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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Militärhistoriker Scianna "Putin schreckt zu Recht vor diesem Schritt zurück"
Seit einem halben Jahr herrscht Krieg in Europa, kämpft die Ukraine um ihre Existenz. Ein Experte erklärt die wichtigsten Fragen zur Invasion.
Vor genau sechs Monaten, am 24. Februar, überquerten erste russische Panzer die ukrainische Grenze. Bomber drangen in den ukrainischen Luftraum, die ersten Zivilisten starben durch Marschflugkörper. Die Ukraine wehrt sich seitdem nach Kräften.
Wie der Krieg weitergehen könnte, welche Verantwortung die russische Bevölkerung trägt und wie es um die europäische Friedensordnung steht, erklärt der Militärhistoriker Dr. Bastian Matteo Scianna im Interview mit t-online.
t-online: Herr Scianna, wie ist die Situation nach einem halben Jahr Krieg in der Ukraine?
Matteo Scianna: Die Ukraine besteht weiterhin als Staat, sie wehrt sich verbissen. Das haben zu Beginn des Krieges nur wenige erwartet. Viele Experten hatten im Gegenteil damit gerechnet, dass die Ukraine rasch verlieren würde. Das ist zum Glück nicht passiert. Die Ukrainer verteidigen sich tapfer und mit hoher Moral – und die westlichen Waffenlieferungen machen auf dem Schlachtfeld einen großen Unterschied. Wir stehen also an einem Punkt, an dem man sagen kann: Vielleicht schafft es die Ukraine, eigene Gegenangriffe zu setzten und von Russland besetztes Gebiet zurückzuerobern.
An einem Tag, an dem der Krieg seit einem halben Jahr wütet, fragen sich viele: Wann ist das endlich vorbei?
Ein Ausblick ist immer schwierig. Es gibt aber Faktoren, die wir beobachten können und die den Krieg bedingen. Das sind wirtschaftliche Aspekte, aber auch Moral und politische Aspekte. Der russische Präsident Wladimir Putin hat seine politischen Ziele bislang nicht erreicht. Das zeigt sich auch in den gescheiterten Verhandlungen, die als Ablenkungsmanöver von russischer Seite zu sehen sind. Wir müssen uns nun also fragen: Wie lange wird Putin weiter versuchen, seine Ziele zu erreichen? Die ukrainische Regierung wird von ihrem Ziel, ihr Land zu verteidigen, auf jeden Fall nicht abrücken.
In der Ukraine stehen ein nasser Herbst und ein kalter Winter an. Wie wird sich das auswirken?
Ich gehe davon aus, dass es an den Fronten ruhiger wird, die Ukrainer aber weiter versuchen, mit gezielten Angriffen den russischen Truppen das Leben zur Hölle zu machen. Groß angelegte Offensiven aber werden wegen der Witterungsbedingungen schwierig bis unmöglich sein. Russland wird zudem zwei große Problemen bekommen: mit der Logistik und mit der Moral.
Können Sie das ausführen?
Der Nachschub an Munition, Ersatzteilen und sogar Dingen wie Essen läuft bereits die gesamte Zeit nicht gut. Im Winter wird das nicht einfacher. Dabei spielen auch westliche Waffen wie Mehrfachraketenwerfer eine bedeutende Rolle: Die Ukrainer können so Ziele weit in russisch besetzten Gebieten angreifen. Zudem könnte sich die Stimmung unter den russischen Soldaten weiter verschlechtern. Viele der Soldaten wussten am Anfang nicht, dass sie in den Krieg ziehen, dann wurde ihnen ein Spaziergang nach Kiew versprochen, jetzt frieren sie vielleicht bald einsam in ihrem Schützenloch ohne ausreichend Winterbekleidung und Versorgung.
Die russische Seite also kommt nicht voran – weder politisch noch militärisch. Aber kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen?
Die Ukraine gewinnt den Krieg, indem sie militärisch nicht verliert. Mit jedem Tag, an dem Russland militärische Verluste erleidet und in wirtschaftliche Schieflage gerät, ist die Ukraine näher an einem politischen Sieg. Das heißt auch: Dieser Krieg kann sich noch über Jahre ziehen, wenn auf dem Schlachtfeld keine Entscheidung fällt und keine politische Lösung eintritt.
Über den Experten
Dr. Bastian Matteo Scianna, Jahrgang 1987, ist seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam. Der Historiker lehrt und forscht über deutsche Außenpolitik, europäische Integration und verfasst seine Habilitationsschrift über die Geschichte des Schengener Abkommens. Er ist Mitautor des Buches "Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkonflikt", das 2021 erschienen ist.
Der Kampfeswillen der Ukrainer hat viele überrascht. Welche Rolle spielt Motivation in diesem Krieg?
Man muss immer bedenken: Seit 2014 herrscht im Donbass Krieg. Viele Soldaten hatten also schon vor dem Überfall Kampferfahrung. Zudem hat die Regierung die Armee modernisiert und professionalisiert, das hat Früchte getragen. Natürlich gibt es auf ukrainischer Seite hohe militärische und zivile Verluste. Meiner Einschätzung nach aber werden die von einem großen Teil der Bevölkerung als sinnhaft wahrgenommen, um das Land zu verteidigen. Die Moral ist also nach wie vor hoch.
Sie haben als Militärhistoriker nicht nur die aktuellen Entwicklungen, sondern auch die Geschichte im Blick. Was bedeutet es kollektiv für einen Staat, überfallen zu werden?
Eine Invasion verändert das Moralgefüge einer Gesellschaft. Die Norm ist nicht mehr Frieden, sondern der Krieg mit all seiner Brutalität. Es geht für die Menschen um das reine Überleben. Der Schock, die Entbehrungen und die Empörung über das russische Vorgehen werden kaum über Nacht verschwinden. In Europa hat es nach dem Zweiten Weltkrieg auch sehr lange gedauert, bis unsere europäischen Nachbarn wieder Vertrauen in die Deutschen gefasst haben. Eine weitere Entwicklung zeichnet sich bereits ab: Die Ukrainer erfinden sich als Gemeinschaft neu, entwickeln ein starkes Nationalgefühl. Ironischerweise hat Putin damit genau das erreicht, was er zunichtemachen wollte, als er der Ukraine ihr Existenzrecht abgesprochen hat.
Das ist nicht der einzige Fehler, den Putin gemacht hat. Putin soll sich 2014 massiv darüber empört haben, dass der damalige US-Präsident Barack Obama Russland als Regionalmacht bezeichnete. Beweist der Verlauf der Fronten jetzt nicht, dass Obama recht hatte?
Man muss sich schon fragen: Sind das wirklich die Streitkräfte einer Supermacht? Russlands Armee galt bis Kriegsbeginn als sehr leistungsfähig, es herrschte die Auffassung vor, dass sie den Wandel von der Roten Armee der Sowjetunion zu einer modernen Armee seit den Reformen nach dem Überfall auf Georgien 2008 erfolgreich vollzogen hatte. Komplexe Operationen und das Gefecht der verbundenen Waffen scheitern. Ein Beispiel: Russische Kampfflugzeuge schaffen es nicht, wirksam ihre Schlagkraft zu entfalten oder die Bodenstreitkräfte zu unterstützen. Eine vollkommene Luftüberlegenheit der Russen gibt es ebenso wenig. Die ukrainische Luftabwehr ist weitestgehend funktionsfähig, hochmobil und für die russischen Flugzeuge brandgefährlich.
Putin scheint sich allerdings vor niemandem rechtfertigen zu müssen. Was kann Autokraten wie ihn zum Einlenken bewegen?
Die Grundlage eines diktatorischen Regimes ist immer, dass es keine offensichtliche Nummer Zwei gibt, die der Nummer Eins bei Problemen den Stuhl wegzieht. So ist das auch in Russland. Es ist die Zeit der schrillen Nationalisten, insofern hat Putin derzeit noch nichts zu befürchten. Das einzige, was Putin zum Einlenken bewegen könnte, ist, wenn er die Grundfesten seines Regimes bedroht sieht – etwa, wenn auf dem Schlachtfeld etwas passiert, das seine politische Macht untergraben könnte. Das heißt gleichzeitig: Solange er sein System als solches nicht gefährdet sieht, sind ihm die eigenen Verluste egal, sind ihm zivile Opfer egal.
Die russische Bevölkerung trägt den Angriffskrieg seit einem halben Jahr mit. Trifft jeden Einzelnen eine Verantwortung?
Man hat zu Beginn des Krieges immer von "Putins Krieg" gesprochen. Das war und ist die offizielle politische Rhetorik. Auf den ersten Blick ist das richtig: Ohne Putin sähe die Politik Russlands vielleicht anders aus. Aber man muss auch feststellen: Der Krieg und die Politik Putins sind in Russland keineswegs unpopulär. Das heißt nicht, dass jeder Russe kriegslüstern ist und die Invasion unterstützt. Aber wir dürfen uns nichts vorlügen: In Russland sind andere Werte salonfähig. Wenn wir immer nur von Putins Krieg sprechen, besteht die Gefahr, dass wir das vergessen.
Muss man dann nicht anerkennen, dass die Russen sich mitschuldig machen?
Ich tue mich mit dem Wort Schuld schwer. In der Geschichte Deutschlands oder Italiens gab es im weitesten Sinne eine ähnliche Problematik. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben zunächst alle auf Adolf Hitler oder Benito Mussolini gezeigt. Damit wollten viele Personen auch eigene Verantwortung oder direkte Schuld an Verbrechen von sich weisen. Der Punkt ist aber: Ohne einen großen Teil von Menschen, die in diesem kriminellen System mitmachen und davon profitieren, würden sich solche Systeme nicht so lange halten können. Und Umfragen zeigen, dass mindestens die Hälfte der russischen Bevölkerung diesen Krieg unterstützt. Man muss hier feinfühlig, aber auch klar sein: Nicht jeder Russe ist für den Krieg und das Leid verantwortlich, aber jeder, der Putin wählt und ihn unterstützt, trägt eine Mitverantwortung.
Was müsste denn passieren, damit die russische Gesellschaft massenweise auf die Straße geht?
Hier lohnt sich ein Blick auf den sowjetischen Afghanistankrieg von 1979 bis 1989. Die Mütter gefallener Soldaten protestierten nach einiger Zeit immer lautstärker, bis daraus eine Bewegung entstanden ist, die mithalf, die Grundfesten des Sowjetregimes zu erschüttern. Eine ähnliche Entwicklung gab es im Tschetschenienkrieg. Das hat die Kriege zwar nicht beendet, der Druck auf das Regime stieg aber. Darauf kann man hoffen. Hoffnung ist allerdings keine Strategie, die der Westen verfolgen sollte.
Den Krieg in die Familien tragen würde auch eine russische Generalmobilmachung. Welches Signal würde davon ausgehen?
Auch wenn bereits viele gut ausgebildete, junge Russen das Land verlassen, dringen die Folgen des Krieges nur langsam zu der breiten Bevölkerung durch. Eine Generalmobilmachung könnte das ändern. Der Krieg würde auch in Moskau oder Sankt Petersburg zur Realität. Solange man in seinem Wohnzimmer Patriot sein kann und der eigene Sohn nicht an der Front stirbt, fällt es leichter, den Krieg zu unterstützen. Putin schreckt also zu Recht vor diesem Schritt zurück.
Das US-amerikanische "Time-Magazine" schrieb zu Kriegsbeginn von einer "Rückkehr der Geschichte", Putin habe die Träume Europas zerstört. Stimmen Sie überein?
Das Magazin spricht im Grunde die Wahrheit aus: Unsere Friedensordnung war eine schöne Illusion, die jetzt endgültig in Scherben liegt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es im Westen die euphorische Erzählung vom "Ende der Geschichte": Konfrontation sollte Geschichte, alle ideologischen Gegensätzlichkeiten getilgt, systemische Auseinandersetzungen befriedet sein. Doch dabei wurde übersehen, dass Friedensordnungen oftmals bloß Momentaufnahmen sind. Sie entstehen meist kurz nach Beendigung eines Krieges und gehen meistens von einer, der siegreichen, Seite aus. Das Hochgefühl zerschellte recht schnell, als an den Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien wieder Krieg in Europa ausbrach. Der Westen hat sich bloß bemüht, diese Wahrheit zu ignorieren.
Was mit der "Rückkehr der Geschichte" auch ausgedrückt wird, ist die Angst vor einem neuen Kalten Krieg.
Verkürzt gesagt war der Kalte Krieg ein Wettkampf der Systeme, der auf mehreren Kontinenten geführt wurde. Wenn wir uns anschauen, was Russland seit Jahren in Syrien, Libyen und Mali macht, dann sehen wir: Es gibt Parallelen zum Kalten Krieg. Nicht nur Russland, auch China und der Iran positionieren sich gegen unsere westlichen Werte. Im Gegensatz zum Kalten Krieg allerdings haben wir im freien Westen diese Herausforderung noch nicht angenommen.
Was könnte der Grund dafür sein?
Man hofft, dass mit ein wenig Diplomatie alle Probleme der Welt gelöst werden. Das ist aber bei illiberalen Regimen, die expandieren und andere schwächen wollen, nicht möglich. Diese Regime denken nicht in Kategorien wie Menschenrechten, Kooperation und Mäßigung, sondern in Kategorien wie Unterwerfung, militärischer Intervention und Machtpolitik. Dieser Herausforderung muss sich der Westen, gerade die EU und Deutschland, erst noch stellen.
Was heißt das für mögliche künftige Beziehungen zu Russland? Kann ein Staat, der mit einer solchen Brutalität in Nachbarstaaten einfällt, überhaupt jemals wieder unser Partner werden?
Wir müssen Abscheuliches verurteilen, aber Russland wird niemals aus Europa verschwinden. Es gibt natürlich noch die Hoffnung, dass Russland demokratisch wird, eine neue Regierung bekommt, die die Fehler der Vergangenheit klar benennt – so wie damals Deutschland. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Das bedeutet, dass wir uns mit dem Unrecht und Diktatoren auseinandersetzen müssen. Hier lohnt eine Parallele zum Kalten Krieg: Die Neue Ostpolitik Willy Brandts wurde auch nicht aus Freundschaft zur Sowjetunion oder aufgrund der Menschlichkeit des Sozialismus angestoßen, sondern weil man sagte: Wir müssen von den Realitäten ausgehen und geleitet von unseren Werten eine zielgerichtete Realpolitik betreiben – die eben auch militärische Abschreckung beinhaltete.
- Interview mit Dr. Bastian Matteo Scianna am 24.08.2022