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Alzheimer: Immer mehr Menschen leiden an Demenz und vergessen alles


Meinung
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Tagesanbruch
Wie, um Himmels willen, kann man das vergessen?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.09.2023Lesedauer: 7 Min.
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Immer mehr Menschen in Deutschland leiden an Demenz. (Quelle: Tero Vesalainen/getty-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es ist schön, dass Sie wieder da sind, um den heutigen ... na das, was ich immer mache, also das mit den vielen Tasten, Sie wissen doch ...

Tagesanbruch? Ja, genau! Danke, Sie haben recht, ich glaube, so hieß das. Also das, was Sie jeden Tag und heute auch … ähm … jetzt habe ich den Faden verloren. Lesen! Also dass Sie das lesen. Das ist schön. Das freut mich sehr.

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Es ist schon schlimm, dass ich immer alles vergesse. Manchmal ist mir zum Heulen. Eigentlich bin ich schon im Dings, also in dem … ich komm jetzt nicht drauf … wo man nicht mehr zur … na zur Arbeit … genau, wo man nicht mehr zur Arbeit geht.

Krank, sagen Sie? Nein, ich bin doch nicht krank! Mir geht es gut! Ich bin fit und mache alles selbst. Ich arbeite sogar noch! Jeden Tag geh ich ins Büro! Gerade gestern erst war ich ... Wie, ich bin in Rente? Ja, stimmt, wo Sie es jetzt sagen, das ist es. Ich bin in Rente. Ich arbeite nicht mehr. Da hat man Zeit. Aber ich bin immer beschäftigt. Immer unterwegs.

Er vergisst mittlerweile wirklich alles. Manchmal erzählt er sogar, dass er noch zur Arbeit geht. Den ganzen Tag wurschtelt er in der Wohnung rum. Er habe immer so viel zu tun. Ich weiß auch nicht, was er da eigentlich macht. Geht in das eine Zimmer, geht ins nächste, geht wieder zurück, holt etwas, legt es irgendwo hin und sucht es dann. Neulich wollte er aus der Küche Kekse holen und ist fünfmal hingegangen, brachte jedes Mal etwas anderes mit. Bloß die Kekse nicht.

Heute, glaube ich, ist irgend so ein besonderer Tag. In der Tagesbetreuung haben sie davon gesprochen. Ja, jetzt weiß ich es wieder! Es war sogar jemand von der Zeitung da! "Welt-Alzheimertag", genau, so haben sie das genannt. Obwohl: Eigentlich war der gestern. Aber da hab ich nicht dran gedacht. Oder meine Kollegin hatte den Tagesanbruch geschrieben. Jedenfalls war da irgendwas.

Bei uns zu Hause ist jeden Tag "Welt-Alzheimertag". Aber es stimmt, offiziell wäre der gestern gewesen. Sehen Sie: Jetzt hatte er mal wieder einen dieser klaren Momente und weiß genau, was gestern war. Sonst ist alles konfus und das Gedächtnis ein Sieb, aber auf einmal – zack! – ist er für kurze Zeit fast wieder der Alte. Dann denken die Leute, wir Angehörigen würden spinnen oder übertreiben. Neulich war der Medizinische Dienst bei uns, weil ich einen höheren Pflegegrad beantragt habe. Wir schaffen das sonst einfach nicht mehr. Ausgerechnet als die Dame zur Begutachtung vorbeikam, war er in Topform: für seine Verhältnisse superorientiert, aufmerksam. "Kann ich Ihnen vielleicht Kekse anbieten?", hat er gefragt. Mehr Pflege haben wir da natürlich nicht bekommen, jetzt läuft unser Widerspruch gegen die Entscheidung. Das kann locker ein halbes Jahr oder länger dauern. Ich habe keine Ahnung, wie wir das in der Zwischenzeit stemmen sollen. Aber auf den Tischen der Leute, die über diese Angelegenheiten befinden, türmen sich die Fälle.

Ich bin eigentlich ganz zufrieden, danke der Nachfrage. Ich komme zurecht. Ob ich Freunde habe? Ja, ich habe viele Freunde! Es ist immer was los! Aber ich bin auch gern allein. Wissen Sie, ich brauche den Trubel gar nicht. Wird mir zu viel. Man muss ja nicht immer alles mitmachen. Ich bleibe lieber zu Hause.

Am schlimmsten war es für ihn zu Beginn. Als es losging mit dem Alzheimer und er merkte, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Wenn einem auf einmal klar wird, dass im eigenen Kopf etwas nicht funktioniert, ist das furchtbar. Man sitzt mit Leuten zusammen und unterhält sich, und plötzlich weiß man nicht mehr, worüber sie gerade reden. Phrasen helfen dann. "Das finde ich auch", "wirklich?", "Donnerwetter!", so was. Das vertuscht das Problem eine Weile, aber irgendwann merken es doch alle. Man sagt ab und zu Sätze, die gar nicht zum Gespräch passen. Man ist durcheinander, aber eines entgeht einem nicht: die irritierten Blicke. Die Korrekturen. Es müssen ja alle erst mal realisieren, was da eigentlich begonnen hat: eine Demenz, Alzheimer. Keiner weiß, wie er sich verhalten soll. So tun, als wäre nichts? Verbessern? "Nein, wir waren doch schon lange nicht mehr beim Rommé! Das weißt du doch!"

Nach einer Weile hat er sich dann zurückgezogen. Ging nicht mehr zu den Treffen mit den Freunden. Er habe heute irgendwie keine Lust, behauptete er dann. Er merkte, wie ihm die Dinge entglitten. Ihm gehe es gut, sagte er, aber seine Stimme brach dabei manchmal. Dann kamen die Tränen. Jetzt ist das vorbei. Er kann alles und macht noch immer alles selbst, erzählt er und glaubt es auch. Er stellt ganz selbstverständlich fest, dass er sich mittags was Schönes kocht, obwohl der Herd seit zwei Jahren abgeklemmt ist. Die schlimme Zeit der Selbstwahrnehmung ist vorbei. Das Essen kommt jetzt auf Rädern.

Liebe Leserin, lieber Leser, nun aber wirklich: Guten Morgen zum Tagesanbruch! Die Personen, denen Sie gerade begegnet sind, habe ich mir ausgedacht. Die Situationen und Sätze, die sie sprechen, aber nicht. Wenn Alzheimer einsetzt, beginnt er das Leben der Betroffenen von Grund auf zu verändern – nach und nach, meist schleichend, zu Anfang fast unbemerkt. Manchmal verändert sich die Krankheit für lange Zeit nicht und die Dinge spielen sich ein. Bei anderen Betroffenen verschlechtert sich die Lage in nur wenigen Wochen. Alzheimer ist schlecht voraussehbar, kann jeden treffen und lässt auch in der Umgebung der Erkrankten niemanden in Frieden. Nachbarn, Freunde, die Angehörigen sowieso: Alle müssen sich mit der Situation auseinandersetzen, ob sie wollen oder nicht. Das geht an niemandem spurlos vorbei.

Wie viele Menschen leiden darunter? Stellen Sie sich die zweitgrößte deutsche Stadt Hamburg vor: 1,8 Millionen Menschen. So viele Demenz-Erkrankte sind es in ganz Deutschland, und es werden immer mehr. Rechnet man noch die Angehörigen, Freunde und Pfleger hinzu, sind wir bei einem Problem, das so viele Menschen betrifft, wie Hamburg, Berlin, München und Köln Einwohner haben. Mindestens. Man muss es sich so plastisch vor Augen führen, denn die Krankheit und ihre Folgen spielen sich hinter verschlossenen Türen ab. Man sieht gar nicht so viel von ihr. Bis sie in die eigene Welt einbricht. Dann bestimmt sie bald den gesamten Alltag.

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Der Welt-Alzheimertag ist auch am Tag danach ein guter Anlass, um darauf hinweisen: Die bisherige Unterstützung reicht in der Praxis nicht aus. Die Betroffenen und pflegende Angehörige brauchen jede Hilfe, denn es ist eine unfassbar fordernde Zeit. Verschwinden lassen kann man die Krankheit und die Belastung leider nicht. Alzheimer gehört zu den Karten, die das Leben austeilt, zufällig und ohne erkennbares System. Sich geistig fit zu halten, Sport, gesunde Ernährung und Geselligkeit verringern die Wahrscheinlichkeit, dass man erkrankt – vor allem, wenn man so einen Lebenswandel schon im mittleren Alter und nicht erst im Ruhestand pflegt. Dennoch kann es jeden treffen, auch wenn man viele Bücher gelesen oder ein Kreuzworträtsel nach dem anderen gelöst hat.

Zu beschönigen gibt es dabei nichts, aber nicht alles ist grau. Auch mit Alzheimer erlebt man Momente der Freude, ist entzückt über den Besuch, auch wenn er ab einem gewissen Stadium stets überraschend erscheint. Lachen ist kein Privileg der Gesunden. Informationen mögen einen nicht mehr erreichen, Wochentag und Tageszeit unklar sein, aber die Empfindsamkeit für Stimmungen bleibt lange unbeeinträchtigt. Gute Laune steckt deshalb auch mit Alzheimer an. Trost kommt manchmal unverhofft, selbst in erschütternden Momenten. Lassen Sie es mich mit den Worten einer alten Dame sagen, die eines Tages ihre Tochter nicht mehr erkannte: "Nein, ich weiß nicht, wer Sie sind", stellte sie freundlich fest. "Aber ich habe Sie trotzdem lieb."

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Zum Schluss

Wieso entwickeln so viele Leute radikale Einstellungen?

Ich wünsche Ihnen einen ganz normalen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr ganz normaler

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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