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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in Syrien Es ist eine faustdicke Überraschung
Die syrische Armee von Baschar al-Assad ist auf dem Rückzug und die Oppositionstruppen stehen vor der nächsten Großstadt. Das Regime wackelt und muss nun hoffen, dass verbündete Mächte in den Krieg eingreifen.
Manchmal passieren im Krieg Dinge, die mit Blick auf bloße Statistiken unerklärbar scheinen. Besonders die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten lassen sich selbst für Militärexperten nur schwer vorhersehen. Im Irak flohen 2014 rund 60.000 irakische Soldaten in Mossul vor der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). In Afghanistan eroberten im Sommer 2021 die Taliban fast das gesamte Land und die vom Westen hochgerüstete afghanische Armee legte die Waffen nieder. Und nun gibt es für viele Experten im syrischen Bürgerkrieg die nächste faustdicke Überraschung.
Nach der Einnahme der Städte Aleppo und Hama rücken die Kämpfer der Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Sham (HTS), die von Islamisten dominiert wird, schnell weiter vor. Jetzt stehen sie bereits vor der nächsten Großstadt: Homs. Die syrische Armee des Diktators Baschar al-Assad dagegen leistet kaum Widerstand und findet sich in einem chaotischen Rückzug wieder. Sollte Assad Homs verlieren, wäre das ein erheblicher Schlag für das Regime; er droht den Krieg zu verlieren.
Aber Assad könnte am Ende davon profitieren, dass ein Großteil der Mächte im Nahen Osten kein Interesse daran hat, dass das syrische Regime gestürzt wird. Einerseits stehen Assads größte Verbündete, Russland und der Iran, acuh weiterhin an seiner Seite. Andererseits lehnen die meisten Golfstaaten und auch Israel die Islamisten der HTS ab.
Doch welcher Staat würde mit Blick auf das gegenwärtige Chaos in den syrischen Bürgerkrieg eingreifen wollen?
Mehrere Kriege in einem
Denn im Vergleich zu anderen bewaffneten Konflikten ist der Krieg in Syrien besonders undurchsichtig. Im Prinzip toben in dem Land gleich mehrere Kriege parallel. Im Norden kämpft die sunnitische Miliz Syrische Nationalarmee (SNA), die von der Türkei unterstützt wird, gegen die kurdisch dominierten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF). Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan sieht in dem gegenwärtigen Durcheinander eine Chance, die Kurden bis mindestens hinter den Fluss Euphrat zurückzudrängen. Deswegen zog die türkische Armee unter anderem weitere Artilleriesysteme über die Grenze nach Syrien, um die SNA zu unterstützen.
Es geht Erdoğan um sein zentrales Ziel, eine autonome Kurdenregion zu verhindern und allgemein darum, seinen Einfluss in Syrien weiter auszubauen. Im Norden konnten sich die Kurden auch vor allem deshalb seit Jahren halten, weil sie sich mit den Regimetruppen von Assad einigten. Die türkische Armee und ihre verbündete Miliz wollte dagegen nicht gegen das syrische Regime in den Krieg ziehen. Wie weit Erdoğan gehen wird, ist unklar. Aber er versucht in jedem Fall, die gegenwärtige Lage für sich zu nutzen.
Denn Assad zieht seine Truppen aus dem Norden ab und es entstehen Lücken, die nun andere Parteien nutzen. Die SNA gewann Gelände, auch die Kurden übernahmen von der syrischen Armee einige Ortschaften und selbst die Terrormiliz IS will laut eigenen Aussagen ihr Gebiet in der syrischen Wüste ausgedehnt haben. All diese Angaben können aktuell nicht geprüft werden, die Lage in Syrien bleibt hochdynamisch.
Eines liegt aber auf der Hand: Assads Armee hinterlässt auf ihrem chaotischen Rückzug ein Machtvakuum. Die Truppen der syrischen Armee lassen oft Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und selbst Kampfflugzeuge in den verlorenen Gebieten zurück. Oft ist das Kriegsgerät noch intakt, viele der Kampf- und Schützenpanzer sind sogar einsatzbereit. Somit werden die vorrückenden Kämpfer der HTS immer weiter gestärkt.
Massive Rückschläge für Assad
Die erfolgreiche Angriffswelle ist vor allem deshalb eine Überraschung, weil die HTS rund 10.000 Kämpfer haben soll. Assads Armee soll über 30.000 Soldaten verfügen; sie wurde von Russland und dem Iran gerüstet und hat auch immer noch Chemiewaffen in ihren Arsenalen. Seit Wochen gab es Gerüchte in Syrien über einen bevorstehenden Angriff der HTS, aber das Regime hat das offenbar nicht ernst genommen.
Der Preis dafür wird nun immer höher. Die HTS wird nämlich nicht nur durch die Waffen des Regimes weiter gestärkt. Sie nimmt auch viele Soldaten der syrischen Armee gefangen. Das Assad-Regime hat mit Aleppo nicht nur das Wirtschaftszentrum Syriens verloren, sondern mit Hama auch einen Ort, der vor allem von großer symbolischer Bedeutung ist. Hier richtete das Regime von Assads Vater, Hafiz al-Assad, im Jahr 1982 ein brutales Massaker an. 2011 fanden in Hama die größten friedlichen Demonstrationen gegen das Regime statt, die dann von Regierungspanzern gewaltsam niedergeschlagen wurden. Es war zu Beginn des bis heute andauernden Krieges.
Militärstrategisch wichtiger für das Regime ist allerdings der Verlust eines weiten Teils der Autobahn M5, die als wirtschaftliche Lebensader des Landes gilt und für deren Kontrolle die syrische Armee im Bürgerkrieg über Jahre erbittert gekämpft hat. Aber die Verluste könnten noch viel größer werden.
Wenn nun Homs von den Kämpfern der Opposition erobert werden würde, wäre das Assad-Regime auf dem Landweg vom Mittelmeer abgeschnitten. Das wäre für den syrischen Machthaber eine strategische Katastrophe und gleichzeitig ein massiver Gesichtsverlust. Denn in der Küstenregion im Osten Syriens liegt nicht nur der wichtige russische Mittelmeerhafen in Tartus, sondern auch die Stadt Latakia, die Wiege des Alawitentums in Syrien. Assad gehört wie viele politischen und militärischen Eliten der religiösen Minderheit der Alawiten an, viele von ihnen stammen aus der Region Latakia.
Greifen ausländische Mächte ein?
So gilt es als wahrscheinlich, dass Assads Truppen versuchen werden, Homs erbittert zu verteidigen. Aber vieles ist aktuell unklar. Schon beim Vormarsch der Oppositionstruppen auf Hama erwarteten Experten, dass die syrische Armee zumindest kämpfen wird. Doch das war nicht der Fall. Somit kann aktuell von außen eigentlich niemand sagen, welches militärische Potenzial Assads Regime überhaupt noch hat.
Die HTS sieht die größte Gefahr aktuell offenbar darin, dass ausländische Mächte in den Krieg eingreifen könnten. Nicht umsonst verfolgt sie in ihrer Kriegskommunikation die Strategie, sich gemäßigt zu geben. Ihr Anführer Abu Muhammad al-Dschaulani gibt dem US-Sender CNN Interviews, er versprach den eroberten Gebieten, dass es keine Gewalt und Plünderungen geben werde, auch nicht gegen Christen und Kurden.
Aber die HTS gilt vor allem international als Terrororganisation, weil sie aus einem Ableger der Terrororganisation al-Qaida hervorging. Unklar ist also, ob die Islamisten noch immer gemäßigt sind, wenn sie ihre militärischen Ziele in Syrien erreicht haben.
Großes Vertrauen genießt die HTS nicht in der Region. In vielen Staaten im Nahen Osten wird sie als neue Version des IS gesehen und bis auf die Türkei und Katar werden sie von allen anderen Golfstaaten abgelehnt. Und das ist Assads größte Chance in der gegenwärtigen Lage: Ein Großteil der Staaten im Nahen Osten möchte nicht, dass Syrien von Islamisten kontrolliert wird. Besonders nach den Erfahrungen, die sie mit dem IS gemacht haben, lehnen sie das ab. Das könnte Assad am Ende an der Macht halten.
Denn es ist durchaus vorstellbar, dass ausländische Mächte in den Krieg eingreifen, bevor der syrische Machthaber verliert. Am Freitag traf sich etwa Assads Außenminister Bassam al-Sabbagh mit seinen iranischen und irakischen Amtskollegen Abbas Araghchi und Fuad Hussein. Besonders der Irak steht hier im Fokus, denn er musste weite Teile seines Staatsgebietes vom IS zurückerobern. Nun könnten schiitische Milizen, die vom Iran unterstützt werden, sowie reguläre Truppen der irakischen Armee theoretisch in Syrien eingreifen. Diese Optionen liegen auf dem Tisch.
Die vorrückenden Oppositionstruppen der HTS legen vor allem auch deshalb ein hohes Tempo vor, weil sich mutmaßliche Unterstützungen für Assad aus dem Irak erst mobilisieren müssen. Die Angriffe der HTS wurden wahrscheinlich über Jahre akribisch vorbereitet, aber ob sie tatsächlich zu einem Regimewechsel in Damaskus führen können, hängt am Ende von ausländischen Mächten ab. Wie so oft in Syrien und im Nahen Osten.
- edition.cnn.com: Syrian rebel leader says goal is to ‘overthrow’ Assad regime (englisch)
- middleeastmonitor.com: Iraq, Iran, Syria officials hold trilateral talks on regional developments (englisch)
- spiegel.de: "Die Milizen haben sich akribisch auf diesen Angriff vorbereitet"
- syria.liveuamap.com: Kriegskarte für Syrien
- Gespräche mit westlichen Diplomaten
- Eigene Recherche