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Zum journalistischen Leitbild von t-online.TV-Kritik Wortschwall eines Islam-Predigers sprengt Jauchs Talk-Runde
Günther Jauch
Wer waren die Gäste? Wenig überraschend war Wolfgang Bosbach ins Gasometer eingeladen worden. Schließlich ist der CDU-Haudegen die scharfe Zunge der Verfassung und erprobter Verfechter des deutschen Rechtsstaates. Hinzu kamen der Bezirksbürgermeister aus Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), sowie die Journalisten Özlem Gezer (Spiegel) und Stefan Buchen (NDR). Und dann war da noch Abdul Adhim Kamouss, ein in ganz Deutschland predigender Imam, der hauptsächlich in der umstrittenen Al-Nur-Moschee in Berlin-Neukölln auftritt.
Der wortgewandte Imam reißt das Wort an sich
Der Verlauf der Sendung war so vorhersehbar, dass es einen schon fast ärgerte, dass die ARD und Günther Jauch sich derart vorführen ließen. Vorhersehbar, weil schon mehrfach vorgekommen: Ein streitbarer Imam wird in eine TV-Gesprächsrunde zum Thema Islam geladen, zusammen mit anderen streitbaren Gästen. Der Imam freut sich, im Fernsehen auftreten zu können, ist wortgewandt, unterbricht, will auf alles sofort antworten, reißt die Diskussion an sich und verfällt regelmäßig in lautstarke Monologe.
Ja, dies tun auch viele andere Gäste, doch im Normalfall reicht ein mahnendes Wort des Moderators. Jauch tat an diesem Abend nichts. "Ja, das wissen wir jetzt" war das Einzige, was Jauch immer wieder sagte, um Kamouss zum Schweigen zu bringen. Es war ein Lehrbeispiel, wie man es nicht machen darf: Jauch ließ sich von Kamouss regelmäßig das Wort entreißen und war nicht im Stande, es sich energisch zurückzuholen.
So entstand gerade zwischen Kamouss auf der einen und Bosbach sowie Buschkowsky auf der anderen Seite eine "Diskussion", die ihren Namen nicht verdiente. Es drängte sich der Eindruck auf, die ARD wollte mit Kamouss einen Imam wie ein Museumsstück ausstellen: Seht her, so sieht er aus, der Imam, der Salafist, der Hassprediger!
Den Gegenpart vertrat Bosbach, der mit Recht kritisierte, dass in Deutschland noch immer diskutiert würde, was nicht zu diskutieren sei: dass sich alle Menschen, die in Deutschland leben, egal welcher Religion, Nationalität, Hautfarbe oder Gesinnung, den gleichen Rechts- und Werteordnung zu unterwerfen haben, nämlich der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Kamouss will Anhänger zu "radikalen Friedensstiftern" bekehren
Kamouss sprach von der Gefahr der Islamophobie in Deutschland, sagte, er predige, um seine Schäfchen zu "radikalen Friedensstiftern" zu machen. Ja, er, Kamouss, habe früher in seinen Predigten von "Ungläubigen" gesprochen. Inzwischen habe er sich weiterentwickelt und spreche nun von "Mitmenschen".
Ob er dies aus Überzeugung oder politischer Korrektheit tue, fand Jauch offenbar nicht fragenswert. Stattdessen durfte Kamouss erklären, wenn einer seiner Gläubigen zum radikalen Fundamentalisten geworden sei, dann "konnte ich einen Einzelnen aus vielen nicht erreichen."
Auch nachdem Jauch eine repräsentative Umfrage der ARD vorgelegt hatte, nach der die Deutschen den Islam zu 68 Prozent für nicht tolerant und immerhin 38 Prozent als Bedrohung sehen, nahm er Kamouss nicht früh genug das Wort. Stattdessen ließ er ihn den Koran zitieren, um die Umfrage zu widerlegen.
Mit dem Koran lässt sich alles belegen - und widerlegen
Der Moderator hätte dem Imam an dieser Stelle die Widersprüchlichkeit des Koran vorhalten müssen. Ein kurzer Exkurs: Der Koran beschreibt das Leben, das Denken und die Lehre des Propheten Mohammed. Es ist ein nicht chronologisch geordnetes Werk, das Mohammeds frühes Erwachsenenleben aus Mekka und sein späteres Leben in Medina beschreibt. Wie Kamouss es von sich selbst behauptet, hat sich auch Mohammed im Laufe seines Lebens weiterentwickelt. So ist in frühen Versen von Toleranz gegenüber anderen Religionen zu lesen, in späteren hingegen nicht mehr. So ist es für einen Imam ein Leichtes, zu jedem Vorwurf gegenüber dem Islam ein Gegenzitat aus dem Koran zu finden. Andererseits wäre es auch ein Leichtes, ein Zitat zu finden, das Intoleranz und Hass belegen würde. Schlicht und einfach, weil der Koran nicht widerspruchsfrei ist.
Diese Widersprüchlichkeit ist ein Grund, weshalb viele Nicht-Muslime den Islam als "nicht greifbar" beschreiben. Sie ist ein Problem, warum viele Menschen in Deutschland dem Islam skeptisch gegenüber stehen. Das gilt nicht nur für den Islam, wie die ebenso in den letzten Wochen und Monaten präsente Diskussion um Antisemitismus, Anti-Zionismus und Anti-Israelismus zeigt.
Islamisten und Islamophobiker sind sich ähnlich
NDR-Journalist Buchen charakterisierte Islamisten als psychisch labile Menschen, die man beeindrucken und leicht verleiten kann, die audiovisuellen Reizen ausgeliefert sind, Dinge schnell als "die Wahrheit" annehmen und nicht in der Lage sind, Texte und Worte kritisch zu hinterfragen. Ironischerweise passt diese Beschreibung auch auf die Menschen, die aufgrund emotional aufgeladener Berichterstattung über die Geschehnisse in der Welt eine ängstliche Haltung gegenüber dem Islam oder dem Judentum eingenommen haben. Islamisten und Islamophobiker sind sich also ähnlicher als besonders die zweitgenannten zugeben wollen.
Auch aus diesem unkritischen Nicht-mehr-Hinterfragen, aus der Entwicklung zu einer Überschriften-Gesellschaft, ist ein Hang zum Generalverdacht geworden, den der Talk bei Günther Jauch am Sonntag unterstützte. Durch das Einladen des Imam Kamouss begünstigte die ARD eine Anti-Haltung gegenüber Muslimen. Diese Tendenz, warnte "Spiegel"-Journalistin Gezer, sei gefährlich. Denn sie führe zu Forderungen wie der von Bosbach, alle Muslime in Deutschland sollten öffentlich gegen Islamisten demonstrieren. Doch genau damit hätte die Islamophobie gesiegt und Muslime in eine Abwehrhaltung gedrängt, die auch viele Juden derzeit wieder in Deutschland empfinden.
Jauch-Talk hat Ängste geschürt, statt aufzuklären
Bei allem Verständnis für die Angst der Menschen in Deutschland vor dem, was gerade in Syrien, dem Irak, in Afghanistan und vielen anderen Ländern passiert: Solche Sendungen wie die erste Jauch-Sendung nach der Sommerpause schüren eher Phobien, als dass sie helfen, sie zu lösen.