Terrorverdächtige vor Gericht Experten: Was Putin mit der vorgeführten Gewalt erreichen will
Nach dem Terroranschlag in Moskau erscheinen Verdächtige schwer verletzt vor Gericht. Beobachter haben eine Vermutung, was der russische Machtapparat durch Folter demonstrieren will.
Mehrere Tage nach dem Terroranschlag bei Moskau mit mehr als 130 Toten richtet sich der Blick vor allem auf vier mittlerweile inhaftierte Tatverdächtige. Kremlsprecher Dmitri Peskow wollte sich am Montag zunächst nicht zu den schweren Verletzungen der Männer äußern. Zu einer CNN-Journalistin, die auf die im Gerichtssaal sichtbaren Verletzungen und auf die Foltervideos hinwies, sagte Kremlsprecher Peskow lediglich: "Ich lasse diese Frage unbeantwortet."
Russische Menschenrechtler sprachen dafür deutliche Worte. Sie verurteilten die mutmaßliche Folter der Tatverdächtigen durch russische Sicherheitskräfte. "Die Antwort auf Barbarei darf nicht Barbarei sein", teilte die russische Vereinigung "Komanda protiw pytok" (deutsch: Team gegen Folter) am Montag mit.
Gewalt und Schikane wirkten sich zudem äußerst negativ auf die Ermittlungen aus, betonten die Aktivisten: "Wir haben immer gesagt und werden immer sagen, dass der Wert von Beweisen, die Sicherheitskräfte durch Folter erreichen, kritisch niedrig ist. Anstelle der Wahrheit sagt ein Mensch meist das, was diese Folter stoppen oder zumindest unterbrechen kann." Erzwungene Geständnisse könnte die Ermittlungen in eine ganz falsche Richtung führen.
Als die mutmaßlichen Täter am Sonntag von Polizisten und Geheimdienstlern ins Moskauer Basmanny-Gericht gebracht wurden, fielen sofort ihre schweren Verletzungen auf. Mehrere der Männer, die am vergangenen Freitag in der Konzerthalle Crocus City Hall um sich geschossen haben sollen, wiesen stark geschwollene Gesichter, Platzwunden und Blutergüsse auf. Einer hatte einen großen Verband am Ohr. Ein anderer konnte nicht mehr selbst laufen und verlor Berichten zufolge zwischenzeitlich das Bewusstsein. Er wurde auf einer Krankenliege in den Gerichtssaal gefahren, in dem die Haftbefehle erlassen wurden.
Zuvor waren in sozialen Netzwerken Videos aufgetaucht, die zeigen sollen, dass die mutmaßlichen Attentäter gefoltert wurden. Es werden grausame Methoden gezeigt. Einem von ihnen wird etwa ein Ohr abgeschnitten und ihm von einem Sicherheitsbeamten in den Mund geschoben. Ein anderer liegt mit heruntergelassenen Hosen auf dem Boden, angeblich sind die Genitalien mit elektrischen Vorrichtungen verbunden, die eine Entladungsspannung von 80 Volt bewirken.
Aufnahmen von Häftlingen auf Anweisungen von ganz oben?
Nach der Tat in einem Veranstaltungszentrum nahe Moskau, bei der am Freitag 137 Menschen getötet und nach neuen Angaben der Gesundheitsbehörden 182 weitere verletzt wurden, gab es insgesamt elf Festnahmen. Vier der Verdächtigen gelten als die Todesschützen – sie sind diejenigen, die nun dem Haftrichter vorgeführt wurden. Die Haftbefehle wurden laut Tass am Sonntagabend erlassen. Die vier Männer waren am Wochenende im russischen Grenzgebiet Brjansk festgenommen und nach Moskau gebracht worden.
Beobachter vermuten nun, dass die Verbreitung der grausamen Folterbilder ein von Kremlherrscher Putin absichtlich gesetztes Signal sind. Leonid Wolkow, ein Vertrauter des kürzlich im Straflager gestorbenen Kremlgegners Alexej Nawalny, zeigte sich etwa überzeugt davon, dass die Aufnahmen die Öffentlichkeit auf Anweisung von ganz oben erreicht hätten. Dass der Machtapparat seine eigene Grausamkeit so demonstrativ zur Schau stelle, sei neu, schrieb Wolkow im Nachrichtendienst Telegram. So solle wohl abgelenkt werden vom "Versagen der russischen Geheimdienste" vor dem Anschlag, sagte er.
"Putin zeigt: Für mich gibt es keine Grenze im Bösen", sagte Russland-Experte Prof. Thomas Jäger zu "Bild". Die russische Führung achte sonst immer darauf, scheinbar nach Recht und Gesetz zu handeln. Sie begründe jede Brutalität mit geltenden russischen Gesetzen. "Doch nun lässt sie jede Tarnung fallen", wird Jäger zitiert.
Mit der vorgeführten Gewalt "simuliert Russland Härte" im Umgang mit Islamismus, erklärte auch Bundeswehr-Experte Carlo Masala.
Menschenrechtler berichten immer wieder von Demütigungen, Misshandlungen und brutalen Foltermethoden im russischen Strafvollzug, aber auch in der Armee, bei der Polizei und den Geheimdiensten – mindestens seitdem Tschetschenien-Krieg 1996. Seit Putin vor 25 Jahren an die Macht kam, nutzte er immer wieder öffentlich inszenierte Schauprozesse für die staatliche Machtdemonstration und Abschreckung.
Putin: Terroranschlag von radikalen Islamisten ausgeführt
Putin teilte indes am Montagabend mit, der Terroranschlag sei von Islamisten begangen worden. "Wir wissen, dass das Verbrechen von radikalen Islamisten begangen wurde, deren Ideologie die islamische Welt selbst seit Jahrhunderten bekämpft", sagte Putin bei einer Veranstaltung zur Aufarbeitung des Anschlags vom Freitag. Damit wich Putin von seiner ursprünglichen Linie ab, in der er eine "ukrainische Spur" hinter der Bluttat vermutet hatte. Dennoch sollte ihm zufolge geklärt werden, warum die Terroristen nach der Bluttat in die Ukraine entkommen wollten. "Und wer sie dort erwartet hatte", fügte er hinzu.
Bereits mehrfach für sich reklamiert hatte den Anschlag die Terrormiliz "Islamischer Staat". Westliche Sicherheitsbehörden und Experten halten das Bekenntnis für glaubhaft und vermuten den IS-Ableger "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (IS-PK) hinter dem Anschlag (mehr dazu lesen Sie hier). Die russische Propaganda versuchte danach, einen angeblichen Zusammenhang zur Ukraine herzustellen, gegen die Putin seit mehr als zwei Jahren einen brutalen Angriffskrieg führt. Beweise für diese Behauptung gibt es aber keine. Die ukrainische Führung hat jegliche Vorwürfe zudem strikt zurückgewiesen.
- Nachrichtenagenturen dpa und afp
- meduza.io: "Suspects show signs of torture as first charges filed over Moscow terrorist attack" (englisch)
- rnd.de: Putins Folterer hinterlassen absichtlich ihre Spuren (kostenpflichtig)
- bild.de: Putins brutaler Folterplan enthüllt