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Ein Jahr Corona: Wie Deutschland zu Beginn der Pandemie wichtige Zeit verlor


Ein Jahr Corona
Wie Deutschland die drohende Katastrophe verschlief

  • Johannes Bebermeier
Von Johannes Bebermeier

Aktualisiert am 27.01.2021Lesedauer: 8 Min.
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Angela Merkel: Es dauerte Wochen, bis die Bundesregierung in den Corona-Krisenmodus ging.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel: Es dauerte Wochen, bis die Bundesregierung in den Corona-Krisenmodus ging. (Quelle: Florian Gaertner/photothek.net/imago-images-bilder)

Die chinesische Millionenstadt Wuhan ist längst im Lockdown, als vor einem Jahr der erste deutsche Corona-Fall bekannt wird. Dass es sich um eine Jahrhundertkrise handelt, will zunächst trotzdem niemand wahrhaben.

Am Tag, an dem die Jahrhundert-Pandemie Deutschland erreicht, diskutieren die Gäste bei "Hart aber fair" ein Thema, das die Menschen gerade sehr umtreibt: "Muss uns die Politik vor den Minuszinsen retten?" Untertitel: "Wer jetzt noch spart, ist selber schuld."

Die Inflationsangst – sie ist am 27. Januar 2020 noch wesentlich größer als die Corona-Angst.

Dabei bestätigt eine kurze Pressemitteilung des bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege an diesem Montag vor einem Jahr, was zu befürchten war: Das Coronavirus verschont Deutschland nicht. "Ein Mann aus dem Landkreis Starnberg hat sich mit dem neuartigen Coronavirus infiziert", heißt es in der knappen Mitteilung. Er befinde sich "klinisch in einem guten Zustand".

Und noch etwas anderes steht in der Pressemitteilung: "Das Risiko für die Bevölkerung in Bayern, sich mit dem neuartigen Coronavirus zu infizieren", werde "derzeit als gering erachtet".

Heute, also ein Jahr und mehr als 390.000 bayerische Corona-Fälle später, ist klar: Das war eine ziemlich riskante Prognose. Allein in Bayern sind in den vergangenen zwölf Monaten fast 10.000 Menschen an oder mit dem Virus gestorben.

Es war nicht die erste Fehleinschätzung in dieser Jahrhundertkatastrophe, und es würde auch nicht die letzte bleiben. Aber sie steht gewissermaßen symbolisch für die Anfangszeit der Coronavirus-Pandemie in Deutschland. Wer diese Wochen rekonstruiert, kann beobachten, wie die Gefahr zunächst kolossal unterschätzt wird. Vor allem, weil anfangs schlicht wenig über das Virus bekannt ist. Aber das ist wohl nicht der einzige Grund.

Aus China um die Welt

Corona kommt nicht aus heiterem Himmel auf Deutschland herab. Bevor das Virus am 27. Januar 2020 beim deutschen Patienten 0 festgestellt wird, einem 33 Jahre alten Mitarbeiter des Automobilzulieferers Webasto, hatte es sich vom Fisch- und Wildtiermarkt in der chinesischen Millionenstadt Wuhan aus bereits über den Globus ausgebreitet:

  • Im Dezember 2019 werden in Wuhan erste Infektionen bekannt.
  • Am 5. Januar schickt die Weltgesundheitsorganisation WHO eine Mail ans Gemeinsame Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern, in dem sie vor einem "Cluster von Lungenentzündungen" in Wuhan warnt.
  • Am 9. Januar identifizieren Experten laut WHO das neue Coronavirus als Erreger.
  • Am 11. Januar melden Chinas Behörden den ersten Todesfall und sieben Patienten in kritischem Zustand.
  • Am 14. Januar wird das Coronavirus erstmals im Ausland nachgewiesen, in Thailand.
  • Am 20. Januar berichten chinesische Experten, das Coronavirus sei von Mensch zu Mensch übertragbar. Es gibt inzwischen in China 200 bestätigte Infektionen und drei Todesfälle.
  • Am 25. Januar erreicht das Coronavirus Europa, in Frankreich werden drei Fälle bekannt.
  • Am 26. Januar stuft das deutsche Robert Koch-Institut, das RKI, die chinesische Provinz Hubei als Risikogebiet ein. In China werden bald mehr als 43 Millionen Menschen weitgehend von der Außenwelt abgeschottet. Das Virus hat nachweislich nun auch die USA, Japan, Südkorea, Vietnam, Nepal, Singapur, Taiwan und Australien erreicht.
  • Am 27. Januar, als der erste deutsche Fall bestätigt wird, liegt die Zahl der Toten weltweit bereits bei 80, es gibt 2.744 Fälle in China und rund 50 weitere im Rest der Welt.
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Eine Einschleppung des Virus? Unwahrscheinlich

In Deutschland gibt man sich in diesem Januar 2020 betont gelassen. German Entspanntheit statt German Angst.

Auch wenn die Bürokratie natürlich reagiert: Das RKI nimmt das Coronavirus mit der ersten Warnung der WHO am 5. Januar in seine "Public Health Intelligence"-Wochenberichte auf, die in den Postfächern des Kanzleramts, der Ministerien und anderer Behörden landen. Noch am 21. Januar wird dort die "Wahrscheinlichkeit einer Einschleppung von Fällen nach Deutschland" als gering eingeschätzt, wie die "Zeit" berichtet.

Dabei ist Corona längst da, es weiß nur noch keiner. Einen Tag zuvor, am 20. Januar, sitzt der deutsche Patient 0 in einem sechs Quadratmeter großen Raum einer Kollegin aus China gegenüber, die am Hauptsitz ihres Arbeitgebers Webasto im bayerischen Landkreis Starnberg eine Schulung gibt. Und die erst auf dem Rückflug feststellt, dass sie krank ist.


Einige Tage später, am 23. Januar, wird Gesundheitsminister Jens Spahn in den "Tagesthemen" interviewt. Erst in der letzten Frage geht es um das Coronavirus. Spahn sagt: "Wir nehmen das sehr ernst, wir sind wachsam, aber mit kühlem Kopf auch gleichzeitig." Es sei wichtig, dass man das Geschehen für sich einordne, sagt Spahn und bemüht einen Vergleich, der heute nur noch von Verschwörungstheoretikern gebraucht wird. An der Grippewelle, sagt Spahn, würden in Deutschland bis zu 20.000 Patienten pro Jahr sterben. "Der Verlauf hier, das Infektionsgeschehen, ist sogar deutlich milder, als wir das bei der Grippe sehen."

Einen Tag später, so wird Uğur Şahin es nachher dem "Business Insider" erzählen, liest Şahin im Fachmagazin "The Lancet" über das neue Virus. "Ich war sofort alarmiert, dass dieser Ausbruch sich nicht auf China beschränken würde, sondern zur weltweiten Pandemie werden könnte", sagt der Biontech-Gründer. Er und sein Team machen sich kurz darauf an die Arbeit an einem Impfstoff.

In der deutschen Verwaltung ist dagegen von Alarmstimmung immer noch nichts zu spüren. Am 27. Januar, also dem Tag, als die erste Ansteckung in Deutschland bekannt wird, sagt RKI-Chef Lothar Wieler im ZDF-"Morgenmagazin", die Gefahr für die deutsche Bevölkerung sei weiter "sehr gering".

Zwei Tage und drei weitere Infektionen in Bayern später rät Spahn im Fernsehen zur "wachsamen Gelassenheit". Man sei vorbereitet, die Infizierten seien isoliert, die Kontakte würden nachverfolgt. Grundsätzlich gelte, was in der Grippezeit eben auch gelte: Handhygiene, in die Armbeuge niesen, aufeinander aufpassen. An Schutzmasken ist zu dieser Zeit noch gar nicht zu denken.

Die "irreale Vorstellung" und die reale Kappensitzung

Am 11. Februar bekommt die Krankheit einen Namen: Die WHO nennt sie Covid-19, für "Corona Virus Disease 2019". Einen Tag später sagt Spahn im Gesundheitsausschuss, die Gefahr einer Pandemie sei "eine zurzeit irreale Vorstellung". Wohl auch, weil es zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 16 Infizierte in Deutschland gibt.

Die Gefahr werde laut Experten für Deutschland nach wie vor als gering eingeschätzt, sagt Spahn laut "Spiegel" in der Sitzung. Es gebe in Deutschland 47 Hochsicherheitsisolierplätze, und man könne noch viele andere Krankenhauszimmer umrüsten.

Die Botschaft lautet also noch immer: alles im Griff, alles halb so wild.

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Klar, die chinesische Millionenstadt Wuhan befindet sich seit rund drei Wochen im Lockdown, und ein bisschen Corona ist im Februar auch in Deutschland. Aber es ist eben auch Karneval. Und da ist ja bekanntlich fast alles erlaubt. Die Zahl der Corona-Infizierten reicht den Verantwortlichen noch nicht für Einschränkungen, geschweige denn für eine Absage. Dabei gibt es schon erste Fälle, die nichts mehr mit Patient 0 zu tun haben. Ein Hinweis darauf, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte.

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Was dann am 15. Februar im Kreis Heinsberg geschieht, ist mittlerweile sogar im Museum dokumentiert. Der Karnevalsverein "Langbröker Dicke Flaa" feiert mit 300 Leuten in Gangelt seine Kappensitzung. Ein Kölschkranz und Getränkebons der Feier sind inzwischen im Bonner Haus der Geschichte ausgestellt.

Der Kreis Heinsberg wird zum ersten deutschen Corona-Hotspot. Internationale Medien schreiben vom "deutschen Wuhan". Am 24. und 25. Februar wird ein Ehepaar positiv auf das Coronavirus getestet, das auf der Kappensitzung gefeiert hat. Es wird nicht das letzte bleiben.

Da ist die Epidemie – aber eben auch der CDU-Vorsitz

Am 24. Februar ist Spahn erstmals nicht mehr ganz so entspannt. Das hat allerdings weniger mit Heinsberg zu tun als mit Italien. Dort gibt es inzwischen mehr als 160 Infizierte und fünf Tote. "Durch die Lage in Italien ändert sich auch unsere Einschätzung der Lage: Corona ist als Epidemie in Europa angekommen", sagt der Gesundheitsminister bei einer Pressekonferenz in seinem Ministerium. "Deshalb müssen wir damit rechnen, dass sie sich auch in Deutschland ausbreiten kann."

Noch betont er dabei das "kann". Und "angekommen" war das Coronavirus natürlich längst, nicht nur in Italien.

Neben Spahn steht an diesem Tag ein Mann, den damals noch relativ wenige auf der Straße erkennen, der inzwischen aber eines der Gesichter der Pandemie ist: Lothar Wieler, der Chef des RKI, das die Bundesregierung berät und eine zentrale Rolle einnehmen wird.

Warum hat seine Behörde nicht früher entschiedener gewarnt? Der "Zeit" wird er dazu im November 2020 sagen, man habe die Lage in Asien beobachtet, wo einige Länder nur kleinere Ausbrüche hatten. Und ein anderes Coronavirus war noch zu gut in Erinnerung, das SARS-CoV-1, das sich Ende 2002 zu einer Pandemie auswuchs. Allerdings zu einer Pandemie, an der letztlich "nur" knapp 800 Menschen starben und niemand in Deutschland. "Das hat uns auf eine falsche Fährte gebracht. Hinterher ist man immer schlauer", wird Wieler rückblickend sagen.

Langsam mal Krise

Bis Deutschland nach diesem 24. Februar wirklich in den Krisenmodus schaltet, vergehen jedoch weitere Wochen. Einen Tag später sitzt Jens Spahn zwar wieder vor der versammelten Presse. Doch dieses Mal ist das Thema ein anderes. Im Team mit Armin Laschet stellt er seine Kandidatur für den CDU-Vorsitz vor.

"Wir befinden uns", sagt Spahn, "in der größten Krise unserer Geschichte." Mit "uns", das sagt er auch, meint er allerdings die CDU – noch längst nicht die Deutschen in der Corona-Pandemie.

Seine Beamten lehnen dem "Spiegel" zufolge in diesen Tagen bei einem Treffen mit Kollegen des Innenministeriums noch ab, einen Krisenstab zu bilden. Auch die Überlegung, den Flugverkehr aus China einzuschränken, hält man in Spahns Haus noch nicht für nötig.

Erst am Abend, nachdem Spahn und Laschet fast anderthalb Stunden ihre Ambitionen in der CDU erklärt haben, erreicht den Gesundheitsminister ein Anruf aus Nordrhein-Westfalen. "Jens, wir haben ein Problem in Heinsberg", sagt Karl-Josef Laumann seinem Kollegen auf Bundesebene.

"Es ist ernst"

Doch es sind eben schon viele Wochen vergangen, in denen Deutschland hätte vorsorgen können. Noch bis zum 18. Februar etwa liefert Deutschland mehrmals medizinische Schutzkleidung nach China. Erst Ende Februar wird langsam klar, dass Deutschland selbst nicht genug davon hat. Anfang März geht der Bund dann auf große und teure Einkaufstour, die den Mangel zeitweise nicht mehr abwenden kann.

Noch am 2. März sperrt sich Spahn in einer Sondersitzung des Gesundheitsausschusses dagegen, Großveranstaltungen absagen zu lassen. Das sollten die Behörden vor Ort entscheiden, "ohne dass man belehrend aus Berlin kommt", sagt er laut Protokoll. Erst am 8. März empfiehlt Spahn selbst, Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern abzusagen.

Es geht in Trippelschritten in den Krisenmodus.

Am 9. März wird die Pandemie auch in Deutschland tödlich. Eine 89 Jahre alte Frau aus Essen und ein 78 Jahre alter Mann aus Gangelt im Kreis Heinsberg sterben an Covid-19. Es werden die ersten beiden Corona-Toten von inzwischen fast 53.000 in Deutschland sein. Noch wird betont, dass beide gesundheitlich angeschlagen waren.

Bald schon gibt es in allen Bundesländern Corona-Fälle. Die Weltgesundheitsorganisation ruft am 11. März den Pandemiefall aus. Am 16. März schließt Deutschland erstmals viele Geschäfte und Restaurants, Theater und Schwimmbäder, Hotels und Gotteshäuser.

Frankreich verhängt gleich eine Ausgangssperre. Präsident Emmanuel Macron sagt: "Wir sind im Krieg." Zwei Tage später wendet sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache an die Deutschen. Etwas weniger martialisch, aber inzwischen wohl nicht weniger besorgt.

"Es ist ernst", sagt Merkel. "Nehmen Sie es auch ernst."

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