Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Eine richtig gute Idee
Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,
eine der besten Ideen, die jemals für den öffentlichen Raum ersonnen wurden, ist 2,30 Meter lang und 50 Zentimeter breit: einmal, zweimal, mehrmals prangt sie schneeweiß mitten auf der Straße. "Dickstrichkette" nannten unsere Vorfahren das Muster, daran erinnert sich heute kaum noch jemand. Eine Hamburger Lokalzeitung behauptet, sie habe die viel gängigere Bezeichnung erfunden: Die sei eine Abkürzung für den Begriff "Zeichen eines besonders rücksichtsvollen Autofahrers". Das kann man glauben oder nicht, aber spätestens jetzt ahnen Sie wohl, worum es geht. Genau, um den Zebrastreifen. Offiziell heißt er in der deutschen Behördensprache mittlerweile Fußgängerüberweg, aber sein volkstümlicher Name ist natürlich treffender. Schwarz-weiß gestreift wie das Savannentier: Das versteht jedes Kind. Die weltweit ersten Zebrastreifen schmückten anno 1952 zwei Straßen in Ost-Berlin und München. Am 24. August 1953, morgen vor 70 Jahren, wurden die Zebrastreifen bundesweit eingeführt.
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Mit bleibendem Erfolg, wie die Unfallforschung zeigt: Gut ausgeschilderte Zebrastreifen bieten ähnlich viel Sicherheit wie teure Ampeln. Wo ansonsten Autos ungebremst durchrollen oder durchrasen, bieten Zebrastreifen Abermillionen Passanten zwischen Flensburg und Füssen eine sichere und einfache Möglichkeit, von einer Straßenseite zur anderen zu gelangen. Eine geniale Erfindung, die sich zu Recht weltweit durchgesetzt hat.
Die Straßenstreifen sind jedoch mehr als eine gelungene Bändigung des Autoverkehrs. Sie sind auch eine Metapher, und die kommt mir als Newsletter-Autor nach einer urlaubsbedingten Schreibpause heute sehr gelegen. In der Politik ist nämlich, abgesehen von den notorischen Zankereien der Ampelleute, noch nicht viel los; der Betrieb nimmt nach der Sommerpause erst langsam wieder Fahrt auf.
Eine wichtige Entscheidung trifft die Bundesregierung allerdings: In ihrer Koalitionsrunde will die Mannschaft von Olaf Scholz heute das Selbstbestimmungsgesetz auf den Weg bringen. Künftig soll jeder Mensch in Deutschland durch eine einfache Erklärung beim Standesamt sein Geschlecht und seinen Vornamen selbst festlegen oder ändern können. Das Gesetz richtet sich an transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen. Viele von ihnen empfinden das bisherige Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1980 als demütigend, weil es bei Namens- und Geschlechtsänderungen ein ärztliches Attest, zwei psychologische Gutachten und eine gerichtliche Entscheidung verlangt. Dabei müssen sich die Betroffenen oft intime Fragen gefallen lassen. "Wie oft masturbieren Sie durchschnittlich innerhalb eines Monats?", steht dann zum Beispiel auf dem Fragebogen eines behördlichen Gutachters. Sie werden mir zustimmen, dass es keinem Staat zusteht, seinen Bürgern so eine Frage zu stellen. Weil jedoch transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen eine gesellschaftliche Minderheit sind, hat es die politischen Parteien jahrelang nicht interessiert, wie mit ihnen umgesprungen wurde.
Das hat sich erst mit dem Amtsantritt der Ampelkoalition geändert. SPD, Grüne und FDP mögen sich über Waffenlieferungen oder das Heizungsgesetz bis aufs Blut zoffen – aber in der Gesellschaftspolitik haben sie ähnliche Vorstellungen. Grünen-Familienministerin Lisa Paus und FDP-Justizminister Marco Buschmann haben das Selbstbestimmungsgesetz ausgearbeitet, SPD-Innenministerin Nancy Faeser hat an den Formulierungen gefeilt, damit es nicht von Kriminellen missbraucht werden kann. Nun will das Kabinett den Entwurf durchwinken und in den Bundestag bringen.
Prompt hagelt es scharfe Kritik vom rechten Rand. CSU-Mann Alexander Dobrindt schmäht das "Ideologie-Gesetz der Arroganz-Ampel" und wettert: "Die Idee, sein Geschlecht jedes Jahr neu selbst bestimmen zu können, kann man nur als eine Geschichte aus dem Tollhaus bezeichnen." Das Gesetz sei "irrsinnig und gefährlich", keift auch Martin Reichardt aus dem Bundesvorstand der AfD. "Kinder und Jugendliche werden schutzlos der Trans-Lobby ausgeliefert."
Das ist natürlich blanker Unsinn. Zwar mag es gegenwärtig dringendere Probleme für die Bundesregierung geben. Die Wirtschaft schwächelt, das Rentensystem kippt, die Klimaschutzbeschlüsse genügen vorn und hinten nicht, die Digitalisierung von Behörden und Schulen kommt kaum voran, die Bundeswehraufrüstung stockt. Alles wichtig, darum muss die Ampel sich kümmern, und zwar gründlicher als bisher. Aber für Tausende Menschen bietet das Selbstbestimmungsgesetz die entscheidende Erleichterung, um ein Leben ohne staatliche Schikane zu führen. Es ist für sie der Zebrastreifen, der sie einfach und sicher von einer Seite auf die andere gehen lässt. Indem der Staat ihnen endlich diese Brücke baut, tut er im Übrigen nur seine Pflicht. "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt", heißt es ganz vorn im Grundgesetz, Artikel zwei. Dementsprechend ist das Selbstbestimmungsgesetz genau das, was auch die Erfindung des Zebrastreifens vor 70 Jahren war: eine richtig gute Idee.
Besser als Fußball
Finden Sie den Fußball derzeit auch langweilig? Bis auf die Schwabenpfeile vom VfB liefert kein Team Überraschungen, und die Saudis rauben dem Sport mit ihren Milliardentransfers das letzte Restchen Seele. Wie gut, dass es Leichtathleten gibt! Die messen sich gerade bei der Weltmeisterschaft in Budapest. Heute stehen mehrere Entscheidungen an: um 19:30 im Stabhochsprung der Frauen, ab 21:15 Uhr im 1.500-Meter-Lauf der Männer, im 400-Meter-Lauf der Frauen und im 400-Meter-Hürdenlauf der Männer. Unter den deutschen Sportlerinnen genießt Alica Schmidt besondere Aufmerksamkeit – auch wegen ihrer umjubelten Auftritte in den sozialen Medien, wie meine Kollegin Melanie Muschong berichtet.
Die Schlacht beginnt
In Amerika startet der Wahlkampf: In der ersten "Primary Debate" diskutieren die Kandidaten der Republikaner heute in Milwaukee, wer mit welchen Ideen den demokratischen Präsidenten Joe Biden aus dem Weißen Haus vertreiben will. Wenn sie denn überhaupt Ideen haben, die über das gegenseitige Beschimpfen hinausgehen. Das Spektakel dürfte nämlich wild werden, obwohl der Favorit gar nicht dabei ist: Donald Trump verweigert seine Teilnahme. Stattdessen inszeniert er seine "Verhaftung" in Atlanta und gibt dem TV-Lügenbold Tucker Carlson ein "Interview". Unser Washington-Korrespondent Bastian Brauns hat sich von dem Politikanalysten Alan Schroeder erklären lassen, welche Folgen das für den Wahlkampf hat.
Lesetipps
Der Dauerstreit der Ampelregierung zeigt: Die Dreierkoalition ist gescheitert. Jetzt braucht es wieder eine Große Koalition, findet unser Kolumnist Christoph Schwennicke.
Eine Fußballerin wird von einem Verbandspräsidenten ungewollt auf den Mund geküsst – und Bayern-Grufti Karl-Heinz Rummenigge hat nichts Besseres zu tun, als den Mann zu verteidigen. Was meine Kollegin Kim Steinke davon hält, sollten Sie lesen.
Die t-online-Recherchen zur Hochstapleraffäre in der AfD sorgen für Wirbel. Mit ihrem jüngsten Beschluss riskiert Alice Weidel alles, kommentiert mein Kollege Jonas Mueller-Töwe.
Ist die Gegenoffensive der Ukrainer gescheitert? Der Militärexperte Gustav Gressel erklärt im Interview mit meinem Kollegen Patrick Diekmann, warum Putin seinen barbarischen Krieg doch noch gewinnen könnte.
Ohrenschmaus
Der italienische Sänger Toto Cutugno ist gestorben. Seinen größten Gassenhauer habe ich im Urlaub hoch und runter gehört. Grazie per la musica, Toto!
Zum Schluss
Endlich ist die Sommerpause vorbei und in Berlin geht's wieder los!
Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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