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WM 2022 oder Fifa-Fressen? Statt Leidenschaft regiert in Katar das Geld


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Tagesanbruch
Nichts als Wut und Abscheu

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 21.11.2022Lesedauer: 5 Min.
Gute Laune auf der Tribüne bei der WM-Eröffnung: Fifa-Chef Gianni Infantino (r.) und Katars Staatsoberhaupt Tamim bin Hamad Al Thani.Vergrößern des Bildes
Gute Laune auf der Tribüne bei der WM-Eröffnung: Fifa-Chef Gianni Infantino (r.) und Katars Staatsoberhaupt Tamim bin Hamad Al Thani. (Quelle: Sportimage/David Klein /imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie beim Auftaktspiel der WM gestern mitgefiebert, gejubelt, geweint, waren Ihre Nerven zum Zerreißen gespannt? Nein? Wen wundert's. Mit Katar als Gastgeber bestritt schließlich eine Mannschaft das Eröffnungsspiel, der man viel nachsagen kann – Talent für den Ballsport gehört eher nicht dazu. Mein Kollege Benjamin Zurmühl war im Stadion und erklärt Ihnen hier, warum viele Fans gingen, lange bevor das Spiel vorbei war.

Wenige Stunden vor dem Anpfiff trübten Gerüchte über eine Bestechung der Gegner aus Ecuador das Bild. 7,4 Millionen Dollar soll Katar demnach für einen 1:0-Sieg bezahlt haben. Es war eine Behauptung ohne Belege. Und tatsächlich verloren die Katarer 0:2. Dass das Gerücht trotzdem die Runde machte, dürfte daran liegen, dass es sich nahezu perfekt in das Bild eines Events fügt, das schon jetzt als hoffnungslos verkorkst gilt.

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Denn aus einem Fest der Emotionen, als das eine Fußball-WM einst galt, ist schon lange das Fest des Geldes geworden. Und in Katar erreicht diese Entwicklung, die vor Jahrzehnten begann, ihren vorläufigen Höhepunkt.

Dass der winzige, aber enorm reiche Golfstaat vier Wochen lang Gastgeber sein kann, war nur möglich, weil bei der Vergabe 2010 Bestechung im Spiel war. Auch zwölf Jahre später muss Katar für das vermeintliche Fußballfieber zahlen: Dort ziehen nun für günstige PR bezahlte Touristen als "Fans" durch die Straßen.

Ehrlichkeit, Fairplay, Offenheit, Integration – auf all diese Werte, auf die sich der Fußball so gerne beruft, pfeift die Fifa seit Jahren. Die WM 2022 ist nicht mehr als ein Ablasshandel: Der Fifa bringt sie Geld. Und Katar soll sie Ansehen bringen, das bei anderen Deals auf internationaler Bühne unter anderem vergessen macht, wie schlecht es dort um die Menschenrechte bestellt ist.

Fifa-Chef Gianni Infantino versuchte mit einem absurden Auftritt am Samstag, trotz allem den Geist des Fußballs zu beschwören. "Heute fühle ich sehr starke Gefühle", sagte er bei einer Pressekonferenz. Er fühle sich als Katarer, als Araber, afrikanisch, homosexuell, behindert, als Arbeitsmigrant. Und als ihm – wenig überraschend erst auf Nachfrage – auffiel, dass er die Frauen in seiner Aufzählung vergessen hatte, ergänzte er noch: Natürlich fühle er sich auch als Frau.

Der identitätspolitisch recht flexible Infantino schenkte mit diesem Satz einmal all jenen Beachtung, die in Katar diskriminiert werden und der Fifa in ihrem Auswahlprozedere egal waren. Diese gesellschaftlichen Gruppen machen allerdings mindestens die Hälfte der Weltbevölkerung aus.

Dieselbe Rede wird Infantino im nächsten Jahr vermutlich noch einmal halten können. Dann findet die U-20-WM in Indonesien statt – unter ähnlichen Bedingungen wie in Katar.

Ich möchte Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, nicht die Freude verderben, die Sie womöglich in den nächsten Wochen bei einigen Spielen empfinden. Aber Wut, gemischt mit einer großen Portion Abscheu – das waren die zwei Emotionen, die ich bei Infantinos Auftritt fühlte. Denn ich kenne viele, die Fußball dort machen, wo es wirklich noch um Fußball geht: Männer und Frauen, die ehrenamtlich Kinder trainieren, am Wochenende stundenlang zu Spielen fahren oder sich auch mit mehr als 50 Jahren noch in Altherrenmannschaften die Knochen kaputt machen. Sie tun das aus Spaß, aus Leidenschaft – und weil sie tatsächlich glauben, dass Fußball Werte transportiert, die diese Welt etwas besser machen.

Infantino und seine korrupte Truppe wirken dagegen wie Teilnehmer am Bankett im 70er-Jahre-Film "Das große Fressen": Da treffen sich vier Freunde, die das Leben nicht mehr erfüllt, um sich an einem Wochenende buchstäblich zu Tode zu fressen – auf so unappetitliche Weise, dass sogar die Prostituierten, die sie für ihre Anwesenheit bezahlen, rasch Reißaus nehmen.

Die Fifa hat diesen Zustand inzwischen ebenfalls erreicht: Infantino mag von Gefühlen und Werten faseln, die Welt sieht ihn und seine dekadente Männerrunde dagegen mit vollgeschlagenen Bäuchen und niemals satten Mündern am Buffet. Geschlachtet wird – und das ist das Traurige – für das reich gedeckte Fifa-Buffet allerdings der Fußball selbst.

Die vorläufige Bilanz der WM liest sich deswegen bereits bei ihrem Start bitter: Auf der einen Seite steht das wichtigste Fußballturnier der Welt so schlecht da wie nie, sogar hart gesottene Fans wenden sich ab. Auf der anderen Seite verkündete Infantino am Sonntagabend Rekordeinnahmen für die Fifa von rund 7,25 Milliarden Euro durch die Verträge für diese WM – das sind noch einmal gut eine Milliarde Euro mehr als bei der WM 2018 in Russland. Der große Ausverkauf des Fußballs ist und bleibt extrem rentabel.

Gibt es denn gar keine Hoffnung? Doch, einen Hoffnungsschimmer vielleicht: Dass, ganz wie beim "Großen Fressen", die Fifa stirbt, noch bevor das Buffet leer ist.


Enttäuschung in Ägypten

Lange diskutierten die Vertreter von 200 Staaten auf der Weltklimakonferenz in Ägypten. So lange sogar, dass am Tagungsort schon alle Geschäfte schlossen und die Händler abreisten. Wer das als positives Zeichen werten wollte, wurde enttäuscht, denn am Sonntag machte sich mit der Abschlusserklärung rasch Ernüchterung breit: Das Ende für die meisten fossilen Brennstoffe wird darin nicht thematisiert. Nur mit Mühe und Not hat die Bekundung, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken, es noch ins Papier geschafft. Als einziger Meilenstein wird die Einrichtung eines Fonds gefeiert, auf den Länder bei Schäden und Verlusten durch den Klimawandel zugreifen können sollen. Warum das noch lange nicht reicht, erklärt Ihnen meine Kollegin Sonja Eichert hier.


Was steht an?

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) reist für zwei Tage in die Türkei. In Ankara soll sie unter anderem ihren türkischen Amtskollegen Süleyman Soylu treffen, der als nationalistischer Hardliner in Erdoğans Kabinett gilt. Faeser will sich mit ihm austauschen zu den Themen Migration und Terrorismusbekämpfung. Noch immer offen ist, ob die Ministerin danach weiterreist zum Auftaktspiel der deutschen Elf in Katar am Mittwoch.

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Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) muss im Untersuchungsausschuss in Stuttgart zu einer Polizeiaffäre aussagen. Es geht unter anderem um einen Fall sexueller Belästigung und um ein von Kretschmanns Innenminister Strobl an die Presse durchgestochenes Anwaltsschreiben.

Ein heiterer Termin erwartet Joe Biden: Der US-Präsident, der gerade seinen 80. Geburtstag beging, folgt einem alten Brauch und begnadigt kurz vor dem Feiertag Thanksgiving am 24. November einen Truthahn.


Was lesen?

Meine Kollegen Noah Platschko und Benjamin Zurmühl berichten für Sie über die wohl brisanteste Fußball-WM aus Katar. In ihrem "Telegramm aus Doha" beschäftigen sie sich jeden Tag mit den Spielen und allem, was daneben wichtig, aufregend, spannend, absurd ist. Im ersten Newsletter geht es um Sicherheitskontrollen, Gianni Infantino und seine Pläne für die Zukunft. Das Luxushotel der DFB-Elf und die Schwierigkeit, es überhaupt zu erreichen, sind im aktuellen Newsletter Thema.

Die Truppen des Kremls haben sich zurückgezogen, doch in Cherson in der Südukraine macht sich Ernüchterung breit. In einer Baptistenkirche kämpft ein Pfarrer gegen die alltägliche Not – während Verteilungskämpfe um die wichtigsten Güter ausbrechen. Mein Kollege Daniel Mützel berichtet aus Cherson.


Was amüsiert mich?

Wie unser Karikaturist Mario Lars sich die Deutschen beim Schauen dieser Fußball-WM vorstellt ...

Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Start in die Woche. Morgen begleitet Sie Florian Harms wieder in den Tag.

Herzliche Grüße,

Annika Leister

Ihre Annika Leister
Politische Reporterin
Twitter: @AnnLei1

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Mit Material von dpa.

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