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80 Jahre Aufstand im Warschauer Ghetto: "Die Juden beschießen uns!"


"Die Juden beschießen uns!"

Von Marc von Lüpke

Aktualisiert am 19.04.2023Lesedauer: 4 Min.
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Aufstand im Warschauer Ghetto: Jüdische Frauen wie Hasia Szylgold-Szpiro (v. r.) kämpften gegen die SS, die das Ghetto "liquidieren" wollte (Das Foto entstammt dem sogenannten Stroop-Bericht).Vergrößern des Bildes
Aufstand im Warschauer Ghetto: Jüdische Frauen wie Hasia Szylgold-Szpiro (r.) kämpften gegen die SS, die das Ghetto "liquidieren" wollte (das Foto entstammt dem sogenannten Stroop-Bericht). (Quelle: ullstein-bild)

Dem Terror der Nazis leisteten Juden erbitterten Widerstand. Weniger bekannt ist die Rolle der Frauen: Sie schmuggelten Waffen und kämpften im Warschauer Ghetto. Ein Buch schildert ihre Geschichten.

Jürgen Stroop war beeindruckt. "Diese Mädels waren keine menschlichen Wesen", sinnierte der hohe SS-Offizier nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. "Vielleicht Göttinnen oder Teufelinnen." Mit diesen Frauen hatten es seine SS-Leute 1943 zu tun bekommen.

Hunderttausende Juden hatten die Nationalsozialisten bis dahin in das Warschauer Ghetto gesperrt, viele von ihnen dann weiter in den Tod im Vernichtungslager Treblinka geschickt. Doch am 19. April 1943 begegnete den Deutschen etwas, was sie in diesem Ausmaß bislang nicht gewohnt waren: heftigster Widerstand.

"Nicht wie die Schafe zur Schlachtbank gehen!"

Als die SS an diesem Tag in das Ghetto eindrang, erwartete sie eine Überraschung: Mit Granaten und einigen wenigen Waffen schlugen jüdische Kämpfer die Deutschen zurück. Nur Männer? Nein, auch zahlreiche Jüdinnen kämpften in den Reihen der Aufständischen. Und waren bald gefürchtet für ihren Mut. "Deshalb befahl ich, diese Mädchen nicht mehr gefangenzunehmen", so Stroop, der gnadenlos die Niederschlagung des Aufstands anleitete. Stattdessen ordnete er an, "sie aus sicherer Entfernung mit der Maschinenpistole umzulegen".

Die Anführer des Aufstands, wie Mordechaj Anielewicz oder Marek Edelman, werden bis heute zu Recht für ihre Tapferkeit geehrt. Weniger bekannt sind allerdings die Namen der mutigen Frauen des jüdischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten. Das Buch "Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen" der kanadischen Historikerin Judy Batalion schließt diese Lücke weiter.

Aber noch aus einem anderen Grund ist das Buch wichtig. Denn anders als es die bis heute oft vorhandene Ansicht ist, leisteten Juden den Nazis bei ihrem Vernichtungsfeldzug in Europa sehr wohl Gegenwehr. Beim Aufstand im Warschauer Ghetto etwa oder den Erhebungen der Häftlinge in den Vernichtungslagern Sobibór und Treblinka. "Laßt uns nicht wie die Schafe zur Schlachtbank gehen!", hatte der jüdische Dichter und Partisanenführer Abba Kovner aus Litauen 1942 gewarnt.

Und Frauen wie Renia Kukielka aus Jędrzejów nördlich von Krakau haben seine Warnung beherzigt. Seit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 hatte die jüdische Bevölkerung den Judenhass und die Brutalität der Deutschen zu spüren bekommen. Der Widerstand formierte sich in Gruppen wie der Żydowska Organizacja Bojowa (ZOB), zu Deutsch: Jüdische Kampforganisation.

Demütigende Behandlung

Widerstand gegen die Besatzer benötigte aber vieles: Waffen und Ausrüstung, vor allem aber Kommunikation und Informationen. An dieser Stelle kamen Frauen wie Renia Kukielka ins Spiel. Jung, selbstbewusst und hervorragend Polnisch sprechend war Kukielka ideal als Kurierin. Denn die vielen Untergrundgruppen mussten miteinander in Kontakt bleiben. Was planten die Deutschen? Was geschah zum Beispiel im Ghetto von Warschau?

Besonders Jüdinnen, die anders aussahen, als es die Nazis in ihrem rassistischen Wahn "definiert" hatten, betätigten sich als Botinnen innerhalb des besetzten Polens. Getarnt als Nichtjüdinnen. Als Frauen hatten sie zudem einen weiteren Vorteil: Sie waren nicht beschnitten. "Wenn die Deutschen den Verdacht hatten, dass jemand Jude war, musste er wortwörtlich die Hosen herunterlassen", schreibt Batalion.

Jüdischen Kurierinnen und Kurieren drohte allerorten Gefahr. Nicht nur von den Deutschen. Es gab auch die sogenannten "Schmalzowniks", Leute, die sich darauf verlegt hatten, Juden, die sich entweder versteckten oder eine Tarnidentität zugelegt hatten, ausfindig zu machen. Um sie dann entweder zu erpressen oder an die Besatzer zu verraten.

Wer nicht erwischt wurde, leistete unschätzbare Arbeit. Die Frauen schmuggelten sich auf abenteuerlichste Weise in Ghettos hinein und wieder hinaus, bisweilen leiteten sie Flüchtlinge heraus. Sie transportierten Waffen auf allerlei Wegen, selbst in ausgehöhlten Broten. Und sorgten für Papiere, die Juden eine andere Identität bestätigten.

Als Jüdin bei der Gestapo

Eine fremde Rolle nahm während des Krieges auch Bela Hazan an. Eigentlich wollte sie nach Palästina auswandern, doch dann griff Hitler an. Getürmt aus dem Ghetto sollte sie mit Chuzpe, einem christlichen Gebetbuch und viel Können als Kurierin die Ghettos von Wilna, Grodno und Białystok vernetzen. Bei ihrer Mission leisteten ihr die Deutschen unerwartete Hilfe: Bela Hazan, die für eine Polin gehalten wurde, erhielt als Jüdin eine Stelle bei der Gestapo in Grodno als Übersetzerin.

Ähnlich tollkühn war ihre Kameradin Lonka Kozibrodska, die für ihre Arbeit ihr attraktives Äußeres nutzte – und sich sogar Taschen mit Schmuggelware von Gestapo-Leuten tragen ließ, wie Batalion schreibt. Doch ewig ging das gefährliche Spiel nicht gut. Beide, Lonka Kozibrodska und Bela Hazan, wurden ertappt. Beide kamen schließlich nach Auschwitz.

Während Hazan und Kozibrodska als Kurierinnen und Schmugglerinnen gedient haben, gelang Vikta Kempner im besetzten Litauen ein anderer Schlag gegen die Deutschen. Im Auftrag des Partisanenführers Abba Kovner sprengte sie 1942 einen deutschen Zug. Es war ein großer Erfolg für den Widerstand. Und für den Stellenwert der Frauen, die auch aufseiten der Partisanen oft nur "allemal als gut fürs Kochen, Putzen und Pflegen" gegolten hätten.

Denn dass die Frauen kämpfen konnten, sollten sie zur Genüge beweisen. So am 18. Januar 1943, als die Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto schon einmal mit Waffen eine Deportation verhinderten. "Die Juden beschießen uns!", fasst Batalion, selbst Nachfahrin einer Holocaust-Überlebenden, das Entsetzen der Deutschen zusammen.

"Die einsamen Reste unseres Volkes"

Ausgesprochen hoch war der Kampfgeist auch beim eigentlichen Aufstand im Warschauer Ghetto am 19. April 1943. "Diesmal werden sie bezahlen!", sagte eine jüdische Kämpferin nach den ersten Gefechten. Doch den Blutzoll entrichteten vor allem die im Ghetto Eingesperrten. Am 16. Mai 1943 sprengte die SS unter dem Kommando von Jürgen Stroop symbolisch die Große Synagoge im Warschauer Ghetto. Der Aufstand war zu Ende, zahlreiche Kämpferinnen und Kämpfer tot.

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Wer mehr über ihre Taten wissen möchte, ist mit dem Buch von Judy Batalion gut beraten. Es basiert auf zahlreichen Quellen und Gesprächen, beschriebene Szenen sind anhand dessen von der Autorin rekonstruiert worden. Vor allem zeigt Batalion eindrücklich, dass auch nach dem Ende von Krieg und Holocaust der Schrecken für viele Überlebende nicht zu Ende war, dass die erlittenen Traumata nachwirkten.

Den Tag ihrer Befreiung schilderte Zivia Lubetkin, die im Warschauer Ghetto gekämpft hatte und entkommen war, so: "Wir standen betroffen und niedergeschlagen abseits, die einsamen Reste unseres Volkes."

Dieser Text erschien 2022 zum ersten Mal und wurde anlässlich des 80. Jahrestags des Aufstands im Warschauer Ghetto neu publiziert.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Judy Batalion: "Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferin", München 2021
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