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Führender Historiker: "Bei Trump muss man sich auf das Schlimmste gefasst machen"


Heinrich August Winkler
"Bei Trump muss man sich auf das Schlimmste gefasst machen"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 02.09.2020Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Donald Trump: Radikale Positionen des US-Präsidenten haben historische Vorbilder, sagt der Historiker Heinrich August Winkler im Gespräch mit t-online.Vergrößern des Bildes
Donald Trump: Radikale Positionen des US-Präsidenten haben historische Vorbilder, sagt der Historiker Heinrich August Winkler im Gespräch mit t-online. (Quelle: Alex Brandon/ap-bilder)

Vor 75 Jahren siegten die USA im Zweiten Weltkrieg heute sind sie eine Nation im Niedergang. Warum es trotz Donald Trump Hoffnung für den Westen gibt, erklärt der renommierte Historiker Heinrich August Winkler im t-online-Interview.

Das 20. Jahrhundert galt als das amerikanische, doch vom Einfluss vergangener Zeiten sind die USA heute weit entfernt. Stattdessen schwindet ihr weltweiter Einfluss. Derweil will US-Präsident Donald Trump mit aggressiven Parolen die Wahl am 3. November gewinnen. Doch seine populistische Agenda ist alles andere als neu, erklärt der Historiker Heinrich August Winkler im t-online-Gespräch.

Nicht nur in den USA herrscht eine tiefe Verunsicherung, auch die Europäische Union befindet sich in der Krise. Wie soll man mit Ungarn und Polen umgehen, die den Rechtsstaat demontieren? Steht die politische Kultur des Westens diesseits und jenseits des Atlantiks vor dem Aus? Welche Fehler hat Deutschland seit der Wiedervereinigung begangen – und wie können sie korrigiert werden? Die Antworten des führenden deutschen Staatshistorikers lesen Sie hier:

t-online: Herr Winkler, der 2. September ist ein historisches Datum: Vor 75 Jahren kapitulierte Japan, damit war der Zweite Weltkrieg auch in Asien zu Ende, und die USA triumphierten als Führungsmacht des Westens. Heute ist davon das martialische "America First" des Präsidenten Donald Trump übrig geblieben. Was ist passiert?

Heinrich August Winkler: Nicht alles an Donald Trumps Politik ist neu. Die Parole "America First" etwa hat nicht durch Trump ihre historische Uraufführung erlebt. Sie entstammt der zutiefst nationalistischen, antisemitischen und isolationistischen Opposition gegen den früheren US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu Beginn der 1940er Jahre. An dieses Vorbild hat Trump angeknüpft.

Wie seine historischen Vorbilder bedient sich der US-Präsident eines aggressiven Populismus, um seine Ziele zu erreichen.

Trump ist ein Erbe des isolationistisch gefärbten Populismus in den USA. Politischer Populismus ist eine amerikanische Erfindung: Der Begriff kam Ende des 19. Jahrhunderts auf, als die People’s Party gegründet wurde, eine vor allem von Farmern des Mittleren Westens getragene Bewegung, die auf direkte Demokratie setzte, gegen die urbanen Eliten agitierte und gegen jede Art von Immigration war. Trumps Präsidentschaft ist also keineswegs ein Bruch mit der bisherigen politischen Geschichte der Vereinigten Staaten, sondern ein Glied in einer Kette von Entwicklungen.

Vor allem verdeutlicht Trumps Präsidentschaft doch Amerikas gesellschaftliche Spaltung. Viele europäische Beobachter erstaunt trotzdem immer wieder, wie kritiklos die traditionsreiche Republikanische Partei Trumps Gebaren unterstützt.

Auch das ist erklärbar. Vor Trumps Wahl hat es eine einschneidende Zäsur gegeben: Die Republikaner, die "Grand Old Party", wurden von der Tea-Party-Bewegung gewissermaßen erobert. Deren fremdenfeindliche Motive und auch die "America First"-Forderungen tauchten dann bei Trump wieder auf. Diese Elemente muss man in einen größeren Zusammenhang stellen, wenn man das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl von 2016 verstehen will.

Heinrich August Winkler, 1938 in Königsberg geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Winkler ist einer der bedeutendsten deutschen Historiker, seine Publikationen, wie etwa "Der lange Weg nach Westen" oder die "Geschichte des Westens", sind Standardwerke. Soeben ist im Verlag C.H. Beck (München) Winklers neues Buch "Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen" erschienen.

Tatsächlich hat es die Demokratische Partei Donald Trump bei seinem Wahlsieg vor vier Jahren ziemlich leicht gemacht.

Das ist richtig. Nach der Niederlage der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton begann in der Partei eine selbstkritische Debatte, die in dem Vorwurf an Clinton und ihr Team gipfelte, im Wahlkampf zu sehr auf die Bedürfnisse der liberalen Anhänger in den großen Städten gesetzt zu haben, während die Sorgen der Stammwähler in der Arbeiterschaft im "Rust Belt" vernachlässigt worden seien. Ich halte diese Kritik für sehr berechtigt.


Könnten wir bei der Wahl am 3. November eine ähnliche Überraschung erleben wie vor vier Jahren? Trump werden im Wahlkampf praktisch alle Tricks und Störmanöver zugetraut.

Bei Trump muss man sich auf das Schlimmste gefasst machen, die amerikanische Demokratie ist zurzeit in Gefahr. Ich setze aber darauf, dass die Zivilgesellschaft in den USA so stark ist, dass jeder Versuch Trumps, diktaturähnliche Zustände zu schaffen, zum Scheitern verurteilt sein wird.

Obwohl Trump versucht, die Briefwahl zu torpedieren?

Der neue Chef der US-Post hat Trump ja wegen dessen Äußerungen zur Briefwahl klar widersprochen. Er ist noch im Amt.

Dass man im Jahr 2020 ernsthaft darüber sprechen muss, ob eine Wahl in Amerika demokratisch abläuft, ist doch aber schon per se ein Skandal. Noch vor rund 30 Jahren waren die USA die unangefochtene westliche Führungsmacht, heute wirken sie wie ein taumelnder Riese. Finden Sie das nicht erstaunlich?

Es gab diesen einen historischen Moment, den der konservative Publizist Charles Krauthammer 1989/90 den "unipolaren Moment" genannt hat. Das war der Zeitpunkt, als die Ost-West-Rivalität mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums endete – während die USA als letzte Supermacht übrig blieben. Damals prägte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama den Begriff vom "Ende der Geschichte"…

…der sich allerdings als Illusion entpuppte.

Richtig. Spätestens mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde die Verwundbarkeit der USA offensichtlich. Seither kann man von einer Vormachtstellung der Vereinigten Staaten nur noch mit Vorbehalt sprechen. Zugleich fiel in die Zeit der Jahrtausendwende der Aufstieg der Volksrepublik China. Seit mehr als einem Jahrzehnt leben wir nun in einer multipolaren Welt mit einer Reihe von "Global Players", vielleicht auch in der Frühphase einer neuen Bipolarität. Die Zeit des unipolaren Moments ist abgelaufen.

Die USA sind daher eigentlich umso mehr auf ihre Verbündeten in Europa angewiesen. Stattdessen schimpft Donald Trump mit Inbrunst über Deutschland und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Steht die transatlantische Freundschaft vor dem Aus?

Die transatlantische Zusammenarbeit wird zurzeit auf eine harte Probe gestellt, aber ich halte es für falsch, von ihrem Ende zu sprechen. Nach wie vor sind Europa und Amerika durch eine gemeinsame politische Kultur, die des Westens, verbunden. Ebenso wenig steht die spezielle deutsch-amerikanische Beziehung vor dem Aus. Auch aus ganz praktischen Erwägungen heraus: Europa ist einfach nicht in der Lage, die USA im globalen Maßstab strategisch zu ersetzen. Falls es mit Joe Biden im nächsten Jahr einen neuen US-Präsidenten geben sollte, wird dieser eine konstruktivere und kooperativere Haltung gegenüber Europa und Deutschland einnehmen. Aber als Historiker kann ich in Zukunftsfragen natürlich nur spekulieren.

Über Amerikas Probleme spricht es sich ja immer leicht, aber auch auf unserer Seite des Atlantiks gibt es Grund zur Sorge.

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Sprechen wir also über das, was es an der deutschen und europäischen Politik zu kritisieren gibt.

Gern. Fangen wir bei uns selbst an: Was bemängeln Sie an der deutschen Politik?

In den Jahren des Ost-West-Konflikts haben wir uns daran gewöhnt, dass die USA im Ernstfall für unsere Sicherheit einstehen. Diese Haltung hat die Wiedervereinigung überlebt – und erschwert damit die dringend notwendige Debatte, ob nicht Deutschland auch im militärischen Bereich mehr Verantwortung übernehmen muss. Stattdessen haben wir uns oft auf wenig überzeugende Weise als Europas Friedensmacht gebärdet.

Als größeres und wirtschaftlich stärkeres Land wollte das wiedervereinigte Deutschland die Nachbarn in Europa eben nicht verschrecken.

Sicher, aber wir Deutsche haben uns nicht die dringend notwendige Frage gestellt, was es bedeutet, dass unser Land 1990 wieder ein Nationalstaat geworden ist – wenn auch einer der postklassischen Art, der Teile seiner Hoheitsrechte gemeinsam mit anderen Staaten ausübt und andere auf supranationale Einrichtungen übertragen hat.

Trotz der Einbindung in die EU wird Deutschlands Gebaren von den Partnerländern oft kritisch gesehen.

Häufig wird uns Deutschen attestiert, dass wir uns als die moralische Leitnation Europas aufführen. Ich erinnere an die europäischen Zerwürfnisse während der Flüchtlingskrise 2015. Es besteht durchaus Anlass zu deutscher Selbstkritik. Und wir sollten uns nicht aus dem Gefühl heraus, aus unserer mit Schuld beladenen Vergangenheit vor 1945 mustergültig gelernt zu haben, anderen europäischen Staaten gegenüber als moralisch überlegen empfinden. Unsere Nachbarn betrachten das zurecht als neue Variante deutscher Arroganz.

Die "Nation" ist hierzulande ja aber ein durchaus kritisch beäugter Ausdruck.

Wir Deutschen haben unseren ersten Nationalstaat, das von Otto von Bismarck gegründete Reich, ruiniert. Daran besteht kein Zweifel. Daraus aber zu schlussfolgern, dass der Nationalstaat per se obsolet sei, ist verwegen. Diese Einschätzung teilt so gut wie kein anderer Staat in Europa. Das muss uns klar sein, und darüber sollte diskutiert werden: Warum fällt es uns Deutschen so schwer zu begreifen, dass viele europäische Länder nichts mit dem Begriff der "postnationalen Demokratie" anfangen können?

Ein Begriff, den der Historiker Karl-Dietrich Bracher einst für die alte Bundesrepublik prägte.

Bracher bezeichnete die Bundesrepublik als "postnationale Demokratie unter Nationalstaaten". Aber wir müssen uns klarmachen, dass gerade in denjenigen Staaten in Europa, deren Unabhängigkeit wir Deutsche im Zweiten und in manchen Fällen auch schon im Ersten Weltkrieg mit Füßen getreten haben, ein größeres Bedürfnis entwickelt ist, die eigene Identität zu wahren, als es bei uns der Fall ist. Bei uns hat nach 1945 allmählich ein Prozess der Abkehr von nationalistischen Traditionen eingesetzt.

Wohl eher in der alten Bundesrepublik vor 1990, oder?

Ja, in Ostdeutschland haben viele der alten deutschen Vorurteile gegenüber der westlichen Demokratie stärker überlebt als in der alten Bundesrepublik. In Westdeutschland hat man sich in langen Debatten auf ein neues deutsches Selbstverständnis verständigt. Nur deshalb konnte der Philosoph Jürgen Habermas 1986 seinen Stolz über die vorbehaltlose Öffnung der westdeutschen Gesellschaft gegenüber der politischen Kultur des Westens ausdrücken. Der staatlich verordnete Antifaschismus der DDR hat viel weniger zu einer Abkehr von deutschnationalen Einstellungen geführt als die freie Meinungsbildung im Westteil des Landes.

Für Ostdeutschland ist der "lange Weg nach Westen", wie Sie eines Ihrer Hauptwerke genannt haben, also bis heute noch nicht abgeschlossen?

Angesichts der radikal unterschiedlichen Entwicklung im geteilten Deutschland ist das nicht erstaunlich. Die im Osten noch weit stärker als im Westen anzutreffende Distanz gegenüber allem "Fremden" ist ein Beispiel dafür. Das gehört zu den Erblasten der deutschen Teilung, die auch 30 Jahre nach der Einheit nicht vollständig überwunden ist.

Positiv gesehen hat der 3. Oktober 1990 aber endlich die "Deutsche Frage" nach der Einheit des Landes gelöst.

Dieser Feiertag im kommenden Oktober sollte wirklich Anlass zum Rückblick sein. Denn die Deutsche Frage ist ja sogar im dreifachen Sinn gelöst worden: Erstens ist das wiedervereinigte Deutschland in Einheit und Freiheit – den beiden großen Forderungen der Revolution von 1848 – endgültig dem Kreis der westlichen Demokratien beigetreten. Zweitens wurde durch die verbindliche Anerkennung der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße die Grenz- und Gebietsfrage definitiv geregelt. Und drittens löste die Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der Nato und der Europäischen Union das Sicherheitsproblem rund um Deutschland.

Zugleich bleiben aber Konflikte. Sie haben die Arroganz beklagt, die Deutschland gegenüber seinen Nachbarn zeige. Was soll die deutsche Politik aber denn tun, wenn die Regierungen in Ungarn und Polen die Rechtsstaatlichkeit attackieren?

Wir müssen die politische Kultur des Westens verteidigen. Nicht nur in Deutschland, sondern ebenso auf allen europäischen Ebenen. Deswegen müssen wir auch eine glaubwürdige europäische Antwort auf die Herausforderungen aus Budapest und Warschau finden. Gelingt das nicht, hört die Europäische Union auf, eine Wertegemeinschaft zu sein.

Die angemessene Antwort ist aber schwer zu finden. Im Europäischen Rat dominiert das Einstimmigkeitsprinzip, Ungarn und Polen könnten deshalb missliebige Entscheidungen wie etwa einen Stimmrechtsentzug verhindern, indem sie sich gegenseitig decken.

Das ist eine zentrale Herausforderung: Die liberalen Demokratien innerhalb der Europäischen Union müssen sich gegen die illiberalen behaupten. Wenn dies nicht durch formelle Beschlüsse der EU-Institutionen geht, dann eben durch Beschlüsse auf zwischenstaatlicher Ebene. Es geht um die grundsätzliche Frage, ob die Europäische Union auch künftig mehr sein will als ein wirtschaftlicher Zweckverband. Ein Abbau der Rechtsstaatlichkeit innerhalb eines Mitgliedsstaats der EU verstößt eindeutig gegen die in den Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993 und im Vertrag von Lissabon von 2009 festgelegten Grundsätze des Staatenverbunds. In dieser Frage darf die EU nicht lange fackeln.

Wie sieht es aus, wenn wir über Europa hinausschauen? Der Westen hat seine Vorrangstellung in der Welt verloren, haben Sie vorhin gesagt. Wie aber kann sein Modell der liberalen Demokratie trotzdem weiter Strahlkraft behalten?

Der Westen befindet sich in Gefahr, und das nicht zuletzt durch sich selbst. Allerdings bin ich gegenwärtig etwas weniger skeptisch, was die Zukunft des Westens angeht, als noch 2017.

Warum?

Die Anziehungskraft des westlichen Modells ist weltweit ungebrochen. Das zeigt gegenwärtig die Entwicklung in Belarus. Die Forderungen der Demonstranten nach Freiheit und Rechtsstaatlichkeit lassen sich weder in Belarus noch im benachbarten Russland auf Dauer unterdrücken. Und auch in China kann ich mir nicht vorstellen, dass sich die aufsteigenden Mittelschichten und die Arbeiterschaft langfristig mit der extrem restriktiven Gängelung durch Partei und Staat abfinden werden.

Das klingt durchaus optimistisch.

Ein gewisses Maß an Optimismus kann im Sinne meines Königsberger Landsmannes Immanuel Kant manchmal geradezu sittliche Pflicht sein.

Herr Winkler, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Heinrich August Winkler
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