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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Reportage aus Cherson "Habe ich die Deutschen enttäuscht?"
Die Kremltruppen haben sich verzogen, doch in Cherson in der Südukraine macht sich langsam Ernüchterung breit. In einer Baptistenkirche kämpft ein Pfarrer gegen die alltägliche Not – während Verteilungskämpfe um die wichtigsten Güter ausbrechen.
Serhiy Syniy sitzt vor einem Stapel Weißbrot und erklärt seinen Plan: "50 Prozent gehen heute raus, der Rest die nächsten Tage. Und Wasser gibt es erst morgen wieder."
Die Entscheidung fällt dem 73-jährigen Pastor sichtlich schwer. "Da stehen hungrige Menschen stundenlang in der Kälte für einen Laib Brot und eine Flasche Wasser. Aber die meisten muss ich wieder wegschicken", sagt er und redet sich in Rage. "Glauben Sie, ich will das? Natürlich nicht." Syniy scheint plötzlich aufgebracht über den eigenen Plan. Aber er sieht keinen anderen.
Vor Syniys kleiner Baptistenkirche am Stadtrand von Cherson in der Südukraine schieben sich Menschen ungeduldig durch das Gittertor. Sie warten schon seit Stunden im Nieselregen, hoffen auf Wasser und den Berg Weißbrot, auf dem Syniy sitzt. Die Lage ist angespannt, die wachsende Verzweiflung der Menschen spürbar.
Erst gestern habe es wieder Rangeleien um die letzten Wasserflaschen gegeben, berichtet der Pfarrer. "Die Menschen sind emotional am Anschlag. Sie gehen aufeinander los, weil sie mit fünf Litern pro Familie nicht auskommen. Damit kann man sich kaum die Zähne putzen oder die Haare waschen."
"Es herrscht Chaos"
Nach der Befreiung durch ukrainische Truppen vor rund einer Woche herrscht in Cherson eine humanitäre Notlage: Kein Strom, kein fließend Wasser, auch Gas und Sprit sind Mangelware. Bevor die Kremltruppen die Stadt verließen, haben sie die regionale Stromversorgung und die Wasserinfrastruktur gesprengt. Ein klares Kriegsverbrechen der russischen Armee, neben weiteren, wie etwa den zahlreichen, mutmaßlichen Folterverbrechen in der Region. Lebensmittel gelangen nur über Hilfsorganisationen oder Behörden in die Stadt. Die meisten Geschäfte sind geschlossen.
Doch nicht jede Hilfe ist gut organisiert: Die von der ukrainischen Regierung geschickten Lkw karren ihre Güter etwa einfach auf den zentralen Freiheitsplatz und laden sie dort ab, kritisiert Synyi. "Da herrscht Chaos." Allzu oft bekämen nur diejenigen etwas, die überhaupt die Kraft haben, stundenlang in der Kälte zu stehen.
Aber wie anders organisieren? Der 73-Jährige kommt ins Grübeln. Wie lassen sich die Schwächsten versorgen, die Alten und Kranken, die allein in ihren Wohnungen hocken und vom Rückzug der Russen vielleicht noch gar nichts mitbekommen haben? Der Pfarrer, der zuvor noch Gott und der ukrainischen Armee gedankt und seiner Gemeinde eine bessere Zukunft versprochen hat, fängt plötzlich an zu weinen. "Ich führe meinen eigenen Kampf in mir drin", sagt er und meint seinen Krebs, der schon die Knochen angreife.
Manchmal zweifle er daran, dass er das alles schaffe: seine Erkrankung, das Chaos in der Stadt, die Menschen, für die er stark sein muss. "Acht Monate permanente Angst unter russischer Besatzung, jetzt diese Hilflosigkeit." Hinzu kommt: Eine deutsche Freiwilligenorganisation, die ihm tags zuvor Hilfslieferungen versprochen hatte, meldet sich plötzlich nicht mehr bei ihm. "Habe ich sie enttäuscht?", fragt der Pfarrer und wirkt von Minute zu Minute unsicherer.
Die Rangeleien und Schreie in den Schlangen, die Zweifel von Pastor Synyi – es sind Szenen, die eine neue Realität im gerade erst befreiten Cherson beschreiben. Vor einer Woche gingen die Bilder der glücklichen Menschen von Cherson um die Welt, die ukrainischen Soldaten um den Hals fielen und blau-gelbe Flaggen schwenkten. Nun macht sich allmählich Ernüchterung breit.
Die Menschen genießen ihre wiedererlangte Freiheit, aber sie müssen erneut ums Überleben kämpfen. Es herrscht Katerstimmung in Cherson.
Ärger über die Behörden in Cherson
"Wir leben in einer kollektiven Depression, wie schon vor dem Krieg", sagt Alexei Sandakov, der eine Videoagentur und einen Tischtennisclub in Cherson betreibt. Der 44-Jährige fuhr während der vergangenen acht Monate mit seinem Fahrrad durch die Stadt und filmte heimlich die Besatzer, erzählt er. Das Material schickte er an internationale Medien, "um der Welt zu zeigen, was in Cherson wirklich passiert", sagt Sandakov.
Auch bei ihm ist die Euphorie teils verflogen, stattdessen wächst die Ungeduld. "Als die Invasoren nach Cherson kamen, standen am zweiten Tag fünf Lkw mit Benzin in der Stadt. "Warum schaffen unsere Behörden das nicht?", fragt der 44-Jährige. Vor allem der Mangel an Sprit sei ein Riesenproblem: Der begehrte Brennstoff könnte Generatoren und Wasserpumpen versorgen und damit Strom und Wasser liefern. "Aber die meisten Tankstellen sind kaputt oder ausgeraubt", sagt Sandakov.
Tatsächlich herrscht fast in der gesamten Stadt ein totaler Blackout. Kaum ein Haus hat Strom. Nur hier und da hört man einen Generator knattern, am Leben gehalten vom letzten Sprit, den die Russen zurückließen. Sandakovs Produktionsfirma oder Sinyis Kirche gehören zu den wenigen Begüterten, zur Sprit-Elite von Cherson.
Sandakov, der in Bielefeld Wirtschaftsrecht studiert hat und bis 2017 als Steuerberater in Deutschland gearbeitet hat, hält die lokalen Behörden für unfähig und korrupt. "Das Missmanagement in der Stadt war der Grund, warum die Russen überhaupt so schnell hier einfallen konnten. Die politische Klasse in Cherson war von Moskau gekauft."
Tatsächlich übergab Chersons damaliger Bürgermeister Ihor Kolychajew den Russen kampflos die Stadt. Gerüchten zufolge hatten Mitglieder der Stadtverwaltung zudem die Pläne der umliegenden Minenfelder an den Feind durchgestochen. Russische Panzertruppen konnten blitzkriegartig von der Krim aus durch den ukrainischen Süden marschieren. Nach drei Tagen standen sie in der Regionalhauptstadt, am 2. März hatten sie die volle Kontrolle.
"Wer hat vor dem Krieg von Cherson gehört? Es war eine vergessene Region", sagt Alexei Sandakov. "Ich sehe nicht, dass es jetzt anders wird." Januschewitsch, der Gouverneur der Region Cherson, mache hauptsächlich "Eigen-PR", anstatt eigene Hilfen zu organisieren. "Der wartet auf internationale Hilfsgelder." Der 44-Jährige wolle daher schnell raus aus der Stadt, nach Kiew, "um ein paar Tage durchzuatmen".
Russland beginnt, die Stadt zu bombardieren
Als sich die Kremltruppen Anfang November aus Cherson zurückzogen, ließen sie den Ukrainern eine Botschaft zurück: Wir kommen wieder. Das war einerseits eine Drohung, andererseits der Versuch der russischen Armee, den Abzug als vorübergehende Maßnahme zu verkaufen und dem heimischen Publikum ihre Niederlage zu verschleiern.
Die ersten Tage der Befreiung verliefen ruhig. Statt der befürchteten "Todesfalle", vor der etwa der ukrainische Regierungsberater Michailo Podolyak im t-online-Interview gewarnt hatte, wurden Selfies gemacht und Soldaten geküsst. Selbst der Besuch von Präsident Wolodymyr Selenskyj am vergangenen Montag reizte die Russen nicht, die in der Nähe stehende Rohrartillerie gegen die Stadt zu richten.
Das änderte sich am Mittwoch. Russische Truppen, mutmaßlich vom Dorf Oleschky aus, beschießen das Flussufer von Cherson mit Mörsergranaten. Tags darauf trifft es den Hafen. In der Stadt sind die Einschläge deutlich zu hören, ebenso das Donnern des ukrainischen Gegenfeuers.
Doch das Artilleriegefecht über dem Dnipro scheint die meisten nicht zu stören. Während die unsichtbaren Geschosse links und rechts über ihre Köpfe hinwegfliegen, stehen die Chersoner Schlange für SIM-Karten und Windeln. Wer sich traut, fährt zum Dnipro und füllt Flusswasser ab, in Sichtweite des russisch kontrollierten Gebietes.
Russische Saboteure und frei herumlaufende Häftlinge
In der Polizeistation von Cherson geht es tumultartig zu. Schwer bewaffnete Polizisten und Soldaten marschieren durch die Flure, vorbei an Bürgern mit fehlenden Pässen und anderen Alltagssorgen. Die Glasscheibe am Schalter ist von Kugeln durchsiebt und nur notdürftig mit Tesafilm überklebt. Eine Frau meldet einen Autodiebstahl, ein mäßig motivierter Beamter notiert etwas in seinen Block.
"Wir versuchen gerade, das Chaos in den Griff zu bekommen", sagt ein Polizist mit Sturmgewehr und müden Augen. Doch die Sicherheitsbehörden hätten es nicht nur mit russischen Saboteuren zu tun, sondern auch mit frei herumlaufenden Kriminellen: "Bevor die Russen gegangen sind, haben sie Mörder, Diebe und andere Häftlinge aus den Gefängnissen befreit. Allein heute haben wir 34 wieder eingefangen", so der Beamte.
Das Artillerieduell vom Vortag weckt böse Vorahnungen. Die Stimmung in der Stadt ist angespannter, was sich vornehmlich am Verhalten der Sicherheitskräfte ablesen lässt. Der Freiheitsplatz wurde am Freitag für den Straßenverkehr gesperrt, Autos werden von grimmigen Polizisten in die Seitenstraßen beordert. Auf dem nun weltbekannten Platz tummeln sich noch immer Hunderte, die meisten Bewohner sind wegen der Hilfsgüter gekommen, die hier angekarrt werden. Auch die Ukraine-Flaggen wehen nur noch vereinzelt im Wind.
"Sie klauten sogar Böden aus den Wohnungen"
Pfarrer Sinyi hat mittlerweile seinen Mut wieder gefasst. Doch auch wenn die nächsten Wochen und Monate in Cherson hart werden würden, seien ihm die Schrecken der russischen Besatzung noch gut im Gedächtnis. Der 73-Jährige berichtet von Fällen, wo Soldaten Klos, Waschbecken und sogar Linoleumböden aus Wohnungen rissen. "Kurz vor ihrem Abzug haben sie ihre Lkw vollgeladen und sind weggefahren."
Er habe jede Woche in seiner Sonntagsmesse für die Befreiung gepredigt. „Auch wenn sich viele an die neue Lage gewöhnt hatten und dachten, sie lebten für immer in Russland."
Am Ende kommt Pfarrer Synyi doch noch zu den erhofften Hilfspaketen. Die deutschen Freiwilligen der Organisation House of Hope luden am Samstag laut eigenen Angaben 2,5 Tonnen Nudeln, Dosenfleisch und Hygieneartikel beim Kirchenmann in den Hof.
"Ich bin überglücklich" schreibt der Pfarrer schließlich per SMS. "Einen Großteil der Boxen haben wir gleich verteilt." Und der Berg Weißbrot, den Synyi tagelang bewachte, wie ein Hirte seine Schafe? "Ist fast weg."
- Recherche in Cherson am 16. und 17. November