Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Überall unbewältigte Konflikte Hier schlummern schon neue Kriege
Im Libanon herrscht Waffenruhe auf Abruf, während in Syrien der Bürgerkrieg nach Jahren der Pause wieder auflebt. Und die Ukraine sucht Garantien für einen Frieden, den ihr die Nato kaum gewähren will. Geht das immer so weiter?
Irgendwann geht jeder Krieg zu Ende, sagen kluge Historiker. Damit ist nichts gesagt über das Wie und Wann. Schaut man sich heute auf den Schauplätzen um, auf denen Kriege und Bürgerkriege stattfinden, fragt man sich, ob die These, die ja eigentlich von zynischer Überzeugungskraft ist, noch zutrifft.
Im Libanon ist ein Waffenstillstand in Kraft getreten, der gemeinhin die Vorstufe zum Frieden ist. Libanon ist ein schönes Land, das seit 50 Jahren nicht zur Ruhe kommt. Es war schon immer schwierig genug, die einheimischen Kräfte – Drusen, Christen, Muslime – in politische Balance zu bringen. Zudem mischen immer schon fremde Staaten mit – Syrer und Iraner, Franzosen, Amerikaner und Israelis.
Biden will ein Vermächtnis, Trump keine Bürde
Die jüngste Invasion der israelischen Streitkräfte hat das Gleichgewicht verändert. Sie dauerte nicht lange an, darin lag eine gewisse Überraschung. Unter Vermittlung Amerikas kam der Waffenstillstand zustande. Präsident Joe Biden denkt an sein Vermächtnis und Donald Trump, sein zukünftiger Nachfolger, möchte möglichst keine Bürde im Nahen Osten übernehmen. Beide Herren waren sich ausnahmsweise mal einig.
Die Hisbollah soll sich binnen 60 Tagen hinter den Litani-Fluss zurückziehen. Ist diese Bedingung erfüllt, zieht sich Israel ebenfalls zurück, behält sich aber vor, wieder einzugreifen, sollte die Hisbollah gegen das Abkommen verstoßen. Den Waffenstillstand zu garantieren, ist der libanesischen Armee (nicht sehr schlagkräftig) überlassen. Auf Beobachtungsposten ist auch die Unifil, eine Mission der Uno, die seit dem Jahr 1978 im Land stationiert ist.
Im Nahen Osten ist Frieden nicht mehr als die Abwesenheit von Krieg. Da Krieg aber immer irgendwo anwesend ist, bleibt Frieden, der den Namen verdient hätte, eine Illusion. Zwischen zwei Kriegen herrscht eigentlich immer nur eine Pause, mehr nicht. Im Libanon dürfte sich die Hisbollah auf mittlere Sicht neu gruppieren. Deren Schutzherr Iran wird seine Strategie überdenken. Und dann?
Der Krieg war nicht vorbei, er schlief nur
Im Windschatten des Libanon-Konflikts greifen in Syrien seit einigen Tagen die Rebellen in den Provinzen Aleppo, Idlib und Hama an. In Aleppo, der größten Stadt, flohen Polizisten, Sicherheitskräfte und Soldaten des Regimes. Jetzt patrouillieren die Rebellen mit ihren Pickups und Motorrädern durch die Stadt, die von überlebensgroßen Postern des Präsidenten Baschar al-Assad geschmückt ist. Der Machthaber schickte zum ersten Mal seit dem Jahr 2016 wieder Flugzeuge, die Aleppo bombardierten.
Die Rebellen nutzen die Schwäche der beiden Länder, die Assad in jeder Hinsicht alimentieren: Iran und Russland. Dieser Krieg, der als Bürgerkrieg begann und alsbald fremde Mächte anzog, ist 13 Jahre alt und schien sich erschöpft zu haben. Wie sich erweist, schlief er nur, dieser Krieg, und erwachte nun.
Der Krieg wird für Netanjahu zum Selbstzweck
Im Libanon herrscht Waffenruhe, in Gaza nicht. Das liegt aus mehreren Gründen an Benjamin Netanjahu. Seine nationalreligiöse Regierung würde an einem Waffenstillstand mit der Hamas zerbrechen und der Premierminister vor Gericht landen. Deshalb wird dieser Krieg für Netanjahu zum Selbstzweck.
Der Krieg gegen die Ukraine weist Ähnlichkeiten mit dem Dauerkrieg im Nahen Osten auf. Wladimir Putin spricht der Ukraine das Existenzrecht ab, so wie Iran Israel dieses Recht abspricht. Außerdem ist es ein klassisch imperialistischer Krieg, da Russland Gebiete wiedererobern will, die mit dem Zerfall der Sowjetunion Unabhängigkeit erlangt hatten.
Seit einigen Wochen spricht Wolodynyr Selenskyj von einem Friedensplan, den er den westlichen Verbündeten als geheime Kommandosache vorstellte. Offenbar ist die Ukraine kriegsmüde geworden. Ihr fehlt es an vielem, vor allem an Soldaten. Die russischen Truppen rücken vor. Drohnen und Mittelstreckenraketen zerstören gezielt die Energieversorgung des Landes. Der Winter naht, der dritte Kriegswinter. Was tun?
Die Nato steckt im Zwiespalt
Offenbar ist Selenskyj bereit, verlorene Gebiete verloren zu geben, ohne sie ganz aufzugeben. Dafür erhofft er sich, erbittet er, verlangt er Garantien vom Westen, damit Russland nicht morgen den Krieg wieder aufnimmt, um doch noch die ganze Ukraine zu erobern.
Die Nato steckt im Zwiespalt. Länder wie Großbritannien, die USA und Deutschland haben jede Menge Rüstungsgüter für viele Milliarden Dollar geliefert, die USA hat sogar nach langem Zögern erlaubt, dass ihre Raketen auf russisches Territorium fliegen dürfen. Soll das alles umsonst gewesen sein?
Unter dem Aspekt der Moral ist die Aufnahme der Ukraine in die Nato geboten. Aber hat nicht die West-Drift der Ukraine und das Ausgreifen der Nato Putin den Vorwand zur Invasion geliefert?
Zur Person
Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.
Die Nato muss jetzt ihr Interesse definieren und die Grenzen der Aufnahme neuer Länder wie die Ukraine oder auch Georgien bestimmen. Wie stellt sie sich zu Putins Imperialismus? Dazu gehört die Einschätzung, was Putin nach einem Waffenstillstand vorhat. Die Reconquista, die Rückeroberung ehemals sowjetischer Gebiete, geht, liest man seine Reden, vermutlich weiter. Nicht Moldau, aber die baltischen Staaten gehören der Nato an und haben ein Anrecht auf kollektive Verteidigung. Unter diesen Auspizien liegt es nahe, auch der Ukraine Schutz zu gewähren, Schutz durch Aufnahme ins Bündnis.
Dieser Welt ist die Ordnung abhandengekommen
Donald Trump hat einen General zum Bevollmächtigten für Verhandlungen mit Putin und Selenskyi ernannt. Er kann die Ukraine nicht abschreiben, indem er keine Waffen mehr liefert, wie er beabsichtigte. Denn damit wäre er der Verlierer, der er unter keinen Umständen sein will. Trump möchte, wie üblich, einen Deal machen. Aber was verlangt er Putin ab, was ist sein Preis für die Beendigung des Krieges?
Natürlich sind wir konzentriert auf Kriege in unserer Umgebung, was moralisch fragwürdig ist. Natürlich müssten wir, beim Nachdenken über Krieg und Frieden, den schrecklichen Bürgerkrieg im Sudan einbeziehen und auf die Drohungen Chinas gegenüber Taiwan und die Konflikte im Südchinesischen Meer hinweisen. Hier schlummern neue Konflikte, neue Kriege.
Wir leben in einer Welt, der die Ordnung abhandengekommen ist. Wäre schön, wenn kluge Historiker, die uns sagen, dass auch diese geschichtliche Phase irgendwann endet, bald schon recht behielten.
- Eigene Meinung