Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Friedenssignale für die Ukraine Dann ist nicht nur Polen offen
Die Hinweise auf ein Ende der heißen Kriegsphase in der Ukraine mehren sich. Wäre damit wieder alles gut? Mitnichten. Europa muss sich schleunigst für einen Krieg mit Russland rüsten. Mental und materiell.
Natürlich hat Donald Trump im US-Wahlkampf seinen stets seltsam lochartigen Mund zu voll genommen, als er posaunte, er werde den Ukraine-Krieg in nur 24 Stunden beenden. Aber man muss schon konzedieren, dass das, was er als Plan im Wahlkampf vorgestellt hat, nah dran ist an dem, was jetzt hinter dem Pulverdampf des Geschützfeuers in der Ukraine allmählich als Weg sichtbar wird.
Ist etwas falsch, nur weil es von Trump kommt? Zur Erinnerung: Trump oder sein Team hatten im Kopf, der Ukraine Sicherheitsgarantien für den überwiegenden Teil des Landes zu geben und dafür Gebiete im Osten an Russland abzutreten. Dazwischen sollte eine sogenannte Pufferzone eingerichtet werden. Dieser skizzenhafte Plan ließ und lässt viele wichtige Fragen offen, nicht zuletzt die, wer denn wie, also mit welchem Mandat, diese Pufferzone sichern soll.
Selenskyjs Signale
Gleichwohl gehen in den vergangenen Tagen alle Hinweise und Äußerungen wichtiger Beteiligter ebenfalls in diese Richtung. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat erst jüngst in einem Interview mit einem US-Sender zu erkennen gegeben, sich im Klaren darüber zu sein, dass er nicht 100 Prozent des ukrainischen Territoriums in einen Frieden oder einen friedensähnlichen Zustand wird retten können. Jetzt hat er dazu eingeräumt, dass die Ukraine diese Gebiete nicht aus eigener Kraft wird zurückerobern können. Die Offensive, in der das versucht wurde, ist stecken geblieben, im Moment dringen nach allem, was man liest, eher die Russen wieder weiter vor.
Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online erscheint jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!".
Selbst der nicht gerade als Taube bekannt gewordene langjährige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat im Lichte dieser Ereignisse dieser Tage dafür plädiert, jedenfalls vorübergehend solche Gebiete an Russland abzutreten. Und zur gleichen Zeit kursieren Gerüchte, dass Moskau schon an einer Erzählung basteln lasse für den Fall, dass es in diese Richtung geht.
Damit ist eine ganze Portion Realismus und Pragmatismus in die Diskussion gekommen, woran es von Anfang an auch hierzulande mangelte. Das heiße Herz obsiegte allzu oft und allzu leicht über den kühlen Kopf. Nachgerade albern und kindisch war jene Phase der Diskussion, als allen Politikern der Satz abgetrotzt werden sollte, die Ukraine müsse gewinnen. Wer nicht bereit war, diesen Satz so zu sagen, stand an der Wand und war schon dem furchtbar überfallenen Land in den Rücken gefallen.
Die Ukraine konnte diesen Krieg nie gewinnen
Dabei war von Anfang an klar: Gewinnen kann die Ukraine diesen Krieg bei aller Tapferkeit und aller Unterstützung der westlichen Welt nicht. Weil dem Mut und der Wehrhaftigkeit dieses Volkes die schier unendlichen Massen an Mensch und Material aus dem Riesenreich Russland gegenüberstehen. Und weil die Unterstützung des Westens Grenzen haben muss (egal, ob man sie bei dem Marschflugkörper Taurus oder anderswo zieht), weil dieser Westen und also die Nato andernfalls in einen offenen Krieg mit Russland hineingezogen werden könnte.
Was realistischerweise erreicht werden konnte, wurde erreicht: Die Ukraine hat standgehalten. Putin hat sich an der Ukraine die Zähne ausgebissen, wie seinerzeit in den Achtzigerjahren die Sowjetunion an Afghanistan. Die Ukraine ist sein Afghanistan, egal, was seine Märchenerzähler im Nachhinein daraus machen. Er hat das Land nicht einnehmen können, und er hat die Regierung dort nicht stürzen können. Die Forderung seiner Büchsenspanner, dass auch die Ablösung der Selenskyj-Regierung Teil des Paketes einer Friedenslösung sein müsse, kann man getrost beiseite wischen. So etwas kann nur aus einem Land kommen, das weiter weg ist von einer lupenreinen Demokratie denn je.
Erstmals seit drei Jahren ist die Chance da
Zum ersten Mal seit fast drei Jahren darf man angesichts dieser Entwicklung Hoffnung schöpfen. Es muss nicht bald so kommen, aber erstmals ist die Chance da. Aber auch dann sollte man sich nicht der irrigen Annahme hingeben, damit sei alles wieder gut. Putins Russland bleibt aggressiv wie ein Wespennest, und die Jahreszahl 2029 weiter eine Orientierung. Alle, die näher mit der Sache vertraut sind und Informationen haben, über die wir Normalos nicht verfügen, nennen übereinstimmend dieses Jahr als jenes, in dem Putin das erste Mal Nato-Gebiet direkt attackieren könnte. Eben erst hat der Autokrat in Moskau den ohnehin hohen Wehretat noch mal um 70 Prozent aufstocken lassen. Eine geheime Zusatzkasse gibt es obendrein.
Das alles zeigt: Dieser Mann fängt erst an, seine fixe Idee von der Wiederauferstehung der Sowjetunion mit allen militärischen Mitteln und aller Brutalität verwirklichen zu wollen. Weil sich Europa und auch Deutschland über Jahrzehnte in falscher Sicherheit einer sogenannten Friedensdividende wähnten, bleiben bisher alle Versuche, seiner Militärmaschinerie und ihren Abermilliarden an Geld etwas entgegenzusetzen, weit hinter dem Notwendigen zurück, und zwar mental wie materiell.
Europa muss schleunigst wehrtüchtig werden
Die friedensverwöhnten Bevölkerungen Europas müssen schleunigst begreifen, dass sie wieder wehrtüchtig werden müssen. Es müssen zugespitzt gesagt: eher wieder Pflüge zu Schwertern gemacht werden als umgekehrt, so traurig das ist. Der Aufwuchs des Verteidigungsetats in Deutschland trägt der neuen Lage nicht im entferntesten Rechnung. Und alle Sondervermögen oder sonstigen Schattenhaushalte reichen auch nicht hin.
Tatsächlich ist der Moment gekommen, an dem man über eine Sonderabgabe zugunsten von Bundeswehr und Zivilschutz nachdenken muss, ähnlich dem Solidaritätszuschlag nach der Wiedervereinigung. Mehr noch: an dem die nächste Regierung diese Sonderabgabe beschließt. Am besten gleich im Rahmen einer europäisch konzertierten Aktion. Die Zeit ist da, in der wir alle die Friedensdividende zurückzahlen müssen. Und zwar substanziell und zügig. Sonst ist nicht nur Polen offen.
- Eigene Überlegungen