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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vorgezogene Neuwahlen in Japan Es ist möglich, was lange undenkbar schien
Japan ist die viertgrößte Volkswirtschaft und der größte Unterstützer der Ukraine außerhalb der Nato. Nach einem Korruptionsskandal der Regierung und inmitten einer Währungskrise erlebt das Land nun vorgezogene Neuwahlen. Kommt es zu einem Machtwechsel?
Japan ist für viele europäische Länder geografisch so weit entfernt, dass nur selten innenpolitische Probleme im Land der aufgehenden Sonne für große Aufmerksamkeit in Europa sorgen. Dabei gehört Japan zu den wichtigsten westlichen Partnern in Asien, es ist das Land mit dem viertgrößten Bruttoinlandsprodukt weltweit und somit relevant für die Weltwirtschaft. Außerdem rücken der Westen und Japan immer weiter zusammen, teilen aktuell ähnliche Herausforderungen: eine hohe Inflationsrate, die Unterstützung der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland und den Umgang mit China.
Politische Stabilität in Japan ist also auch im Interesse des Westens und deswegen schaut die Welt am Sonntag genauer hin, an dem die Japanerinnen und Japaner bei der vorgezogenen Parlamentswahl über eine neue Regierung abstimmen werden.
Im Vorfeld dieser Wahl herrschte Chaos im Land. Die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP) stellte fast 70 Jahre beinahe durchgehend den Ministerpräsidenten, aber die Partei wurde von einem schweren Spendenskandal erschüttert. Er zwang den ehemaligen Ministerpräsidenten Fumio Kishida zum Rücktritt. In dessen Folge finden diese Neuwahlen überhaupt statt. Hinzu kommt die Wirtschaftskrise, die die japanische Bevölkerung verunsichert.
Es könnte also am Sonntag das passieren, was viele lange Zeit für unmöglich hielten: ein Machtverlust der stärksten Regierungspartei. Doch selbst wenn die LDP mit einem blauen Auge davonkommen sollte, droht ihr zumindest ein heftiger Denkzettel.
Wer regiert Japan?
Die konservative LDP ist die stärkste politische Kraft in Japan, mit großem Abstand vor der linksliberalen Konstitutionell-Demokratischen Partei (CDP), die aktuell die stärkste Oppositionspartei ist. Im Prinzip ringen zwei Politiker um das Amt des künftigen Ministerpräsidenten:
- Shigeru Ishiba (LDP): Nach dem Rücktritt von Kishida wurde er zu seinem Nachfolger gewählt und rief umgehend Neuwahlen für den 27. Oktober aus, um sich im Amt bestätigen zu lassen.
- Yoshihiko Noda (CDP): Er war bereits von 2011 bis 2012 Ministerpräsident für die linksliberale Demokratische Partei (DP). Nun kandidiert er für die CDP, die sich 2017 von der DP abspaltete.
Der seit Ende September amtierende Ministerpräsident Ishiba hofft auf einen Neustart, möchte seiner Regierungskoalition aus LDP und der konservativ-pazifistischen Komeito-Partei mit der Neuwahl neuen Schwung verleihen. Doch auch die von Ishiba geführte Regierung ist bislang in der japanischen Bevölkerung extrem unbeliebt.
In einer aktuellen Umfrage von "Kyodo News" kommt die LDP auf nur noch 22,6 Prozent der Stimmen, die CDP liegt mit 14,1 Prozent deutlich dahinter. Über 30 Prozent der befragten Wählerinnen und Wähler gaben allerdings noch an, unentschlossen zu sein – und das macht Prognosen für die Wahl am Sonntag schwierig.
Wie wird der japanische Ministerpräsident gewählt?
Der japanische Ministerpräsident wird von Ober- und Unterhaus gewählt und vom Kaiser ernannt. Am 27. Oktober wird das mächtigere Unterhaus neu gewählt. Im Oberhaus halten die LDP und ihr kleiner Koalitionspartner – die Komeito-Partei – die Mehrheit.
Zum Vergleich: Bei der Wahl des Unterhauses im Jahr 2021 kam die LDP noch auf 34,7 Prozent der Stimmen. Im aktuellen Parlament hat sie zusammen mit Komeito eine Mehrheit von 288 der 465 Sitze. Es ist wahrscheinlich, dass diese bei der Wahl am Sonntag deutlich schrumpfen wird und die Regierung könnte sogar ihre Mehrheit verlieren. Das würde wiederum die LDP zu einer neuen Koalition und zur Teilung der Macht in Japan zwingen. Auch eine Umfrage der Zeitung "Asahi" zeigt, dass die Regierung ihre Mehrheit verlieren könnte.
Kein einfaches Szenario für Ministerpräsident Ishiba, denn er müsste sich einen weiteren Koalitionspartner suchen und dem Land stünden wahrscheinlich schleppende Koalitionsverhandlungen bevor.
Absturz der Regierungspartei ist keine Überraschung
Dabei ist die LPD für ihren Absturz vor allem selbst verantwortlich. Das hat vier zentrale Gründe:
- Spendenskandal: Im Herbst letzten Jahres erschütterte ein Parteispendenskandal die LDP und diese Erschütterung hält bis heute an. Die Partei war viele Jahre in Machtgruppen, die sogenannten Fraktionen, unterteilt. Diese Fraktionen haben umgerechnet mindestens 3,5 Millionen Euro an Einnahmen aus Spenden hinterzogen und veruntreut. 39 Parteimitglieder wurden bestraft, viele gehörten zur Fraktion des ermordeten ehemaligen Ministerpräsidenten Shinzō Abe. Die Fraktion seines Nachfolgers Kishida war zwar auch an den Schwarzen Kassen beteiligt, sie wurden allerdings nicht bestraft. Aber nachdem der Druck auf Kishida immer größer geworden war, trat er im August 2024 zurück.
- Wirtschaftskrise: Japan ist nicht nur das am meisten überschuldete Land weltweit, es erlebt aktuell auch eine hohe Inflation und eine Währungskrise. Diese Probleme sind teilweise hausgemacht, da die LDP lange Zeit Druck auf die Zentralbank machte, die Zinsen nicht zu erhöhen. Erst im März 2024 nahm Japan Abschied von seiner Minuszinspolitik, nach 17 Jahren. Dabei war die Währung Yen schon länger im Tiefflug: Im Oktober 2022 gab es für einen Dollar noch etwa 112 Yen, aktuell sind es 152. Zwar ging die Inflation auf 2,5 Prozent im September 2024 zurück, aber vor allem ausländische Produkte sind mittlerweile für viele Japanerinnen und Japaner unbezahlbar geworden.
- Unsicherheit: Ishiba ist nicht einmal vier Wochen im Amt und verschaffte sich in der Bevölkerung schon einen Ruf als "Wendehals". Erst kündigte er an, dass Japan eine asiatische Nato gründen wolle. Das musste sein Außen- und Verteidigungsminister, auch mit Blick auf China, wieder einfangen und es als "Zukunftsmusik" abtun. Nachdem Ishiba erklärt hatte, die japanische Wirtschaft sei nicht bereit für weitere Zinserhöhungen, reagierte die japanische Wirtschaft äußerst negativ und der Ministerpräsident musste auch diese Aussage revidieren. Das alles schafft Unsicherheit.
- Verbindungen zur Moon-Sekte: Nach der Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Abe wurde bekannt, dass er und viele andere LDP-Funktionäre Mitglieder der in Südkorea gegründeten Moon-Sekte sind, die sich auf das Christentum beruft. Abes Mörder gab als Motiv an, dass er aus Rache gehandelt habe, weil die Sekte seine Familie in den finanziellen Ruin getrieben habe. Seither wird die religiöse Vereinigung, die den verstorbenen Sun Myung Moon als zweiten Messias nach Jesus Christus anhimmelte, in Japan kritisch gesehen.
In Summe sind das die Gründe, warum die aktuelle Regierung auch nach der Ernennung von Ishiba zum Ministerpräsidenten nicht wirklich beliebter wurde. Doch es gibt eben auch Gründe, warum die LDP immer noch stärkste Kraft ist: Einerseits ist die Opposition in Japan zersplittert und vermochte es in vielen Wahlkreisen nicht, sich auf einen Kandidaten zu einigen, der gegen den Kandidaten der führenden Regierungspartei antreten wird.
Andererseits hat auch Ishiba nicht alles falsch gemacht: Er zeigt sich etwa offen für eine Gesetzesreform, die ermöglichen soll, dass Eheleute unterschiedliche Nachnamen tragen, was bislang in Japan nicht möglich ist und Frauen deutlich benachteiligt, weil in 96 Prozent der Ehen im Land der männliche Name angenommen wird. Das ist für Frauen, die sich etwa beruflich einen Namen gemacht haben, ein erhebliches Problem. Eine Änderung des Namensrechts würde bei einem Großteil der Bevölkerung gut ankommen.
Japanische Zeitenwende steht auf dem Prüfstand
Dementsprechend könnte sich die LDP am Sonntag noch einmal über die Ziellinie retten, aber eben nicht mit der Energie eines Neufangs, sondern mit viel Ballast für Ishiba und einer schwierigen Regierungsbildung vor der Brust. Sollte die LDP die Wahl gewinnen, bedeutet das für Japans westliche Partner vor allem Kontinuität.
Denn Kishida hatte im Dezember 2022 die japanische Zeitenwende eingeleitet. Das einst pazifistische Japan rüstet seither massiv auf und möchte nun auch die Fähigkeit zum militärischen Gegenschlag besitzen. Bis 2027 soll sich der Verteidigungsetat auf zwei Prozent des japanischen Bruttoinlandsprodukts verdoppeln.
Das geschieht in Japan vor allem deshalb, weil die Angst vor China stark zunimmt. Immerhin beansprucht die Volksrepublik im Ostchinesischen Meer auch japanische Inseln für sich. Kishida positionierte sein Land in dieser Zeit geopolitischer Kämpfe fest an der Seite des Westens und Japan unterstützte die Ukraine bislang mit über zwölf Milliarden Euro. Der damalige Ministerpräsident erklärte: "Die Ukraine von heute kann morgen Ostasien sein." Er warb auch dafür, dass Japan über den Tellerrand des Pazifiks schauen müsse, um sich auch in anderen Regionen zu engagieren.
Während sein LDP-Nachfolger Ishiba diesen Kurs wahrscheinlich fortsetzen würde, könnte die CDP bei einem Machtwechsel in Japan durchaus andere Schwerpunkte setzen. Denn die linksliberale Partei steht ideologisch hinter Artikel 9 der japanischen Verfassung, der kriegerische Aktivitäten sowie den Unterhalt von Streitkräften verbietet. Aber kann sich Japan eine Abkehr von der Zeitenwende im Angesicht der chinesischen Aufrüstung sicherheitspolitisch leisten? Auch darüber werden vor allem die vielen noch unentschlossenen Wählerinnen und Wähler entscheiden, die am Sonntag ihre Stimme abgeben.
- zeit.de: Wer wird Japan regieren?
- reuters.com: Japan general election to test ruling party, may bring uncertainty (englisch)
- kas.de: Wo steht Japan vor Ende der Kishida-Regierung?
- apnews.com: Japan’s ruling party may struggle in Sunday’s vote, but its decades of dominance won’t end (englisch)
- fr.de: Premierminister Shigeru Ishiba gerät in Bedrängnis
- zdf.de: Kishida: Tiefer Fall eines Hoffnungsträgers
- tagesschau.de: Ein Hauch von Veränderung in Japan
- faz.net: Plötzlich ist ein Machtwechsel denkbar
- Eigene Recherche