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WM 2022 | Katar-Experte im Interview: "Dann guckt Katar in die Röhre"


Interview
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Die Strategie hinter der WM
"Dann guckt Katar in die Röhre"

InterviewVon Benjamin Zurmühl

Aktualisiert am 19.11.2022Lesedauer: 9 Min.
Katars Emir Scheich Tamim bin Hamad Al-Thani neben Fifa-Präsident Gianni Infantino: Die WM ist Teil der langfristigen Strategie des Golfstaats.Vergrößern des Bildes
Katars Emir Scheich Tamim bin Hamad Al-Thani neben Fifa-Präsident Gianni Infantino: Die WM ist Teil der langfristigen Strategie des Golfstaats. (Quelle: yangyuanyong via www.imago-images.de)

Die WM in Katar beginnt am Sonntag. Für das kleine Land ist es das wichtigste Ereignis der jüngeren Geschichte – und Teil einer großen Strategie.

Von der Fläche her passt Katar viermal in das Bundesland Bayern – und es wäre immer noch Platz. Doch trotz seiner geringen Größe hat der Golfstaat in den vergangenen Jahren eine immer wichtigere Rolle im Weltgeschehen gespielt. So unterschiedliche Länder wie die USA, die Türkei oder der Iran pflegen enge Beziehungen zu Katar.

In den kommenden Wochen wird das Land nicht nur wegen der WM noch stärker in den Fokus der Weltöffentlichkeit rücken. Politikwissenschaftler Nicolas Fromm ist Autor des Buches "Katar – Sand, Geld und Spiele". Im Interview mit t-online erklärt er Katars längerfristige Strategie.

t-online: Herr Dr. Fromm, Katar ist ein kleiner Staat und tritt doch sehr auffällig in der Welt auf, veranstaltet nun die Fußball-WM. Steckt angesichts des bedrohlichen Nachbarn Saudi-Arabien mehr als nur Imagepflege dahinter?

Dr. Nicolas Fromm: Das würde ich nicht voneinander trennen. Imagepflege ist geopolitische Absicherung. Es geht wirklich darum, dass die ganze Welt dieses Land kennt. Denn je mehr Länder, je mehr Menschen dieses Land kennen, umso besser. So wird es als relevanter Player in der internationalen Politik wahrgenommen. Und das verringert die Gefahr, militärisch oder diplomatisch bedroht zu werden.

Das ist der Interviewpartner

Dr. Nicolas Fromm ist Politikwissenschaftler am Institut für Internationale Politik der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Er forscht unter anderem zu den außenpolitischen Strategien von Kleinstaaten und ist auf die arabischen Golfstaaten spezialisiert.

Katar sucht sich schon seit längerer Zeit prominente Verbündete in der Welt. Ein Beispiel sind die USA. In Ihrem Buch erklären Sie auch das besondere Verhältnis zu Großbritannien als ehemaliger Schutzmacht des Emirats.

Diese Zeit des britischen Mandats wirkt bis heute nach. Das betrifft nicht nur Katar, sondern auch die anderen Golfstaaten, etwa bei der starken Fokussierung der Macht auf die jeweilige Herrscherfamilie. Ein anderes Beispiel: Die flächendeckende Verurteilung und Verfolgung von Homosexualität wurde ebenfalls von den Kolonialherren in der Region eingeführt, das ist vor dem Hintergrund der aktuell sehr emotional geführten Diskussion über die Verfolgung sexueller Minderheiten vor Ort auch ein interessanter Aspekt.

Kommen wir zurück zur Bedrohung durch Nachbarn. Denn die Angst davor ist begründet. Saudi-Arabien und andere Staaten starteten 2017 eine Blockade Katars, die mehrere Jahre andauerte. Was waren die Hintergründe?

Saudi-Arabien, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten taten sich zusammen, um das Land komplett zu isolieren. Insbesondere Saudi-Arabien und die VAE störten sich seit Jahren an der unangepassten Außenpolitik ihres Nachbarn Katar. Bahrain folgt der Außen- und Regionalpolitik seiner Schutzmacht Saudi-Arabien sehr eng, und Ägypten betrachtet vor allem die Verbindungen Katars zur Muslimbruderschaft argwöhnisch. Die Grenzen wurden also geschlossen und Katar erhielt einen umfangreichen Forderungskatalog: Stellt eure unabhängige Außenpolitik ein, geht zurück auf die von Saudi-Arabien definierte außenpolitische Linie. Dazu gab es weitere Forderungen wie die Schließung des Senders Al Jazeera, der aus Sicht der Blockade-Staaten zu kritisch berichtete.

Waren die Forderungen realistisch?

Zu keinem Zeitpunkt. Katar erhielt auch viel Unterstützung der Türkei und des Irans und hat so sehr schnell alternative Lieferketten aufgebaut. Die Position der Blockierenden war bald geschwächt. Es gab Vermittlungsversuche seitens des Emirs von Kuwait, und auch die internationale Politik mischte sich deeskalierend ein.
Mit der Zeit hat die Blockade immer mehr an Wirkung verloren, und 2021 wurde sie aufgehoben, aus heutiger Sicht sind Katar und sein Emir also gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Die vier Länder haben sich rückblickend nicht unbedingt einen Gefallen getan.

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Aktuell wird die Region viel kritisiert: Menschenrechtsorganisationen fordern mehr Rechte, unter anderem für Frauen und Gastarbeiter. Für Katar und seine Nachbarn gehen die Forderungen allerdings zu weit.

Katar befindet sich in einem extremen Spannungsverhältnis zwischen Öffnung und Konservatismus. Das liegt auch darin begründet, dass es eine unfassbare Mehrheit an Gastarbeitern gibt. 90 Prozent der Einwohner kommen nicht aus Katar. Und so hat der Staat alle Hände voll zu tun, den öffentlichen Raum sozusagen unter katarischer Kontrolle zu halten und den eigenen Bürgern zu vermitteln, dass es noch "ihr Land" ist. Da den richtigen Grad zu finden zwischen Weltoffenheit nach außen und einer bewahrenden Haltung nach innen, ist kompliziert. Wichtig ist jedoch festzustellen, dass im Laufe der vergangenen Jahre zahlreiche Verbesserungen für Gastarbeiter in Kraft getreten sind: Es gibt nun einen Mindestlohn, strengere Normen für die Unterbringung und Beschwerdestellen, die im Falle von Ausbeutung aufgesucht werden können. Das System zum Schutz der Gastarbeiter ist zwar noch lückenhaft, kann aber im regionalen Vergleich als wichtiger Fortschritt bewertet werden.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Schätzungen zufolge 25 Prozent der Katarer mit der Herrscherfamilie verwandt sind. Wie kommen diese Schätzungen zustande?

Das ist ein Abgleich aus verschiedenen Quellen. Diese Zahlen kursieren seit längerer Zeit, und mittlerweile geht man angesichts des starken Bevölkerungswachstums in Katar sogar von einem etwas höheren Anteil aus.

Das macht die Einführung einer Demokratie in Katar eher unwahrscheinlich, schließlich werden sich die meisten Mitglieder der Familie wohl kaum gegen ihre Verwandten auflehnen. Zudem würde die Einbürgerung von Gastarbeitern den Anteil verringern.

Absolut. Genau deswegen ist Katar bei der Einbürgerung so restriktiv. Das einzige Land der Golfregion, das eine etwas andere Tradition hat, ist der Oman. Da gibt es Arbeitsmigranten, die in der dritten Generation dort leben. Das ist aber eigentlich vom sogenannten Kafala-System nicht so vorgesehen, weil es so gedacht ist, dass im Falle von wirtschaftlichem Aufschwung schnell Arbeitskräfte ins Land geholt werden, die man beim Ende des Aufschwungs auch schnell wieder loswird.

Fordern denn auch jüngere Katarer keine demokratischen Reformen?

Es gibt immer wieder Umfragen in der arabischen Welt, die gerade bei den jungen Leuten abfragen, was ihnen besonders wichtig ist. Und Demokratie als Regierungsform ist da in allen Golfstaaten auf einem sehr niedrigen Platz. Da sind wir im Kern des Systems von Katar. Der Staat legitimiert sich nicht durch Mitsprache und Bürgerbeteiligung wie eine Demokratie, sondern durch eine Umverteilung von Einnahmen aus den Rohstoffexporten. Er sorgt für dich und dafür stellst du keine Ansprüche, mitbestimmen zu wollen, das nennt man in der Theorie einen "Rentierstaat". Trotzdem müssen natürlich die Interessen der wichtigsten Gruppen im Land immer von der Regierung mitberücksichtigt werden, um keine Opposition entstehen zu lassen, auch nicht innerhalb der Herrscherfamilie.

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Frauen, Gastarbeiter und LGBT-Menschen haben es in Katar schwer. Heterosexuellen Katarern wiederum bietet der Staat einigen Komfort, was auch den Machterhalt sichert. Strom und Wasser sind beispielsweise kostenfrei.

Ich glaube auch, dass die Bedürfnisse von sehr vielen Bürgern auf diese Weise erfüllt sind. Für die Angehörigen von Minderheiten, die sich mehr Freiheit wünschen, gilt das natürlich nur sehr bedingt. Aber daraus entsteht nicht automatisch viel Momentum für einen Regimewechsel. Dafür braucht es viele wütende Bürger, die sich unterdrückt fühlen und sich beispielsweise das Brot nicht mehr leisten können. Davon ist Katar sehr weit entfernt, Brot und Kuchen werden noch für Generationen in ausreichenden Mengen verfügbar sein.

Weit entfernt ist Katar auch von demokratischen Grundrechten. Dennoch wurden zumindest für Gastarbeiter ein paar Reformen eingeführt, die die Lage etwas verbessert haben. Wie passt das ins Bild?

Die genannten Reformen entstanden auf internationalen Druck hin und nicht aufgrund von Forderungen aus der Bevölkerung. Die entscheidende Frage war für Katar: Was sollten wir tun, damit wir von unseren westlichen Partnern auf Augenhöhe betrachtet und positiv wahrgenommen werden? Und dafür brauchen wir Demokratie, Menschenrechte und insbesondere Frauenrechte. 2021 wurden Teile des Schura-Rates, ein beratendes Gremium der Regierung, erstmals vom Volk gewählt. Das wurde nicht wirklich von den Einwohnern gefordert, aber es war zumindest nach außen ein Akt der Demokratisierung.

Wie lief das konkret ab?

Die Wahlen wurden von der Regierung orchestriert: In den Wahlkreisen, wo sich Frauen beworben haben, wurden keine anderen Kandidaten zugelassen, um das danach für das internationale Publikum als Fortschritt in Sachen Frauenrechte zu vermarkten. Diese Schura-Wahl ist auch mehr ein Symbol, da die Versammlung nicht ansatzweise die demokratischen Kontrollfunktionen hat, wie wir sie hierzulande von einer Volksvertretung erwarten.

Sie haben die Kontrolle angesprochen, die die Katarer über ihr Land bewahren wollen. Nun kommen über eine Million Fans aus anderen Ländern und Kulturen für einen Monat. Wie sehen die Bürger Katars die WM?

Ich glaube schon, dass viele tatsächlich auch sehr stolz darauf sind, weil das Interesse am Sport groß ist. Die Fußballbegeisterung ist ehrlich und keine Erfindung der Herrscherfamilie. Die katarische Fußballliga ist so alt wie die Bundesliga, es gibt sie also schon länger als den Staat Katar. Ein anderer Teil der Bevölkerung betrachtet die vielen westlichen Besucher sicher auch mit etwas Argwohn. Gleichzeitig verstehen diese Menschen aber, dass die WM ein wichtiger Teil der politischen Strategie Katars ist. Es gibt natürlich auch Katarer, die das Land verlassen werden, weil sie das alles schlecht finden. Die Grenzen nach Saudi-Arabien sind inzwischen ja wieder offen, und es gibt einige, die dort Familie oder ein Ferienhaus haben, wohin sie "flüchten" können. Ich würde das dann mit der Formel 1 in Monaco vergleichen: Wenn der Grand Prix dort stattfindet, verlassen auch viele der Einwohner die Stadt, die mit Motorsport nichts am Hut haben und ihre Ruhe haben wollen.

Also: Augen zu und durch.

Sozusagen. Katar will schlechte Presse vermeiden. Ich glaube daher nicht, dass die traditionellen Normen gnadenlos durchgesetzt werden, also beispielsweise Touristen für kleine Verstöße verfolgt und eingesperrt werden. Die Konservativen im Land werden ihre Wut herunterschlucken müssen, und ich kann mir vorstellen, dass der Emir nach der WM ein paar innenpolitische Entscheidungen zu ihren Gunsten treffen wird, um sie wieder zu besänftigen.

Es kommen zur WM viele Fans ins Land, teilweise aber nur zu den Spielen, weil es zu wenig Unterkünfte gibt. Sie sollen beispielsweise per Boot aus dem Iran oder per Flugzeug aus den VAE kommen. Empfindet Katar das nicht als Tiefschlag, Hilfe von außen zu brauchen?

Ich glaube, für Katar ist das kein großes Problem. Klar, das Verhältnis zu den VAE ist angespannt, aber mit Dubai als regionalem Drehkreuz muss Katar leben, wenn auch zähneknirschend. Emirates ist als Fluggesellschaft international angesehen und etablierter als Qatar Airways. Und das Verhältnis zum Iran ist grundsätzlich gut. Während der Blockade konnte Qatar Airways den iranischen Luftraum nutzen, um die Flugverbindungen ins Ausland aufrechtzuerhalten. Zudem teilen sich Katar und der Iran ein riesiges Gasfeld, auf dem auch der Reichtum beider Länder basiert. Das sachliche und stabile Verhältnis ist also in beiderseitigem Interesse. Was die Infrastruktur und Hotelsituation in Doha angeht: Das ist bereits seit über einem Jahrzehnt ein Riesenthema in Katar. Natürlich wirkt das auch nicht besonders gastfreundlich, wenn Fans aus dem Ausland anreisen müssen, weil sie im Land keinen Platz finden. Aber insgesamt wird Katar diese Probleme verschmerzen, die Alternative wäre ja nur, noch mehr Kapazitäten zu bauen, die voraussichtlich nach der WM nutzlos wären.

Irgendwann ist das besagte Gasfeld, das Grundlage des Reichtums ist, erschöpft. Wie sieht dann die finanzielle Zukunft Katars aus?

Katar ist und bleibt zu unseren Lebzeiten ein reiches Land. Wie reich – das entscheiden tatsächlich auch die Gaspreise jetzt und deren Entwicklung in den nächsten Jahren. Katar hat durch die frühe Spezialisierung auf hochwertiges und leicht transportierbares Flüssiggas einen Vorteil, ist jetzt DER Partner für den Westen und kann daher aktuell entspannt um neue Kunden werben. Dazu zählt auch Deutschland. Mit dem zusätzlichen Geld könnte Katar den eigenen Investmentfonds aufstocken, mit dem man auch Anteile von Volkswagen oder der Deutschen Bank besitzt. Es geht bei diesen internationalen Investitionen nicht nur darum, unverzichtbar zu sein für jene Länder. Ziel ist vor allem, sich in die Weltwirtschaft so einzuklinken, dass man von diesen Preissprüngen in Sachen Gas ein bisschen unabhängiger ist. Also selbst wenn die Einnahmen für Gas sinken sollten, hat man noch immer die Dividende von VW.

Katar setzt bei den Flüssiggas-Verhandlungen mit Deutschland auf langfristige Verträge, um nicht nur der kurzfristige Lückenfüller für Russland zu sein.

Das hängt aber auch mit der Förder- bzw. Produktionsmenge zusammen. Katar kann allein aus technischen Gründen nicht von heute auf morgen die Menge verdoppeln. Der Status quo ist, dass Katar sein Gas vor allem nach Asien liefert. Und ich sehe jetzt nicht, weshalb auf einmal Japan und Korea kein Gas mehr aus Katar haben wollen würden. Selbst wenn Deutschland höhere Preise bezahlte, will Katar nicht das Risiko eingehen, dass man jetzt den Vertrag mit einem anderen Land auf Eis legt, Deutschland beliefert – und nach drei Jahren ist Deutschland wieder weg, und der andere Partner hat eine neue Lieferinfrastruktur aufgebaut. Dann guckt Katar in die Röhre. Also setzt man auf langfristige Partnerschaften. So würde Katar auch noch in vielen Jahren eine wichtige und weithin sichtbare Rolle spielen. Nicht nur, wenn gerade eine WM im eigenen Land stattfindet.

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