Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Jetzt müssen sie liefern
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
nein, als "Wildsau" und "Gurkentruppe" beschimpfen sie sich nicht. Ganz so verwildert wie einst Angela Merkels Koalitionäre aus CDU, CSU und FDP, die sich öffentlich Beleidigungen um die Ohren hauten, sind die Ampelleute noch nicht. Aber sie sind schnurstracks auf dem Weg in den Boxring, wo man dem jeweils anderen endlich mal zeigen kann, was 'ne Harke ist: Das Ampelbündnis schrumpft unter dem Druck der multiplen Krisen zu einer notdürftigen Zweckgemeinschaft zusammen, in der man den Partner wie in einer schlechten Ehe nur deshalb noch erträgt, weil man ohne ihn noch übler dran wäre.
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Vielleicht reicht es manchen Koalitionären jetzt auch einfach. Lange haben die Sozialdemokraten stillgehalten, weil der Kanzler die Regierungstruppe zum Start auf Harmonie eingeschworen hatte. Doch unter dem Leidensdruck steigender Preise und fallender Umfragewerte können viele nicht mehr an sich halten. Der Ton in der Koalition wird rauer, und es schießen nicht mehr nur SPD und Grüne gegen den ungeliebten FDP-Chef Christian Lindner. Nun gehen auch Bundestagsspitzen von SPD und Grünen öffentlich aufeinander los.
Beispiel Gasumlage: Dass dieses hastig zusammengeschriebene Gesetz handwerklicher Murks ist, räumen mittlerweile auch viele Koalitionäre ein. Aber anstatt die gemeinsame Linie zu verteidigen und mit vereinten Kräften eine bessere Lösung auf die Beine zu stellen, haben die SPD-Genossen erst einmal den Schwarzen Peter dem Wirtschaftsminister zugeschoben – schließlich stammt das Machwerk aus seinem Haus. "Das Prinzip Habeck geht so: Auftritte filmreif, handwerkliche Umsetzung bedenklich, und am Ende zahlt der Bürger drauf", motzte SPD-Vizefraktionschef Dirk Wiese, und Parteichef Lars Klingbeil schickte die Ermahnung hinterher: "Am Ende zählen in der Politik nicht nur schöne Worte." In der Schule wäre das die Note 5.
Prompt konterte Grünen-Vizefraktionschef Konstantin von Notz mit einer Breitseite gegen den Kanzler höchstpersönlich: "Die schlechte Performance des Bundeskanzlers, seine miesen Umfragewerte, Erinnerungslücken bei Warburg und seine Verantwortung bei Nord Stream 2 werden durch illoyales Verhalten und Missgunst in der Koalition nicht geheilt werden", wetterte er im Miesepetermedium Twitter. Das ist schon eine glatte 6.
Natürlich reagierte Scholz darauf nicht, wie er überhaupt Kritik meistens schweigend aussitzt – getreu Helmut Schmidts Motto "noch nicht einmal ignorieren". Auch seine wichtigsten Minister sparen sich Widerworte ebenso wie Solidaritätsadressen für die Partnerparteien. "Christian Lindner bleibt verdächtig still", schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl. Kein Wunder: "Mit seinem Versuch, der EU die Mehrwertsteuer für die Gasumlage abzuringen, ist er gescheitert. Annalena Baerbock wiederum hat sich in ihr Außenministerium zurückgezogen und mischt sich erstaunlich wenig ein."
Die einen braten sich eins über, die anderen schweigen beredt – die Kommunikation der Ampelleute macht immer offensichtlicher, wo das zentrale Problem dieser Koalition liegt: In der Gesellschaftspolitik (Selbstbestimmungsgesetz, Adoptionsrecht, Cannabis-Legalisierung und so weiter) verbinden die drei Parteien viele Gemeinsamkeiten, doch in den Kernbereichen jeder Regierungsarbeit nicht. Sei es die Übergewinnsteuer oder die Schuldenbremse, das Tempolimit oder die AKW-Laufzeiten, die Corona-Regeln oder die Frage, welche Bürger in welcher Höhe von den steigenden Preisen entlastet werden sollten: Die Vorstellungen von sozial bewegten Genossen, grünen Weltverbesserern und liberalen Gutverdieneranwälten in der Finanz-, Wirtschafts-, Energie-, Gesundheits-, Umwelt- und Verkehrspolitik liegen kilometerweit auseinander. Unter Druck reißt der Abstand nun zum Abgrund auf, der Harmoniekleber aus den Koalitionsverhandlungen ist vertrocknet. "Der Zusammenhalt zerbröselt", schreiben unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert.
Das ist die Ausgangslage, wenn der Kanzler heute Morgen seine Minister und die Staatssekretäre zur Kabinettsklausur im Schloss Meseberg nördlich von Berlin bittet. Formal stehen dort die Energiekrise, die Inflation, der Ukraine-Krieg und die verbummelte Digitalisierung auf der Agenda. De facto geht es auch um das Wichtigste, was eine Koalition zusammenhält: den inneren Kitt, das gegenseitige Vertrauen, den unbedingten Willen, auch in Krisenzeiten eisern zusammenzuhalten und dafür Kompromisse zu schmieden, selbst wenn sie bitter schmecken. In jedem Führungshandbuch kann man nachlesen, was es dafür braucht: natürlich die konstruktive Bereitschaft aller Beteiligten – vor allem aber eine überzeugende Führungsperson, die klar die Richtung vorgibt, empathisch das Team zusammenschweißt, Skeptiker einbindet, aber auch Widerborste in die Schranken weist.
Ist Olaf Scholz diese charismatische Führungsperson, kann er das? Wohl kein Kanzler seit Adenauer ist so schnell nach Amtsantritt von so vielen so großen Problemen heimgesucht worden wie er. Das vergessen einerseits ja viele, die sich nun über jeden neuen Fehler der Ampelregierung ereifern, als breche schon der jüngste Tag an. Andererseits darf man neun Monate nach dem Start des selbsternannten "Bündnisses für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit" durchaus erwarten, dass die Damen und Herren jetzt mal die Kurve kriegen und die drängendsten Herausforderungen konsequent lösen, statt ihre Erfolge auf Nebenschauplätzen zu suchen. Die Gasumlage darf eben nicht Firmen zugutekommen, denen es ohnehin blendend geht. Menschen mit niedrigem Einkommen brauchen schnell mehr Geld, um Heizung, Essen, Bahntickets bezahlen zu können. Ein konsequenter Klimaschutz funktioniert nur mit strikten staatlichen Vorschriften. Und hey, die Corona-Regeln lassen sich doch wirklich einfacher formulieren.
Die Ampelregierung steht am Scheideweg. Kommen die Koalitionäre bei den wichtigsten Themen nicht schnell zu Potte, könnte diese Kanzlerschaft ziemlich kurz werden.
Land unter
Der meteorologische Sommer endet morgen, klar ist schon jetzt: Er war heiß. Sehr heiß. Zu heiß. Wenn der Deutsche Wetterdienst heute seine offizielle Bilanz zieht, dürfte wohl auch von den Folgen der Erderhitzung die Rede sein. Was wir erleben, ist nicht mehr einfach Wetter, es ist die gewaltigste Veränderung, die der moderne Mensch je erlebt hat. Zur Tragik gehört, dass jene Länder, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, am härtesten von den Folgen betroffen sind. Pakistan beispielweise, wo seit dem Wochenende buchstäblich Land unter ist: Mehr als tausend Menschen sind nach sintflutartigen Unwettern gestorben, sage und schreibe 34 Millionen mussten vor dem Hochwasser fliehen und brauchen nun dringend Lebensmittel, Notunterkünfte und Medikamente. Es ist eine verheerende Katastrophe, und sie wird noch schwerer erträglich, weil wir ahnen: Derlei wird die Welt nun immer öfter erleben.
Söder macht Wind
Hierzulande kümmert man sich vorrangig nicht um die Klima-, sondern um die Energiekrise, und die bringt ungewöhnliche Allianzen hervor: Weil das Seebad Lubmin am Greifswalder Bodden zum Standort eines schwimmenden LNG-Terminals werden soll, kommen dort heute Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und der bayerische CSU-Regierungschef Markus Söder zum Ortstermin zusammen. Die beiden grundverschiedenen Politiker, die während der Corona-Krise häufiger die Klingen kreuzten, wollen sich die Pipelines zur bundesweiten Gasverteilung anschauen und beraten, wie ein bayerischer Beitrag aussehen könnte, um den Bau und die Genehmigungsverfahren für das Terminal möglichst schnell zu realisieren.
Dabei fällt Söders Wandlung auf: Offenbar hat sich der Bayern-Boss, der zwischenzeitlich der Ampelkoalition vorwarf, sein Bundesland absichtlich zu benachteiligen, selbst einen Strategieschwenk verordnet und tritt nun konstruktiver auf: Bereits gestern traf er sich mit seinem grünen Kollegen Winfried Kretschmann aus Ba-Wü, um eine Wasserstoffallianz der beiden Südländer zu verkünden. Nächstes Jahr muss Söder sein Amt verteidigen. Sollte er womöglich zu dem Schluss gekommen sein, dass bei den Wählern eine nachhaltige Energieversorgung besser ankommt als Schuldzuweisungen?
David kickt gegen Goliath
Ottensen ist das gemütlichste Viertel Hamburgs, doch heute Abend müssen die Kicker aus dem Stadtteil auf Zack sein: Der Hamburger Viertligist Teutonia 05 Ottensen darf sich in der ersten Runde des DFB-Pokals mit Titelverteidiger RB Leipzig messen. Sogar das ZDF überträgt live ab 20.45 Uhr. Allein die Suche der Hanseaten nach einem Austragungsort ist schon eine Geschichte für sich: Als Regionalligist mit dem Heimrecht ausgestattet, darf der Verein wegen des Kunstrasens nicht auf seinem eigenen Platz spielen, die eitlen Zweitligisten FC St. Pauli und HSV haben ihre Stadien nicht zur Verfügung gestellt (Hier lesen Sie, warum), und der dann geplante Umzug nach Dessau musste gestoppt werden, weil dort ein Giftanschlag den Rasen unbespielbar gemacht hatte. Nun steigt das Duell eben in der Leipziger Arena, was die Chancen auf ein Hamburger Fußballwunder wohl leider nicht erhöht.
Was lesen?
Die Recherche meiner Kollegen Lars Wienand, Stefan Steurenthaler und Sophie Loelke schlägt Wellen: Sie haben aufgedeckt, wie Putins digitale Armada die deutsche Öffentlichkeit manipuliert.
Olaf Scholz will eine EU-Armee mit Hauptquartier und eigener Luftwaffe: Unsere Chefreporterin Miriam Hollstein war dabei, als der Kanzler in Prag seine Grundsatzrede hielt.
Wie arbeitet der deutsche Auslandsgeheimdienst, und gibt es doch noch eine Chance für Verständigung mit Putin? Der ehemalige BND-Agent Gerhard Conrad hat meinen Kollegen Jonas Mueller-Töwe und Daniel Mützel interessante Einblicke gegeben.
Im Jahr 1978 gelang mehreren Menschen eine spektakuläre Flucht. Mehr lesen Sie auf unserem Historischen Bild.
Was amüsiert mich?
Der Kanzler hat seine eigenen Probleme.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen schreibt Peter Schink den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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