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10 Jahre Loveparade-Katastrophe: "Die Leichen, das Gedränge, die Todesangst"


Zehn Jahre Loveparade-Katastrophe
Ungeklärte Schuldfrage: "Ich spüre nichts als Verachtung"

  • Steven Sowa
Von Steven Sowa

Aktualisiert am 24.07.2020Lesedauer: 6 Min.
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Enge: Die Teilnehmer der Loveparade wollen das Gelände verlassen, doch können dem Stau auf der Rampe nicht entfliehen.Vergrößern des Bildes
Enge: Die Teilnehmer der Loveparade wollen das Gelände verlassen, doch können dem Stau auf der Rampe nicht entfliehen. (Quelle: imago-images-bilder)

Am 24. Juli 2010 endete in Duisburg der Mythos Loveparade mit dem Tod von 21 jungen Menschen. Die Augenzeugin Hanna Hünniger berichtet im Interview mit t-online.de von ihrem Trauma.

"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen." Dieses Zitat des US-Nobelpreisträgers William Faulkner hängt auf einer Gedenktafel im Karl-Lehr-Tunnel in Duisburg. 21 junger Menschen wird dort gedacht, die am 24. Juli 2010 starben, als sie bei der 19. Loveparade das Leben feiern wollten. Sie kamen aus Australien, China, Deutschland, Italien, den Niederlanden und Spanien. Mehr als 650 weitere Menschen wurden verletzt, unzählige Teilnehmer der Party haben bis heute seelische Wunden davongetragen.

Die Bilder von damals und wie es zur Katastrophe kam, sehen Sie auch oben im Video oder hier.

Einer dieser Menschen ist Hanna Hünniger. Sie war am 24. Juli 2010 als Journalistin im Auftrag der "ZEIT" vor Ort. Im Gespräch mit t-online.de erzählt sie von ihren "traumatischen Erfahrungen". Hünniger war damals auf der Rampe, hat das tödliche Gedränge hautnah erlebt und mit ansehen müssen, wie ein junger Mann vor ihr starb.

"Alles, was ich erlebt habe, der Tod, die Leichen, das Gedränge, die Todesangst, das Ersticken, die Stille, dieses Eingesperrtsein über viele, viele Stunden: Das macht etwas mit dir. Das vergisst du nie. Das ist traumatisch. Bis heute."

"Die Leichen, das Gedränge, die Todesangst, das Ersticken"

Jahrelang sei es ihr schwergefallen, über das Erlebte zu sprechen. "Ich habe mich gar nicht getraut, zu trauern. Ich habe ja überlebt. Ich habe kein Kind verloren, keinen Freund. Ich habe jahrelang nicht darüber geredet, quasi aus Selbstschutz und Scham. Ich wollte nicht leiden, wenn andere noch viel mehr leiden mussten."

Hünniger erzählt im Interview, dass der Tag ihr "Leben radikal verändert" habe: "Ich habe mich nach der Katastrophe total zurückgezogen, mich immer weiter isoliert. Anfangs ohne das zu merken – wie sehr ich vereinsamt bin, habe ich erst später realisiert."

Die ungeklärte Schuldfrage belastet viele Geschädigte

Es sind Schilderungen wie diese, die noch heute ein erschreckendes Bild dieser Katastrophe zeichnen. Die zeigen, wie viel an diesem Tag zu Bruch gegangen ist und wie viele Menschen auch zehn Jahre danach noch leiden. Dass die Schuldfrage für immer ungeklärt bleibt, macht Menschen wie Hanna Hünniger untröstlich. Da hilft es wenig, dass der Vorsitzende Richter Mario Plein am letzten Verhandlungstag am 4. Mai verkündete: "Wir haben hier keinen Fall, bei dem wir den großen Bösewicht festmachen können."

Namen wie Rainer Schaller, Chef des Veranstalters Lopavent und Chef des Hauptsponsors McFit, Adolf Sauerland, damaliger Oberbürgermeister der Stadt Duisburg, und Wolfgang Rabe, zuständiger Dezernent der Stadt für die Bereiche Sicherheit und Ordnung, saßen nie auf der Anklagebank. Zu Beginn des Verfahrens im Dezember 2017 waren zehn andere Personen angeklagt. Die Staatsanwaltschaft hatte vier leitenden Mitarbeitern des Veranstalters Lopavent und sechs Mitarbeitern der Stadt Duisburg fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung vorgeworfen.

Kritiker sprachen schon damals von "Bauernopfern", die anstatt der eigentlichen Bosse vor Gericht landeten. Die Chefs und Hauptverantwortlichen mussten sich nie verantworten, sie waren lediglich als Zeugen geladen. So auch die Polizei, die bei der Einsatzleitung, Kommunikation und individuellen Steuerung nachweislich Fehler begangen hatte. Hünniger drückt das im Rückblick so aus: Bei den Namen Adolf Sauerland, Rainer Schaller und Wolfgang Rabe empfinde sie "reine Verachtung". Sie hätten die Schuld von sich gewiesen und nie für ihre Taten geradegestanden. "Diese Mischung aus Profitgier, Dummheit und Rückgratlosigkeit widert mich an", so die Autorin heute.

"Dieser ganze Prozess war von Beginn an skandalös"

Die Resignation setzte bei ihr schon viel früher ein. "Dieser ganze Prozess war von Beginn an skandalös. Die Opfer wurden bereits verhöhnt, als klar war, dass Adolf Sauerland, Rainer Schaller und Wolfgang Rabe nicht auf der Anklagebank sitzen werden", meint Hünniger und bezeichnet die Einstellung des Prozesses ohne Urteil als ein Puzzleteil, das sich nahtlos ins desaströse Gesamtbild füge.

Heute jährt sich die Katastrophe zum zehnten Mal. Das Jahr 2020, es war schon immer ein Schicksalsjahr in der Zeitrechnung der Loveparade 2010. Zehn Jahre nach den Geschehnissen in Duisburg tritt die Verjährungsfrist in Kraft. Der Strafprozess wird ohne Urteil zu den Akten gelegt. Doch die "absolute Verjährung" trat nie ein. Bedingt durch die Coronavirus-Pandemie wurde der Strafprozess vorzeitig eingestellt. Das Verfahren um den Vorwurf der fahrlässigen Tötung endete am 4. Mai dieses Jahres.

Die Namen der Toten von Duisburg: Jan Willem (22), Marta (21), Svenja (22), Christian (25), Vanessa (20), Eike (21), Marina (21), Fenja (23), Clara (22), Giulia (21), Clancie (27), Marie Anjelina (19), Fabian (18), Cian (38), Kathinka (19), Lidia (21), Anna (25), Kevin (18), Benedict (21), Dennis (18), Elmar (38).

184 Prozesstage endeten ohne Urteil. Ein millionenschweres Verfahren, keine Antworten? In einer gerade erschienenen, aufwendig recherchierten Audiodokumentation mit dem Titel "Trauma Loveparade – 10 Jahre nach der Katastrophe" wird klar: Der Prozess war nicht umsonst.

Die Loveparade 2010 war nie eine "Massenpanik"

Für die Rekonstruktion der Katastrophe war er hilfreich, wenngleich die Frage nach dem Warum nie vollends aufgeklärt werden wird. Zu viele Faktoren wurden als ursächlich für den Hergang der Ereignisse identifiziert. Der Begriff "Massenpanik", der auch heute noch im Zusammenhang mit dem 24. Juli 2010 kursiert, ist irreführend und falsch – auch das legte der Gerichtsprozess offen. Eine Verkettung von Entscheidungen wird als Ursache angesehen, das Gutachten von Prof. Dr. Jürgen Gerlach spricht von "multikausalen Zusammenhängen":

  • Die Vereinzelungsanlagen und Schleusen waren nicht auf die zu erwartenden Personenmengen ausgerichtet.
  • Zäune führten zu zusätzlichen Engstellen.
  • Der Stau vor den Vereinzelungsanlagen war absehbar.
  • Es gab keine ausreichenden Flächen für die Abwicklung der Menschenmassen.
  • Der Übergang von der Rampe auf den Eventbereich der Veranstaltung wurde in der Planung nicht ausreichend bedacht.
  • Die Wahl eines Geländes, das für eine solche Veranstaltung völlig ungeeignet war.
  • Die massiven Störungen in der Kommunikation und die damit verbundene unkoordinierte Steuerung von Personenströmen.
  • Die Errichtung von drei Polizeiketten und das Öffnen der Zugangsanlagen ohne Abstimmung.

In sieben Episoden beleuchten nun der Musikjournalist Julian Brimmers sowie Journalistin Viola Funk und ihr Team in ihrer Podcast-Dokumentation die Katastrophe aus allen erdenklichen Blickwinkeln. So wird der Ablauf der Ereignisse in der Episode "17 Uhr" multiperspektivisch aus der Sicht von Teilnehmern der Loveparade erzählt. In einer auf 30 Minuten zusammengeschnittenen Chronologie läuft alles auf den Moment zu, in dem der erste Mensch in Duisburg stirbt. Er wird erdrückt. So wie der überwiegende Teil der 20 weiteren Todesopfer stirbt er an einer "massiven Brustkompression", um 17 Uhr.

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Es ist der erste Podcast dieser Art, bereitgestellt von Spotify. Eine Produktion, die naturgemäß ohne Videoaufnahmen, Grafiken oder szenische Fotografien auskommt, aber in den Köpfen der Zuhörer eindringliche Bilder entstehen lässt. "Wir lassen Betroffene von diesen unfassbar schweren Bildern erzählen, ohne dass die Zuhörer diese Bilder sehen können. Das sorgt dafür, dass man den Menschen wirklich in Gänze zuhört", berichtet Julian Brimmers im Interview mit t-online.de.

Das "Trauma Loveparade" steht im Mittelpunkt

Bis zur letzten Folge, in der der langwierige Gerichtsprozess aufgerollt wird, gehen sie den Fragen nach: Wie entstand die Loveparade im Jahr 1989 mit ihren anfangs 150 Teilnehmern? Wie konnte es 2010 zur Katastrophe kommen, nachdem die Parade ein Jahr zuvor in Bochum aufgrund von Sicherheitsbedenken abgesagt wurde? Und ähnlich wie der Fernsehfilm "Das Leben danach" von 2017 mit Jella Haase als traumatisiertes Opfer stellen sie die Frage: Wie gehen Menschen heute damit um?

Dabei erheben sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. "Für mich war es nach drei Monaten der Recherche tatsächlich überraschend, dass diese ganzen losen Enden schließlich doch kein kohärentes Gesamtbild ergeben. Diese Komplexität der Katastrophe bleibt komplett bestehen – auch wenn man Teile davon nun rückblickend viel besser versteht", so Viola Funk.

Umfassend und bestürzend zugleich ist die Produktion dennoch. Viola Funk spricht im Interview von "schlaflosen Nächten", weil ihr "immer wieder alle möglichen Bilder durch den Kopf" schwirrten. Die Gespräche mit Angehörigen und Beteiligten wären "sehr intensiv" gewesen, ergänzt Julian Brimmers. Zentral ist dabei das Thema "Trauma", welches auch zehn Jahre später noch eine große Rolle in dem Leben vieler Menschen spielt.

Sehnsucht nach "Empathie und Anteilnahme"

So wie für Hanna. Sie kann heute weder auf Konzerte noch auf Volksfeste oder größere Veranstaltungen in geschlossenen Räumen gehen. Es ist eine ganz konkrete Folge der Katastrophe. Von der Gesellschaft wünscht sie sich, wenn die Schuldfrage schon für immer unbeantwortet bleibt, nichts mehr als "Empathie und eine gewisse Anteilnahme". Ein Podcast wie der nun zum zehnten Jahrestag erschienene von Julian Brimmers und Viola Funk fühle sich für sie nun an, "als würde sich der Himmel nach zehn Jahren Gewitter öffnen, und endlich Licht ins Dunkel bringen".

Die fortlaufende Erinnerung an die Katastrophe, die Beschäftigung mit den Opfern und den Folgen ist heute noch essenziell – auch zehn Jahre danach ist diese Erkenntnis wichtiger denn je. Und das Zitat von William Faulkner zeitlos: "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Telefoninterview Julian Brimmers und Viola Funk
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