Krieg gegen die Ukraine nicht das Problem der USA sei. Dann stünden wir in Europa mit dem Problem allein da.
Professor Münkler, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Herfried Münkler via Videokonferenz