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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Johnsons Brexit-Debakel Jetzt droht ein Handelskrieg
Die britische Regierung droht der Europäischen Union mit einem Vertragsbruch. Wenn Großbritannien das Nordirland-Protokoll einseitig aufkündigt, hätte das massive Folgen für Europa.
Der Brexit-Streit ist zurück: Nach dem jahrelangen Konflikt zwischen der Europäischen Union und Großbritannien hatte kaum jemand in Europa noch wirklich Lust, über den britischen EU-Austritt zu sprechen. Eigentlich wollte auch der britische Premierminister den Brexit längst abgeschlossen haben ("get it done"). Aber die Probleme für die Briten nehmen kein Ende – und die Fehler von Boris Johnson werden immer sichtbarer.
Während der russische Angriffskrieg in der Ukraine die Welt in Atem hält, geht es nun also doch wieder um den Brexit. Die britische Regierung hat am Dienstag damit gedroht, das Nordirland-Protokoll einseitig aufzukündigen. Das wäre nicht nur ein Bruch des Brexit-Vertrages, den Johnson persönlich unterschrieben hat. Der Schaden für die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU wäre auch immens. Darüber hinaus könnte die Lage in Nordirland erneut eskalieren.
Problem: Das gescheiterte Nordirland-Protokoll
Der Konflikt ist nicht neu, London und Brüssel haben schon bei den Verhandlungen über einen Brexit-Deal 2020 erbittert in der Nordirland-Frage gestritten. Johnson wollte vor allem aus innenpolitischen Gründen eine Lösung: Man einigte sich auf das Nordirland-Protokoll.
Das Ziel des Protokolls zwischen der EU und Großbritannien war, eine harte EU-Außengrenze auf der irischen Insel zu vermeiden und damit auch den Frieden in Nordirland zu wahren.
Es funktioniert so: Nordirland gehört zu Großbritannien, aber seit dem Brexit wird der Warenverkehr zwischen dem restlichen Königreich und Nordirland so abgewickelt, als ob die britische Provinz noch zum EU-Binnenmarkt gehören würde. Durch das Nordirland-Protokoll entstand eine Regulierungs- und Zollgrenze in der Irischen See – mit Folgen für die britische Wirtschaft.
Waren, die von Großbritannien nach Nordirland sollen, müssen durch den Zoll – der Aufwand ist für viele britischen Unternehmen mittlerweile zu groß geworden. Laut dem Verband "Manufacturing NI", der in Nordirland rund 5.500 Herstellerfirmen vertritt, hatte schon im Jahr 2021 jedes vierte britische Unternehmen beschlossen, Nordirland nicht mehr zu beliefern.
Nordirische Unternehmen bekommen deshalb oft keinen Nachschub mehr aus dem Königreich oder müssen für diesen teuer bezahlen. Während der Handel mit dem Königreich zurückgeht, boomt dagegen der Warenaustausch mit Irland, da Nordirland darüber freien Zugang zum EU-Binnenmarkt hat.
Warum eskaliert der Konflikt gerade jetzt?
Natürlich bringt das Nordirland-Protokoll zahlreiche praktische Probleme mit sich. In der britischen Politik wird gerne das Beispiel der Sandwiches benutzt, für die Supermarktketten den gleichen endlosen Papierkrieg betreiben müssen, als wenn sie die Waren außerhalb des Königreichs verkaufen wollten. Aber die wirtschaftlichen Implikationen sind nur die Spitze des Eisbergs.
Es dürfte viel schwieriger werden, für die ideologischen Fragen eine Lösung zu finden. Boris Johnson warb für den Brexit und versprach der britischen Bevölkerung mehr Wohlstand und politische Autonomie. Inzwischen wird aber immer mehr Menschen bewusst: Wirtschaftlich ist der Brexit kein Erfolgsmodell.
Der EU-Austritt werde das britische Bruttoinlandsprodukt (BIP) langfristig um etwa vier Prozent verringern, sagte Richard Hughes, Chef der britischen Aufsichtsbehörde Office for Budget Responsibility (OBR), im Oktober 2021 der BBC. Zum Vergleich: Durch die Pandemie soll das britische BIP um zwei Prozent gesunken sein.
Auch die britische Bevölkerung hat mittlerweile eine deutlich kritischere Sicht auf den Brexit: Laut einer Umfrage der britischen Zeitung "Observer" sehen mehr als 60 Prozent der britischen Wähler den Brexit negativ. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts "Opinium" ergab, dass 42 Prozent der Briten, die 2016 für den EU-Austritt gestimmt hatten, eine negative Meinung zum bisherigen Verlauf des Brexits haben. Kein gutes Zeugnis für Boris Johnson.
DUP verliert Wahl in Nordirland
Zwar schloss Großbritannien bilaterale Handelsverträge ab, aber mit Staaten wie Australien kann die britische Wirtschaft den Rückgang des Warenaustausches mit der EU nicht ausgleichen. Deshalb möchte die britische Regierung jetzt vor allem ein Ziel des Brexits schützen: die politische Eigenständigkeit.
Aber auch in Nordirland sorgt das Abkommen zwischen Brüssel und London für eine zunehmende Polarisierung. Anfang Mai haben die Nordirinnen und Nordiren ein neues Parlament gewählt, mit einer dramatischen Niederlage für die unionistisch-protestantische DUP, die für eine stärkere Einheit mit Großbritannien steht. Die DUP verlor knapp sieben Prozent, während die irisch-republikanische Sinn Féin mit Abstand stärkste Kraft im Land wurde.
Im Angesicht ihres Machtverlusts und einer unzufriedenen Wählerschaft verweigert die DUP eine Mitarbeit in der Regierung, doch laut dem Karfreitagsabkommen von 1998 müssen beide Seiten – die irisch-republikanische und die unionistische – in der politischen Führung Nordirlands vertreten sein.
Weil extremere unionistische Kräfte Stimmen gewonnen haben, wird auch die DUP nach der Wahl radikaler und knüpft Zugeständnisse an die Aufhebung des Nordirland-Protokolls. Ein Dilemma, für das es keine einfache Lösung gibt.
In einigen Fragen sind Großbritannien und die EU weit auseinander
London und Brüssel sind sich darüber im Klaren, dass es um Frieden in Nordirland geht, doch beide Seiten werfen sich gegenseitig Inflexibilität vor. Monatelange Verhandlungen hatten keinen Erfolg, deshalb eskaliert nun die britische Regierung.
Johnson droht damit, Teile des Nordirland-Protokolls einseitig aufzuheben. Die britische Außenministerin Liz Truss sagte im Londoner Parlament am Dienstag, "in den kommenden Wochen" wolle die Regierung ein Gesetz verabschieden, das die Änderung des Nordirland-Protokolls ermöglichen würde. "Präferenz" bleibe für London aber "eine Verhandlungslösung mit der EU".
Die Folge könnte nach Einschätzung von Diplomaten ein Handelskrieg mitten im Ukraine-Krieg sein. Die EU-Kommission verurteilte die Pläne Londons umgehend: Brüssel werde im Falle einer Änderung des Protokolls durch London "mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen reagieren müssen", erklärte Kommissionsvizepräsident Maroš Šefčovič. "Einseitige Maßnahmen, die einem internationalen Abkommen widersprechen, sind nicht akzeptabel."
Aber wie weit sind London und Brüssel politisch auseinander? Ein Überblick über die Positionen:
- Die britische Regierung fordert die Aufhebung der Zollkontrollen für die Waren, die nur für Nordirland bestimmt sind. Auch die EU möchte Zollkontrollen für nordirische Waren nur stichprobenartig durchführen. Chance auf Einigung: gut. Beide Seiten sind nicht weit voneinander entfernt, Brüssel wird aber grundsätzlich auf Kontrollen bestehen, um den eigenen Binnenmarkt zu schützen. Wahrscheinlich ist eine Lösung, in der es zwei Zollspuren gibt – eine für Waren nach Nordirland, eine für Waren in die EU.
- Johnson möchte, dass Steuervorteile, die das Königreich beschließt, auch in Nordirland angewendet werden dürfen. Chance auf Einigung: nicht gut. Für die EU ist das schwierig, weil man den eigenen Binnenmarkt schützen muss. Nordirland könnte so zur Steueroase werden, was EU-Unternehmen mit der offenen Grenze Wettbewerbsnachteile bringen würde.
- Beide Seiten haben vorgeschlagen, die Bürokratie beim Warenhandel zu vereinfachen. Brüssel hat das bereits im Oktober 2021 vorgeschlagen.
- Die EU möchte durch die enge Bindung Nordirlands an den eigenen Binnenmarkt die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes in Streitfragen nicht aufgeben. Großbritannien möchte ein internationales Schiedsgericht nach dem Vorbild der Schweiz.
Letztlich wissen beide Seiten, dass es einen Kompromiss geben muss. Doch Großbritanniens Drohung verhärtet die Fronten. Das kritisierte auch die irische Regierung. Außenminister Simon Coveney sagte, das Vorgehen der Regierung von Premierminister Boris Johnson sei "vertrauensschädigend" und erschwere eine einvernehmliche Lösung.
Was passiert, wenn Johnson seine Drohung wahr macht?
Es ist davon auszugehen, dass die britische Regierung mit ihrem Vorstoß zunächst einmal den Druck auf die EU und die Verhandlungsintensität erhöhen möchte. Vor allem die britische Seite will eine schnelle Lösung, nachdem viele Monate Stillstand geherrscht hatte.
Die Folgen einer einseitigen Kündigung des Nordirland-Protokolls durch Großbritannien wären schwerwiegend:
- Boris Johnson hat den Brexit-Deal selbst ausgehandelt und ihn als "gute Vereinbarung" verkauft. Nach dem umstrittenen Binnenmarktgesetz ist es das zweite Mal, dass der Premier damit droht, das Abkommen mit der EU teilweise auszuhebeln. Das kostet Vertrauen, britische Reputation und ist keine gute politische Basis für Zusammenarbeit.
- Die EU würde mit eigenen Maßnahmen reagieren, um ihren Binnenmarkt zu schützen. Es droht ein Handelskonflikt und eine harte EU-Außengrenze auf der irischen Insel, die beide Seiten eigentlich um jeden Preis verhindern wollen.
- Das hätte Folgen für den Handel aller EU-Staaten mit Großbritannien. Im Königreich könnte es wieder zu Warenengpässen und langen LKW-Schlangen vor der Grenze kommen.
- Der Nordirland-Konflikt könnte sich noch weiter aufheizen, weil allein 30 Prozent der irischen Bevölkerung Sinn Féin wählten, die sich bei der ersatzlosen Aufhebung des Nordirland-Protokolls betrogen fühlen würden.
Die Europäische Union wird versuchen, sich nicht von der britischen Regierung oder DUP in Nordirland erpressen zu lassen. Aber eine weitere Eskalation möchte sich eigentlich keine Seite leisten, zumal der Ukraine-Konflikt zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen EU und Großbritannien ist.
Ein Kompromiss könnte jedoch scheitern, wenn die ideologischen Konflikte die Suche nach praktischen Lösungen überlagern. Es ist ein neues, gefährliches Kapitel im langen Brexit-Drama, in dem London und Brüssel verhindern müssen, dass ein Pulverfass in Europa entsteht. Das erfordert zuallererst: Aufmerksamkeit.
- Gespräche mit europäischen Diplomaten
- Tagesschau: Der Brexit hat einen hohen Preis
- Süddeutsche Zeitung: London droht der EU mit Bruch des Brexit-Vertrags
- Handelsblatt: Mehrheit der Briten bewertet Brexit mittlerweile negativ
- Tagesschau: Brexit-Folgen schlimmer als Pandemie
- Die Zeit: Zweispurig zum Frieden
- Mit Material der Nachrichtenagentur afp