Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch USA cleverer: Deutschland bekommt die Quittung
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Wo wir sind, ist vorn. Und wenn wir hinten sind, ist hinten vorn. Ungefähr so muss es sich für unsere europäischen Nachbarn angehört haben, als sie nach Lösungen für die Explosion der Energiepreise gesucht haben und Olaf Scholz mit seinem Doppelwumms um die Ecke geprescht kam. Herr Wichtig knallte die Geldbündel auf den Tisch, half mit großer Geste seinem Volk und den eigenen Firmenbossen aus der Gaspreispatsche und hatte für die armen Schlucker von nebenan auch noch etwas übrig. Nämlich einen Kommentar: Macht mal Platz, ihr Loser!
Zugegeben, wer dem Bundeskanzler schon einmal länger als 15 Sekunden gelauscht hat, der weiß, dass er sich dermaßen markant noch nie geäußert hat. In der Sache ändert das aber nichts: Deutschland hat mit seinen üppigen Hilfspaketen für die heimische Industrie seine Nachbarn an die Wand gespielt. Trotz des Protestgeheuls aus Rom, Paris und anderen europäischen Hauptstädten erhalten deutsche Unternehmen großzügigere Unterstützung als in anderen Ländern des gemeinsamen Marktes, der sich eigentlich durch gleiche Bedingungen und Chancen auszeichnen sollte. Das "level playing field" – Ökonomen-Jargon für fairen Wettbewerb – ist durch den Doppelwumms ganz schön in Schieflage geraten. Bisher hat es die deutsche Politik an Empathie für die weniger betuchten Mitgliedsstaaten fehlen lassen. Doch dem Einfühlungsvermögen wird nun auf die Sprünge geholfen – indem Deutschland jetzt dieselbe unangenehme Erfahrung macht: Ein Big Spender spielt den bundesrepublikanischen Zwerg an die Wand. Und diesmal sitzt Berlin im selben Boot wie seine lieben, ebenso verzwergten Nachbarn.
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Die USA packen nämlich die ganz große Wundertüte aus und subventionieren die Errichtung von Fabriken, dass es nur so kracht. In Europa ist man alarmiert. Wirtschaftsminister Habeck empört sich gemeinsam mit seinen EU-Kollegen über das transatlantische Konkurrenzgehabe und sorgt sich jetzt deutlich betroffener um das "level playing field" als noch bei der Verkündigung des Berliner Milliardenfeuerwerks. Die Aufregung ist berechtigt. Die Truppe um Präsident Joe Biden hat eine Wirtschaftsförderungsmaschinerie zusammengeschraubt, die unternehmerische Investitionen aus dem Ausland wie ein Staubsauger in die USA zieht: Lieber CEO, Sie möchten möglicherweise zu uns? Wir hätten da einen richtig fetten Zuschuss für Sie. Unterschrift bitte unten rechts. Welcome to America!
Kein Wunder also, dass Unternehmen nach Westen driften. Kräftigen Rückenwind bekommt der Trend durch die Energiepreise. Während in Europa angesiedelte Firmen erst in die leere Pipeline und dann in die Röhre schauen, sitzen Unternehmen, die in den USA produzieren, beim weltgrößten Erdölförderer direkt an der Quelle. Das Preisgefälle lockt die Firmen westwärts, und die US-Subventionen ziehen noch kräftiger mit.
Der doppelte Anreiz zur Auswanderung wirkt: Der Exodus aus Europa läuft bereits an. Tesla hat die geplante Herstellung von Akkus in Brandenburg erst mal auf Eis gelegt und schaut mit verklärtem Blick auf Standorte in der amerikanischen Heimat. Einem Unternehmen aus Schweden sind für seine geplante Batteriefabrik die USA auf einmal näher als die Wiese in Norddeutschland, auf der das Werk eigentlich stehen sollte. Allerorten ist ein geschäftiges Rascheln zu hören, während Unternehmen ihre Koffer packen. Nur an den Kabinettstischen in Europa hört man ein hektisch flatterndes Geräusch. Das ist der Puls.
Ja und? So ist das nun mal im Kapitalismus, könnte man sagen. Geschäft ist Geschäft – auf Wiedersehen, au revoir, hasta la vista, jedenfalls bis die Konditionen wieder stimmen. Und überhaupt: Subventionieren wir Europäer nicht auch alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist?
Mag sein. Aber die Großzügigkeit von Mister Biden ist mit ein paar klitzekleinen Auflagen garniert. So erhält zum Beispiel demnächst jeder amerikanische Käufer eines Elektroautos einen Bonus von erfrischenden 7.500 Dollar – vorausgesetzt, das E-Auto wurde in den USA montiert. Ansonsten nicht. In den Heimatländern von VW und Renault kommt das gar nicht gut an.
Und noch etwas fuchst die Vertreter aus der EU: Washington schüttet den Geldsegen mit besonderem Eifer über grünen Technologien aus. Das klingt zwar erst mal gut, denn bekanntermaßen ist es für die klimaneutrale Neuausrichtung der Industriestaaten nicht nur in Europa höchste Zeit. Der Haken: Die USA vergrößern damit ihren Vorsprung in der wichtigsten Zukunftsbranche. Ganz vorne bei klimaneutraler Technik hätten die Europäer, und ganz besonders die Ampelleute in Berlin, sich eigentlich gerne selbst gesehen. Nun schwimmen ihnen die Felle davon, und das kann die ganze Wirtschaft den Bach runterziehen.
Jetzt wird verhandelt, solange es noch geht. Die Zeit ist knapp, denn das amerikanische Förderungsprogramm ist vom Kongress bereits beschlossen und tritt zum Jahreswechsel in Kraft. Die Chancen auf eine Einigung stehen nicht gut. Denn im Land der unbegrenzten Möglichkeiten kloppen sich Demokraten und Republikaner darum, wer am lautesten "kauft amerikanisch!" brüllt und deshalb als größter Patriot ganz oben aufs Treppchen kommt. Mit Fairness im internationalen Handel lässt sich in den USA kein Blumentopf und schon gar keine Wahl gewinnen.
Auf unserer Seite des Atlantiks hingegen sind die Optionen, um gegen die Benachteiligung vorzugehen, nicht so doll. Zwar denkt man über eine Beschwerde bei der Welthandelsorganisation nach – aber bis die Erfolg hätte, zögen Jahre ins Land. Dann sind die fortgelockten Unternehmen längst über alle Berge. Wie wäre es also alternativ mit einer Retourkutsche: Vergeltung durch Strafen und Zölle? Bloß nicht. Denn damit riskiert man einen Handelskrieg mit den USA, während transatlantische Einigkeit gegenüber China und Russland doch jetzt bitter nötig ist. Natürlich könnten Scholz, Macron und ihre Kollegen im Wettkampf um das größte Geschenk an die Industrie auch einfach mitbieten: Subventionswettbewerb nennt sich das dann. Der ist aber so teuer und so hässlich, wie er klingt.
Die Amerikaner jedenfalls geben sich unschuldig. "Wir greifen doch nur unseren armen, gebeutelten Bürgern unter die Arme", flötet es aus Washington, weshalb die entsprechende Gesetzgebung als "Inflation Reduction Act" firmiert, also als Inflationsreduzierungsgesetz. Und hey, es ist sogar klimafreundlich! Wieso Wettbewerbsverzerrung? Sorry, your problem, wir helfen eben nur bei uns daheim.
In Paris, Rom und Brüssel hat man diesen Spruch kürzlich schon mal irgendwo gehört: aus Deutschland. In Berlin hingegen könnte man ihn für ein unerwartetes Echo halten. Die Herren Scholz, Habeck und Lindner jedenfalls sollten den amerikanischen Egotrip für einen Moment der Einkehr nutzen: zurückschauen, zur Ruhe kommen, sinnieren über Weisheit, Fairness und den Doppelwumms. Und der geflüsterten Botschaft lauschen, die über den Atlantik herüberweht: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Front gegen die Mullahs
Seit Ende September revoltieren Iraner gegen das Altmännerregime im Iran. Immer verbissener verteidigen die bärtigen Mullahs im angeblichen Gottesstaat ihre Macht, lassen Demonstranten inhaftieren oder gleich auf der Straße zusammenschießen. Schon früh hatte sich deshalb Deutschland nicht nur für EU-Sanktionen gegen den Iran eingesetzt, sondern zusammen mit Island auch eine Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrats beantragt.
Heute ist es so weit: In Genf trifft sich das Gremium, in dem 47 Mitgliedsländer vertreten sind, zur Sondersitzung – und Außenministerin Annalena Baerbock reist persönlich an. Sie will für eine Resolution werben, die die iranische Regierung auffordert, die Gewalt gegen die eigene Bevölkerung einzustellen und außerdem eine unabhängige Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen in die Wege leiten. Die Resolution kann mit einfacher Mehrheit angenommen werden, selbstverständlich ist das allerdings nicht. Schließlich gehören dem Rat auch Länder an, die selbst Menschenrechte brutal verletzen. China zum Beispiel.
Bittere Zahlen
Schläge, Stalking, Vergewaltigung: Häusliche Gewalt ist in Deutschland bitterer Alltag. Im Jahr 2020 wurden laut Bundeskriminalamt mehr als 148.000 Menschen Opfer von Gewalt in einer bestehenden oder ehemaligen Partnerschaft – 4,4 Prozent mehr als 2019. Vier von fünf Betroffenen waren Frauen. Heute Vormittag stellen BKA-Präsident Holger Münch, Innenministerin Nancy Faeser, Familienministerin Lisa Paus und die Leiterin des Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen, Petra Söchting, die Zahlen für das Jahr 2021 vor. Und dann braucht es dringend besseren Schutz für Betroffene.
Was lesen?
Gestern Abend haben wir bei "Maischberger" über die WM in Katar, die neue Gefahr in der Ukraine und die absurde Bürgergelddebatte diskutiert. Hier können Sie die Sendung anschauen.
Was denken unsere Leserinnen und Leser über das zurechtgestutzte Bürgergeld? Mein Kollege Mario Thieme hat Stimmen zusammengetragen.
Die deutsche Nationalmannschaft hat ihr erstes WM-Spiel krachend verloren. Der DFB ist schon fast am Boden, kommentiert unser Sportchef Andreas Becker.
Nancy Faeser trug beim deutschen WM-Spiel in Katar demonstrativ die "One Love"-Binde. Die Innenministerin hat damit gerade noch die Kurve gekriegt, schreibt unsere Reporterin Annika Leister.
Was amüsiert mich?
Ganz Deutschland ist im WM-Fieber.
Ich wünsche Ihnen trotz allem einen fröhlichen Tag. Morgen schreibt der geschätzte Kollege David Digili den Tagesanbruch, von mir hören Sie am Samstag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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