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Frankreich-Wahlen: Paris und der Rest – ein gespaltenes Land


Frankreich-Wahl
Die Republik droht auseinanderzubrechen

MeinungVon Kay Walter

Aktualisiert am 06.07.2024Lesedauer: 6 Min.
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Anti-Rechts-Proteste in Frankreich (Symbolbild): Bei den Parlamentswahlen könnte die Partei von Marine Le Pen eine absolute Mehrheit einfahren.Vergrößern des Bildes
Anti-Rechts-Proteste in Frankreich (Symbolbild): Bei den Parlamentswahlen könnte die Partei von Marine Le Pen eine absolute Mehrheit einfahren. (Quelle: IMAGO/Ait Adjedjou Karim/ABACA/imago)

Frankreichs politisches System wird bei den anstehenden Wahlen erschüttert. Das liegt auch daran, dass ein Grundversprechen der Franzosen zu oft nicht eingelöst wird.

Jedes Rathaus-Portal und jede Schule in Frankreich präsentiert stolz die Revolutionsparole Liberté, Égalité, Fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – in Großbuchstaben über dem Eingang. Die Parole von Robespierre hat Verfassungsrang, ist der in drei Worte gegossene Inbegriff des Selbstverständnisses aller Franzosen. Frankreich als Land von Humanismus und zivilisatorischem Fortschritt. Und ganz besonders von Gleichheit. Schön wär's.

Gleichheit wird zwar andauernd postuliert, aber nicht gelebt. Die Lebensbedingungen auf dem Land sind in jeder Hinsicht fundamental andere als die in Paris. Frankreich ist nicht Paris – und Paris ist nicht Frankreich. Denn Karriere kann man nur und ausschließlich in der Hauptstadt machen, ob das gelingt, wird bereits in der Jugend entschieden.

Wer keine grande école (eine spezielle Hochschule) abschließt, wird keine Karriere machen. Ein anderer Weg ist weder vorgesehen noch möglich. Auf dem Land zu leben, ist nicht immer die individuell freie Wahl.

Jeder Franzose und jede Französin wird jederzeit unterschreiben, dass Paris die schönste Stadt der Welt ist. Mit Abstand und ohne jeden Zweifel. Nur leben will freiwillig niemand in Paris. Viel zu laut und zu dreckig, viel zu hektisch und viel zu teuer schon gar.

Auch die Pariser selbst sind im Rest des Landes ziemlich unbeliebt: zu arrogant und besserwisserisch, lautet das (allgemeine) Urteil. Viel wichtiger, im zentralistischen Staat kommt alles Böse aus der Hauptstadt. Ob höhere Steuern oder neue Regeln, ob steigende Sprit- und Energiepreise oder sinkende Kaufkraft: Schuld sind immer Paris, die Pariser – und der Präsident natürlich.

Gerade in den Dörfern sind die Nachteile eklatant

Wer kann, lebt auf dem Land, und zwar meistens gerne, ob in der Bretagne, dem Midi oder der Provence. Das Leben hat einen gemächlicheren Rhythmus, die Küche und der Wein sind besser und die Wohnungen größer. Als störend werden dort die meiste Zeit nur die schnöseligen Pariser in ihren Zweitwohnungen empfunden, die über alles bestimmen wollen und alles besser wissen. Und die sich die Nachteile des Landlebens problemlos leisten können.

Denn gerade in den Dörfern sind die bisweilen eklatant. Es gibt zwar noch im kleinsten Kaff einen Bürgermeister, aber schon lange nicht mehr zwingend einen Bäcker, Fleischer oder Apotheker, geschweige denn einen Arzt.

Selbst ins Bistro oder das früher allgegenwärtige PMU, ein Wettbüro, muss man bisweilen in den Nachbarort. Um zur Arbeit oder in den Supermarkt zu kommen, braucht man ein Auto – für jeden Erwachsenen in der Familie – und die Fahrt zum nächsten Krankenhaus oder Sozialamt kann schon mal eine Stunde dauern. Ebenso die zur weiterführenden Schule. Da ist nicht mehr viel Gleichheit.

Es gibt ein klares Oben und Unten

In seinem Wesenskern ist Frankreich tatsächlich bis heute eine ländlich-rural geprägte Klassengesellschaft. Der alte Verschwörungsmythos, 200 Familien beherrschten das Land seit Hunderten von Jahren, hat einen durchaus realen Kern, auch wenn die Zahl nicht stimmt. Kein Zufall, dass auch die Rechtsextremen die drastische Erhöhung des Spitzensteuersatzes fordern.

Es gibt ein klares Oben und Unten, eine streng hierarchische Trennlinie, die auch nicht überschritten werden kann. Und genau das tritt bei den häufig eruptiven Protesten zutage, sei es, wenn mehr als ein Drittel der Menschen rechtsextrem wählt, sei es, wenn die "Gelbwesten" wie vor fünf Jahren das halbe Land mit brennenden Barrikaden überziehen.

Da bricht sich dann, teils mit anarchischer Gewalt, die Vorstellung von "wir hier" und "ihr da" Bahn. Diese beruht darauf, dass es zwei geschiedene Welten gibt, die so gut wie nichts miteinander zu tun haben. Nur gilt nicht mehr, dass das Bürgertum rechts wählt und die Arbeiterschaft, wie zu guten Teilen auch die Bauern, links.

Sie haben sich vielmehr enttäuscht von Sozialisten und Kommunisten ab- und dem rechtsextremen Rassemblement National zugewendet. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass viele Franzosen nicht das Gefühl haben, egalitär im Sinne von gleichwertig behandelt zu werden.

Enttäuschte Hoffnungen

Die 35-Stunden-Woche wurde unter dem Sozialisten Lionel Jospin in der cohabitation – also wenn der Staatspräsident und die stärkste Fraktion zwei unterschiedlichen Lagern angehören – mit dem konservativen Jacques Chirac erreicht. Die beiden sozialistischen Präsidenten Mitterand und Hollande konnten die Eigentums- und Machtverhältnisse im Land allein eben nicht zum Tanzen bringen.

Auch wenn viele Wähler genau davon geträumt hatten, als sie Mitterand 1981 zum ersten linken Staatspräsidenten der fünften Republik machten und ob seines Wahlsiegs auf allen Straßen des Landes tanzten. Die Angleichung der Lebensbedingungen war die Hoffnung, die die Menschen hegten. Unter anderem mit der Enttäuschung darüber, das weiter nicht hinreichend zu bekommen, beginnt der Aufstieg der Familie Le Pen und ihrer rechtsradikalen Partei.

Zerbröselnde Linke

Die Linke wird oft als Teil der Pariser Bohème wahrgenommen, zu intellektuell, zu weit weg von den Problemen vor Ort. Dass diese – bei allem realen Kern – häufig eher eingebildet sind, belegt eine neue europaweite Studie mit dem Ergebnis, die Franzosen sehen sich selbst als überdurchschnittlich arm und wenig gleichberechtigt. Nur Griechen und Zyprioten bewerten die eigene materielle Situation noch schlechter.

Richtig ist, die Linke ist in der Fläche – und Frankreich ist ein Viertel größer als Deutschland – nicht mehr so stark vertreten wie vor Jahren. Viele ihrer ehemaligen Wähler sind zum RN gewandert.

Und Marine Le Pen bestärkt den Trend, in dem sie sich seit einigen Jahren nahbar und volksnah geriert. Seht her, verkündet sie landauf, landab, eure Sorgen sind unsere Sorgen. Und preist die Ausweisung von Migranten als Allheilmittel. Obwohl es in Frankreich kaum Migranten gibt – weder Ukrainer noch Syrer oder Afghanen wurden in Zahlen oberhalb von 10.000 überhaupt ins Land gelassen. Le Pen fordert zudem neuerdings ein Verbot für französische Bürger mit doppelter Staatsangehörigkeit, Polizist zu werden oder einen verantwortungsvollen Posten zu bekleiden.

Das Gleichheitsversprechen wird nicht eingelöst

Generell ist und bleibt Frankreich auf Polarisierung ausgelegt, auf zwei gegensätzliche Lager. Zwischen denen muss dann bisweilen ausgefochten werden, wer stärker ist. Das gilt gleichermaßen zwischen Chefs und ihren angestellten Arbeitern wie zwischen Kommune und Regionalverwaltung oder in der Politik.

Hier wird dem jeweils Stärkeren qua Wahlsystem eine Mehrheit verschafft, die das Regieren ermöglicht. Kompromisse, Koalitionen und Austausch sind weder vorgesehen noch geübte Praxis. Im Gegenteil, Kompromisse kompromittieren, weil sie der jeweils "reinen Lehre" widersprechen.

Hauptursache für alle sozialen Auseinandersetzungen ist allerdings, dass das Gleichheitsversprechen der französischen Verfassung so oft nicht eingelöst wird. Das hat auch den Aufstieg des RN möglich gemacht. Mit jeder Wahl der vergangenen 20 Jahre ist er stärker geworden, bis zu den 33,1 Prozent in der ersten Runde der Parlamentswahlen.

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Im jetzt aufgelösten Parlament stellten die LePenisten 89 Abgeordnete. Am Sonntag ist nun eine absolute Mehrheit möglich. Sehr wahrscheinlich ist sie allerdings nicht. Im ersten Wahlgang haben 76 Kandidierende (von 577) direkt ihr Mandat gewonnen, darunter 37 des RN und 32 der linken Volksfront (NFP). In den verbleibenden 501 Wahlkreisen wird am 7. Juli entschieden.

In 306 davon hätten sich dabei drei Konkurrenten gegenübergestanden. Aus staatsbürgerlicher Verantwortung, so sagen sie selbst, haben daraufhin 127 potenzielle Kandidaten der NFP zurückgezogen. Sie treten, so wie 81 Kandidaten der bisherigen Präsidentenmehrheit, nicht zum zweiten Urnengang an. So wollen sie verhindern, dass das Mandat an den RN geht, weil er oder sie die relative Mehrheit erzielen konnte.

Das ist schlicht nicht vorgesehen

Als Ergebnis wird aller Voraussicht nach ein Parlament gewählt werden, in dem keiner der drei Blöcke über eine Mehrheit verfügt, weder der rechtsradikale RN noch die Macronisten noch die linke NFP, eine Situation, die im dualistischen System Frankreichs schlicht nicht vorgesehen ist.

Jordan Bardella, Chef des RN, hat immer verkündet, er werde das Amt des Premierministers nur annehmen, wenn er sich auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen könne, um so dem Präsidenten Paroli bieten zu können. Das linke NFP-Bündnis müsste sich überhaupt erst auf einen möglichen Amtskandidaten einigen; der Linksradikale und EU-Gegner Jean-Luc Mélenchon, der sich für den einzig wahren Anwärter hält, kann und wird es jedenfalls nicht sein.

Der bisherige Gabriel Attal kann nicht bleiben, dafür wird seine Gruppe nicht stark genug sein. Bliebe ein Technokratenkabinett, also eine Experten-Regierung, was Macron sicherlich sehr zupasskäme. Sonderlich demokratisch wäre das allerdings nicht.

Viel schlimmer noch: Ein gelähmtes und im chaotischen Streit gefangenes Parlament könnte seine Hauptaufgabe nicht angehen, endlich für mehr Gleichheit zu sorgen. Die bliebe weiter eine Illusion. Ständig berufen, nie erreicht.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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