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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verhandlungslösung Eskalation im Kreml
Das Sterben in der Ukraine dauert schon sechs Monate, Forderungen nach Verhandlungen mehren sich. Im Kreml hat man andere Pläne – die Vorboten sind düster.
"Die Waffen müssen schweigen." So ist ein Aufruf überschrieben, den vergangene Woche eine Gruppe von SPD-Politikern und Friedensbewegten veröffentlichte. Die Genossen, darunter einige Bundestagsabgeordnete, forderten in dem Schreiben eine diplomatische Offensive. Konkret: Friedensverhandlungen mit Russland. Man müsse eine Eskalation des Krieges ausschließen, unschöne Realitäten zur Kenntnis nehmen. Parteiübergreifend und aus den eigenen Reihen hagelte es Widerspruch.
"Empathielos" nannten die Jusos den Aufruf. Als "illusorisch" kommentierte ihn der Außenpolitiker Norbert Röttgen (CDU). Der scheidende Botschafter Andrij Melnyk brandmarkte das Schreiben gar als "herzlos und geschichtsvergessen."
Was die Kritiker eint: Eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg scheint derzeit wenig realistisch. Im Gegenteil – es könnte eine neue Phase der Brutalität bevorstehen. Dafür sprechen drei Gründe:
- Der russische Propaganda-Apparat schlägt bedrohliche Töne an
- Moskau will seine Streitmacht zusätzlich aufblähen
- Verteidigungsminister Schoigu ist offenbar entmachtet – Putin übernimmt
Putin erschafft eine Märtyrerin
Seit die Tochter des ultranationalistischen Ideologen Alexander Dugin durch eine Autobombe ermordet wurde, steht die Kriegskommunikation des Kremls Kopf. Die russische Führung lässt keine Gelegenheit aus, den dubiosen Mord an Darja Dugina politisch auszuschlachten.
Die Trauerzeremonie war eine Projektionsfläche für die kriegstreiberischen Ideologien russischer Revisionisten wie Dugin: "Sie starb für das Volk, für Russland, an der Front. Die Front – sie ist hier", sagte der rechtsextreme Intellektuelle zu Beginn der Zeremonie. Bereits kurz nach dem Tod der Tochter rief der Vater über Telegram zur Fortsetzung des russischen Angriffskrieges auf: "Wir brauchen nur unseren Sieg!"
Und auch Russlands Präsident instrumentalisierte den Mord für seine Zwecke: Dugina hätte "dem Vaterland ehrlich gedient und durch Taten gezeigt, was es bedeutet, eine Patriotin Russlands zu sein", ließ Wladimir Putin verbreiten. Er verlieh der Ermordeten sogar posthum den Tapferkeitsorden – und machte sie damit zu einer Art Märtyrerin.
Kremltreue Medien sprechen vom "heiligen Krieg"
Auch in den Kreml-Medien floriert die Propaganda. Wie die "Welt" berichtet, strahlte das russische Staatsfernsehen am Sonntag eine Dokumentation über Darja Dugina aus – zur besten Sendezeit. Der Mord an Dugina scheint dem Kreml als Vehikel zu dienen, das russische Volk auf eine neue Phase des Krieges einzuschwören – die weitere Tote fordern wird. Bislang sind laut westlicher Schätzungen bereit Zehntausende russische Soldaten im Ukraine-Krieg gefallen.
Die Lücken in den Reihen der russischen Armee werden größer – das macht sich auf dem Schlachtfeld bemerkbar. Seit Monaten kommen die Truppen im Donbass kaum voran. In der Südukraine haben sie sogar eine ukrainische Gegenoffensive zu befürchten.
Wie die "Welt" berichtet, sprechen kremltreue Medien mittlerweile von einem "heiligen Krieg" Russlands gegen die Ukraine. Das wäre nicht nur eine verbale Eskalation – sondern die rhetorische Vorbereitung auf einen noch länger andauernden, noch verlustreicheren Krieg.
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Auch der Militärhistoriker Dr. Bastian Matteo Scianna rechnet nicht mit einem Waffenstillstand. Im Gespräch mit t-online sagte er vergangene Woche allerdings, im Herbst sei ein etwas ruhigeres Kriegsgeschehen zu erwarten. Große Offensiven seien wegen härterer Witterungsbedingungen unrealistisch. Gleichwohl werde die Ukraine nicht davon abrücken, ihr Territorium zu verteidigen – und auch Russland werde nicht stoppen.
Denn Moskau hat seine politischen und militärischen Bestrebungen bislang nicht erreicht. Die bisherigen Annäherungen am Verhandlungstisch tut Scianna deshalb als russische Ablenkungsmanöver ab. Seiner Einschätzung zufolge könne sich der Krieg "noch über Jahre hinziehen." Entscheidend für ein Kriegsende wird sein, wie lange Putin versuchen wird, für seine Ziele zu kämpfen.
Auch der frühere BND-Agent und Geheimdienstexperte Gerhard Conrad hat wenig Hoffnung auf eine baldige Verhandlungslösung: "Der Kreml fordert die vollständige Kapitulation. Das ist keine Basis", sagte er im Interview mit t-online. Eine Kompromissbereitschaft setze voraus, dass beide Seiten "gleichmäßig und gleichzeitig die Perspektivlosigkeit des Konflikts erkennen."
Falls sich eine Kriegspartei noch einen Vorteil erhoffe oder meint, einen längeren Atem zu haben, werde jeder Versuch, zwischen beiden zu vermitteln, "wertlos".
Putin stockt Armee um rund 140.000 Soldaten auf
Für eine weitere Eskalation spricht auch ein weiterer Punkt: Am Donnerstag kündigte der Kreml an, seine Streitmacht in der Ukraine aufzustocken. Die Zahl der Vertragssoldaten und Wehrdienstleistenden soll um 137.000 erhöht werden – insgesamt wären das 1,15 Millionen russische Männer unter Waffen.
Da bereits Zehntausende russische Soldaten bei der Invasion getötet oder verletzt wurden, sucht Putin mittlerweile händeringend nach neuen Männern für die Front. Im ganzen Land laufen Kampagnen zur Rekrutierung von Frontsoldaten. Wie die US-Denkfabrik "Institute for the Studies of War" in einem Lagebericht schreibt, hat die Regierung ihre Anstrengungen in den russischen Provinzen zuletzt noch einmal intensiviert. Vor einer Generalmobilmachung scheint sich Putin allerdings noch zu scheuen.
Auch private Unternehmen beteiligen sich an der Suche nach kriegswilligen Rekruten. Dabei soll die berüchtigte Wagner-Gruppe laut "Spiegel"-Recherchen gar in Strafkolonien für den Krieg anwerben – gegen Geld und Straffreiheit.
Militärs sollen nun direkt an Putin berichten
Zudem bemüht sich der Kreml offenbar aktuell darum, die Probleme in der russischen Armeeführung zu beseitigen. Glaubt man dem britischen Geheimdienst und seinen Quellen, hat das Problem einen Namen: Sergej Schoigu. Der russische Verteidigungsminister werde im Kreml zunehmend in den Hintergrund gedrängt, er stehe "auf der Seitenlinie".
Bei operativen Entscheidungen in Sachen Ukraine-Krieg sei es zunehmend Putin persönlich, an den die Generäle direkt berichteten. Schoigu habe zu wenig militärische Erfahrung und werde von Putin für den gescheiterten "Blitzkrieg" in der Ukraine verantwortlich gemacht, berichtet auch das russische Portal "Important Stories" unter Berufung auf Informanten im russischen Militär.
Ohne Schoigu, so vermutlich die Hoffnung Putins, könnte die russische Armee effektiver in der Ukraine operieren. Auch das spricht nicht unbedingt dafür, dass der Kreml derzeit ernsthaft an Verhandlungen interessiert ist.
Wie man Putin an den Verhandlungstisch zwingt
Wie könnte man Putin also zum Einlenken bewegen? Das gelänge nur unter bestimmen Voraussetzungen, so der Militärexperte Scianna: "Wenn auf dem Schlachtfeld etwas passiert, das seine politische Macht untergraben könnte." Im Umkehrschluss bedeute dies aber: "Solange er sein System als solches nicht gefährdet sieht, sind ihm die eigenen Verluste egal, sind ihm zivile Opfer egal."
Für einen baldigen Waffenstillstand sind das keine guten Aussichten.
Auch auf ukrainischer Seite sieht man angesichts des russischen Vorgehens keine Grundlage für Friedensgespräche. Bisher beschränken sich die Verhandlungserfolge der Ukraine auf Getreideausfuhren oder Gefangenenaustausche. Am Sonntag schrieb der ukrainische Vermisstenbeauftragte auf einem Regierungsportal, man sei über das Rote Kreuz mit dem Aggressor erfolgreich in Kontakt getreten – über den Austausch von mehr als 500 Leichen.
- twitter.com: "Profil des britischen Verteidigungsministeriums" (englisch)
- welt.de: "In der neuen Phase spricht der Kreml nun vom 'Heiligen Krieg'"
- spiegel.de: "'Töte im Namen Russlands, und du bekommst die Freiheit'" (Kostenpflichtig)
- understandingwar.org (ISW): "Russian Offensive Campaign Assessment, August 26" (englisch)
- Interview mit Dr. Bastian Matteo Scianna am 24.8.2022
- istories.media: "Wer kontrolliert die russischen Truppen in der Ukraine?" (russisch)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP