t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomeRegionalBerlin

Tod von Çetin Mert an der DDR-Grenze: Sie durften ihm nicht helfen


Kind stirbt an innerdeutscher Grenze
Sie durften ihm nicht helfen


11.05.2024Lesedauer: 3 Min.
Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
08650569Vergrößern des Bildes
Ein West-Berliner Feuerwehrmann tröstet Çetins Bruder am Spreeufer. (Quelle: Rondholz/ullstein-bild)

1975 fiel ein kleiner Junge vom West-Berliner Ufer in die Spree. Weil DDR-Grenzer die Rettung verzögerten, wurde er zu einem der jüngsten Maueropfer.

Çetin Mert starb an seinem fünften Geburtstag. Auf den ersten Blick ist sein Tod ein tragischer Unfall, bei dem er wegen eines Fußballs in die Spree fällt und ertrinkt. Doch die Umstände machen aus dem kleinen Jungen auch eines der jüngsten Opfer der deutschen Teilung.

Am 11. Mai 1975 scheint die Sonne über dem geteilten Berlin. Es ist überliefert, dass Familie Mert geplant hatte, für ein Picknick ins Grüne zu fahren. Aber vorher geht Geburtstagskind Çetin raus, um mit Nachbarskindern Fußball zu spielen. Die weißen Turnschuhe, die er trägt, hat er heute geschenkt bekommen.

Sie spielen am Gröbenufer in Kreuzberg an der Spree, unweit der Oberbaumbrücke. Als der Fußball im Wasser landet, läuft Çetin die Böschung hinab. Mit einem Stock versucht er, den Ball wieder an Land zu holen. Dann fällt der Junge in die Spree. Es gibt Gerüchte, wonach einer seiner Freunde den Jungen ins Wasser geschubst haben soll. Genau rekonstruieren lässt sich das aber nicht. Çetin schafft es nicht, aus eigener Kraft wieder ans Ufer zu kommen.

DDR-Grenzer verbieten West-Einsatzkräften einzugreifen

Es ist 12.27 Uhr, als der Junge ins Wasser fällt. Nach wenigen Minuten sind am West-Berliner Ufer Polizei und Feuerwehr vor Ort. Sie springen nicht ins Wasser, weil sie damit illegal DDR-Staatsgebiet betreten würden. Kreuzberg gehört damals zu West-Berlin, die Spree aber in ihrer gesamten Breite zum Osten. Vom Ufer aus suchen die Einsatzkräfte mit Stangen nach dem Kind – erfolglos.

Ein Brandmeister der West-Berliner Feuerwehr eilt zum Grenzübergang an der Oberbaumbrücke. Dort bittet er beim DDR-Grenzposten um 12.50 Uhr um die Erlaubnis, Taucher in der Spree einsetzen zu dürfen, die bereits vor Ort sind. Der Offizier lehnt ab. "Zu bemerken ist, dass das Alarmboot (ein Boot der DDR mit zwei Tauchern an Bord, Anm. d. Red.) zu dieser Zeit bereits auf der Fahrt zum Einsatzort war", heißt es im Stasi-Bericht zu dem Einsatz.

Aus diesem erst viel später veröffentlichten Bericht geht auch hervor, dass zwei DDR-Wachposten sogar beobachteten, wie der Junge ins Wasser fällt. Trotzdem dauert es mehr als 20 Minuten, bis die DDR-Grenzer das Alarmboot losschicken. "Möglichkeiten der Rettung dieses Kindes durch das Postenpaar bestanden nicht", steht im Stasi-Bericht.

Familie soll Geld bezahlt haben, um Leiche zu bekommen

Das Boot trifft um 13.10 Uhr an der Unglücksstelle ein, also 43 Minuten, nachdem Çetin ins Wasser gefallen ist. Hoffnung gibt es da schon kaum noch. Eine Stunde später ziehen die DDR-Taucher die Leiche des Jungen aus dem Wasser, nur wenige Meter vom West-Ufer entfernt und vor den Augen einer großen Menschentraube, die sich am Ufer gebildet hat. Wie die Taucher die Leiche des Kindes an Bord nehmen, haben Fotografen vom Ufer aus festgehalten. Auf den Bildern sind die nagelneuen weißen Turnschuhe zu sehen, die Çetin trägt.

Die DDR-Grenzer übergeben die Leiche des Jungen nicht an die West-Einsatzkräfte, sondern nehmen sie mit in den Osten. Dafür werden sie vom West-Ufer der Spree aus von Angehörigen und Passanten beschimpft. Im Jahr 2000 sagte Çetins Bruder Yasar der "Berliner Zeitung" in einem Interview, dass die Familie der DDR 10.000 Mark bezahlen hätte müssen, damit sie die Leiche zurückbekommt. Trotz späterer Zusagen von Kanzler Kohl und Berlins Bürgermeister Diepgen hätten sie nie eine Entschädigung bekommen.

Wütende Demonstrationen: "Mörder, Mörder, Kindermörder"

In den Tagen nach dem tragischen Tod des Jungen gibt es immer wieder wütende Demonstrationen an der Unglücksstelle. "Mörder, Mörder, Kindermörder", sollen Jugendliche skandiert haben. Çetin ist kein Einzelfall. Innerhalb von nur drei Jahren ist er das vierte Kind, das nahe der Oberbaumbrücke in der Spree ertrunken ist. Im Oktober 1975 schließen der Berliner Senat und die DDR-Regierung eine Vereinbarung, die West-Berliner Rettungskräften in Notfällen auf Grenzgewässern erlaubt einzugreifen.

Am Samstag wäre Çetin Mert 54 Jahre alt geworden. 49 Jahre nach seinem Tod ehrt der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ihn jetzt. Eine neu gestaltete Parkfläche in der Skalitzer Straße wird ab diesem Tag Çetin-Mert-Park heißen.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website