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30 Jahre Mauerfall: "Ein desaströses Bild der deutschen Außenpolitik"


Zahm in einer rauen Welt
"Ein desaströses Bild der deutschen Außenpolitik"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 08.11.2019Lesedauer: 10 Min.
Interview
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Bau vor 60 Jahren: Historische Aufnahmen zeigen, wie die Mauer zwischen Ost und West entstand – und schließlich fiel. (Quelle: t-online)

1989 führte der Mauerfall sehr schnell zu einem vereinten Deutschland. 30 Jahre später hat das Land noch immer nicht seine Rolle in der Welt gefunden, kritisiert der Historiker Andreas Rödder.

Mauerfall und Einheit standen zu Beginn, die Neunzigerjahre sollten dann eine Ära von Frieden, Wohlstand und Demokratie einleiten. Nicht nur in Deutschland und Europa, sondern weltweit. Heute sieht die globale Lage ganz anders aus als erhofft; der Jubel über die friedliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist vergangen.

Im Gespräch mit t-online.de erklärt der renommierte Historiker Andreas Rödder, warum das Einheitsprojekt so anders verlief, als es die Bundesregierung von Helmut Kohl erhofft hatte. Er erläutert, warum die heutige politische Diskussion derart vergiftet ist und warum die Medien seiner Ansicht nach eine Mitschuld daran tragen. Vor allem aber fordert Rödder, dass Deutschland und Europa ihren Lebensstil verteidigen müssen.

t-online.de: Professor Rödder, am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, eigentlich sollte Deutschland im Jahr 2019 ein glückliches, wiedervereinigtes Land sein. Stattdessen ist die Unzufriedenheit im Osten heute groß. Was ist falsch gelaufen?

Andreas Rödder: Nach der Wiedervereinigung 1990 wurden zu hohe Erwartungen von zu tiefen Enttäuschungen abgelöst.

Also rächen sich Helmut Kohls überzogene Versprechungen an die Ostdeutschen noch immer?

Auch. Helmut Kohl war geprägt vom Gründungsmythos der Bundesrepublik: Auf die Währungsreform 1948 und die Einführung der Marktwirtschaft folgten volle Schaufenster und das "Wirtschaftswunder". Genau das erwarteten Kohl und die Bundesregierung nach 1990 erneut: blühende Landschaften mit zufriedenen Bundesbürgern. Für die Ostdeutschen aber folgten auf die Einführung von D-Mark und Marktwirtschaft zwar volle Schaufenster. Aber kein Wirtschaftswunder, sondern die Deindustrialisierung, der wirtschaftliche Absturz. So machten die Ostdeutschen ganz andere Erfahrungen, als es die Westdeutschen erwarteten. Das Hauptproblem der Einheit war und ist aber ein kulturelles.

Inwiefern?

Der Westen erwartete vom Osten Anpassung. Und er war nicht bereit, sich auf die Ostdeutschen einzulassen. Niemand hat gesehen, welche ungeheure Transformation für die Menschen in den neuen Bundesländern mit der Wiedervereinigung verbunden war. Wer im Westen – mich selbst eingeschlossen – hatte denn 1990 Verständnis für einen ostdeutschen Arbeiter, dessen Betrieb geschlossen wurde? In einem Staat, in dem es nicht üblich gewesen war, überhaupt den Arbeitsplatz zu wechseln, und wo der Betrieb zugleich mehr als nur der Arbeitsplatz war: eine soziale Lebenswelt, die Freizeit und Urlaub umfasste. Derartige Erschütterungen und Entwertungen von Biografien gehen nicht spurlos an Menschen vorbei. Oder an einer ganzen Gesellschaft.

Andreas Rödder, geboren 1967, lehrt Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Der Historiker ist Mitglied der CDU, sein letztes Buch trägt den Titel "Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland". Seine "Geschichte der deutschen Wiedervereinigung" ist 2018 in der 2. Auflage erschienen.

Im Westen scheint das Verständnis für Ostdeutschland nicht viel größer geworden zu sein.

Richtig. Viele im Westen verstehen immer noch nicht, wie sehr die komplette Lebenswelt der Ostdeutschen 1989 und 1990 umgeworfen wurde.

Bei aller berechtigten Kritik: Die deutsche Wiedervereinigung war ohne historisches Vorbild, Fehler waren kaum zu vermeiden.

Selbstverständlich. Auf Seite der Ostdeutschen herrschten ja wiederum auch sehr hohe Erwartungen an die Einheit, die so überhaupt nicht zu verwirklichen waren. Tatsächlich hat der Wiedervereinigungsprozess mittlerweile viel mehr erreicht, als 1990 realistischerweise hätte erhofft werden können.

Der Unmut ist trotzdem da. Lange war es die Linkspartei, nun ist es vor allem die AfD, die die Unzufriedenheit vieler ostdeutscher Wähler in Stimmen umwandelt. Wie bewerten Sie den Erfolg der Partei bei den letzten Landtagswahlen?

Die AfD hat es geschafft, die Unzufriedenheit der Ostdeutschen anzusprechen und sich als Stimme der Ostdeutschen darzustellen. Abzüglich der Sonderbedingungen in den neuen Ländern erleben wir allerdings in ganz Deutschland eine zunehmende Polarisierung zwischen rechts und links, die unsere Demokratie gefährdet.

Wo verlaufen die Frontlinien?

Auf der einen Seite der öffentlichen Diskussion in Deutschland steht eine hypermoralisierende Linke, die sich als multikulturalistisch und kosmopolitisch versteht. Diese Linke nimmt für sich in Anspruch, Werte und Normen und auch Redeweisen der Gesellschaft festlegen zu können, und setzt diese für absolut. Auf der rechten Seite sehen wir hingegen ein nationalistisches Ressentiment, das sich ähnlich verabsolutierend demokratischen und öffentlichen Debatten entzieht. Indem diese Leute etwa mit Verschwörungstheorien, Ausgrenzungsstrategien oder Kampfbegriffen wie "Lügenpresse" hantieren. Die Fronten zwischen den Lagern werden immer verhärteter.

Also ist es der sprichwörtliche "Dialog der Taubstummen". Da bräuchte es eigentlich die Intervention der demokratischen Mitte. Die ist allerdings vor allem mit sich selbst beschäftigt.

Das ist die Tragik. Die SPD verzettelt sich gerade in überdimensionierten Verfahren zur Ermittlung einer Führung für eine führungslose Partei. Die CDU folgt dem Niedergang der Sozialdemokraten in gemessenem Abstand und hat sich ihrerseits programmatisch ziemlich entkernt. Da ist es schwer, den Bürgern eine attraktive Politik anzubieten.

Es sind aber nicht nur Programme, die Wähler interessieren.

Richtig. Die großen Parteien haben keine Persönlichkeiten mehr an der Spitze, die Vertrauen auf sich ziehen.

Woher stammt dieses "Führungsvakuum"?

Die SPD hat sich in jahrelangen Machtkämpfen verzehrt, weil sie nie ein klares Verhältnis zur Agenda 2010 der Regierung Schröder gefunden hat. Die CDU hat sich als Kanzlerwahlverein hinter Angela Merkel geschart, die alle anderen starken Persönlichkeiten der Partei verdrängt hat. Das halte ich für das eigentliche Drama der CDU.

Merkel hat potenzielle Rivalen auf Distanz gehalten, so hat sie ihre Macht gesichert. Werfen Sie ihr das vor?

Die Frage ist ja, wie man eine Partei führt: Beißen sie alle Konkurrenten weg? Oder führen sie, indem sie Konkurrenten einbinden und Breite abbilden? Das Letztere ist jedenfalls die höhere Kunst. Helmut Kohl hat sie bis zu einem gewissen Grad beherrscht.

Wird es der CDU besser gehen, wenn Angela Merkel in absehbarer Zeit die politische Bühne verlässt?

Nur, wenn auf die Ära Merkel eine kraftvolle politische Führung folgt. Im schlechtesten Fall könnte die CDU implodieren.

Wo wir gerade über Personen sprechen: Wie bewerten Sie die Rolle der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer bei den letzten Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen?

Die Vorbehalte gegen Annegret Kramp-Karrenbauer als Parteivorsitzende liegen auf der Hand. Aber es ist problematisch, ihr jetzt diese Wahlniederlagen zuzuschreiben. Angela Merkels Rolle bleibt dabei völlig außen vor.

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Konservativ 21.0: Eine Agenda für Deutschland
  • Autor: Andreas Rödder
  • Verlag: C.H.Beck
  • Erscheinungsdatum: 21. März 2019 
  • Taschenbuch: 144 Seiten

Nun wird Merkel dieses Land voraussichtlich so oder so noch eine Zeit lang regieren. Was aber muss geschehen, damit wieder konstruktive öffentliche Debatten geführt werden können?

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Wir brauchen lebendige, debattenfähige Volksparteien, die den Streit in die Mitte der Demokratie zurückholen, statt ihn an die Ränder zu verdrängen – und die AfD-Wähler dann als Nazis zu beschimpfen. So stößt man auch Menschen, die politisch noch unentschlossen sind, in die Richtung der AfD. Aber letztlich tragen auch die Medien eine große Mitverantwortung dafür, dass sich in diesem Land wieder vernünftig debattieren lässt.

Wieso "wieder"? Wir haben doch in Deutschland eine größere Medienvielfalt als in den meisten anderen Staaten der Welt.

Die gesamte politische Öffentlichkeit befindet sich in einem Teufelskreis. Demoskopen – die nicht nur Meinung messen, sondern auch machen, indem sie jeden Firlefanz messen – sagen, "Wähler mögen keinen Streit". Folglich jazzen Journalisten jede Auseinandersetzung zum Skandal hoch. Und die Politiker reagieren mit dem Aufruf zur "Geschlossenheit", die erst den Streit aufstaut, den Wähler angeblich nicht mögen. Vor allem aber ist "Geschlossenheit" die Friedhofsruhe der Demokratie – insbesondere für die Volksparteien.

Hm. Schauen wir einmal über die Grenzen Deutschlands hinaus: Während in ostdeutschen Bundesländern die AfD erstarkt, hat in Polen und Ungarn schon auf nationaler Ebene ein Rechtsruck stattgefunden. Sehen Sie Parallelen? Immerhin haben diese Staaten ebenso eine postsozialistische Prägung wie die ostdeutschen Bundesländer.

Das ist ein wichtiger Punkt. Entscheidend ist dabei der Faktor der Selbstbehauptung. In allen diesen Ländern ist es nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu einem Gefühl der Entwertung gekommen. Das wird von Politikern wie Viktor Orbán in Ungarn nun kompensiert. Das ist einerseits das gute Recht der Ungarn, andererseits wird es mit teils zweifelhaften Mitteln getan – wie Eingriffen in die Rechtsstaatlichkeit oder die Unabhängigkeit der Medien.

Zeigt sich am Beispiel Ungarns und Polens, dass die Westeuropäer 1989 einer großen Illusion aufgesessen sind – indem sie glaubten, dass die Mittel- und Osteuropäer genauso werden wollten wie sie?

Ja. Wohlstand, Sicherheit und Demokratie, das waren die Ziele, die Menschen in Ost-, Mittel- und Südosteuropa nach 1990 anstrebten. Vor allem aber Sicherheit und Wohlstand. Für Ersteres war die Nato zuständig, für das Zweite die Europäische Union. Und die Mitgliedschaft in der EU ging nur über die Kopenhagener Beitrittskriterien, die eine Angleichung an die umfassenden Standards der Gemeinschaft vorschrieben.

Das Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist wahrlich nichts Schlimmes.

Natürlich nicht. Das Problem für die neu beigetretenen Staaten aber lag darin, dass sie gerade erst die kommunistische Herrschaft und die Kontrolle durch die Sowjetunion abgeschüttelt hatten und nun Teile ihrer neu gewonnenen Souveränität an eine EU übertragen mussten, die sich selbst als "immer engere Union" bezeichnete. Das erzeugt heute Widerwillen. Zugleich zeigt sich, dass die kulturellen Differenzen innerhalb Europas größer geblieben sind, als nach Maastricht 1992 angenommen. Das gilt für den Euro zwischen Nord- und Südeuropa. Und es gilt für eine Familienpolitik, die Ungarn und Polen anders machen wollen als Deutschland. Ich persönlich empfinde es als anmaßend, dies von deutscher Seite so pauschal und herablassend abzuqualifizieren, wie es oft geschieht.

Sie meinen, wir machen uns unbeliebt in Europa? Was könnten wir besser machen im Umgang mit unseren Nachbarn?

Ich empfehle gerade in Hinsicht auf Ungarn und Polen eine differenziertere Sichtweise und mehr Empathie: Warum tun diese beiden Ländern das, was dort gerade passiert? Der überhebliche moralisierende Blick der Deutschen ist nicht gerade hilfreich.

Bitte konkreter: Was könnten wir im Umgang mit unseren Nachbarn besser machen?

Erstens differenzieren: Es ist richtig, wenn die EU Verstöße gegen Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten sanktioniert. Aber die Familienpolitik haben wir Ungarn und Polen nicht vorzuschreiben. Deshalb zweitens mehr Empathie und Toleranz, was übrigens für alle Europäer gilt. Nicht jeder, der etwas anders macht als man selbst, ist deswegen intellektuell oder moralisch minderbemittelt.


Kommen wir noch einmal auf das Jahr 1989 zurück. Damals herrschte der Glaube, auf der ganzen Welt würden nun Demokratie und Wohlstand einziehen. Zugleich rollten in Peking Panzer die Demokratiebewegung nieder. Waren wir Westler naiv?

Der Westen war berauscht von seinem Sieg im Kalten Krieg. Er war nach 1989 der Überzeugung, dass sich sein Modell von Marktwirtschaft, Demokratie, individueller Freiheit und Pluralismus weltweit durchsetzen würde. Aber spätestens mit dem Arabischen Frühling 2011 hat man schmerzhaft feststellen müssen, dass die Weltgeschichte nicht so eindimensional verläuft. Heute fällt uns diese Vorstellung eines weltweiten Siegeszugs des westlichen Systems auf die Füße: in den neuen Bundesländern, in Mitteleuropa, von Russland und China ganz zu schweigen.

Trägt das wiedervereinigte Deutschland, seit 1989 von Freunden umgeben, eine Mitverantwortung?

Wir Deutschen haben uns den Zumutungen der Realpolitik lange entzogen. Einfach, weil wir uns in einer hereinbrechenden Idylle von Multilateralismus und wertgebundener Politik wähnten. Die Welt ist aber nicht so harmlos, wie wir das gerne hätten. In dieser Situation exportiert Deutschland bislang Moral, keine militärische Stärke. Die deutsche Politik hat kein strategisches Konzept für eine Welt, in der es rau zugeht. Das zeigte sich ganz aktuell, als Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer unabgesprochen eine Schutzzone in Nordsyrien ins Spiel brachte, woraufhin Außenminister Heiko Maas sie in der Türkei düpierte. Das war ein desaströses Bild der deutschen Außenpolitik, von der Führung in Europa erwartet wird.

Immerhin war der Schutzzonen-Vorschlag der Verteidigungsministerin ein Schritt in diese Richtung.

Das ist völlig richtig. Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen, auch mit militärischer Macht.

Nun hat sich Deutschland gemeinsam mit anderen westlichen Mächten in einem gewissen Rahmen in der Vergangenheit durchaus global engagiert, beispielsweise in Afghanistan oder in Mali.

Und hier liegt ein tieferes Problem, ein echtes Dilemma. Zum Schutz elementarer Menschenrechte hat die Weltgemeinschaft in den Neunzigerjahren das Konzept der "Schutzverantwortung" entwickelt: in die Souveränität eines Staates einzugreifen, wenn dieser nicht in der Lage ist, die Unversehrtheit seiner Bürger zu sichern. Das Konzept finde ich in der Theorie nach wie vor ganz überzeugend. Aber die praktische Bilanz ist verheerend. Die Staatengemeinschaft hat den Genozid in Ruanda 1994 ebenso wenig verhindert wie das Massaker von Srebrenica ein Jahr später. 2011 intervenierte der Westen dann militärisch in Libyen. Und was ist die Folge? Ein gescheiterter Staat, der die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer überhaupt erst möglich macht!

Deutschland hat sich damals bei der Libyen-Resolution der UN enthalten. Ist es das, wofür Sie plädieren: Deutschland sollte sich weltweit weniger engagieren und im Zweifelsfall in Kriegen und Krisen die Menschen ihrem Schicksal überlassen?

So würde ich das nicht formulieren, aber wir müssen auch eine realistische Bestandsaufnahme unserer Möglichkeiten und der Erfahrungen mit der internationalen Schutzverantwortung vornehmen. Was die wertgebundene deutsche Außenpolitik angeht, so bin ich sehr skeptisch, wie erfolgversprechend es derzeit überhaupt ist, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in anderen Regionen der Welt exportieren zu wollen. Persönlich wünschte ich mir, dass es anders wäre. Aber was den Westen angeht, ist die Zeit der Weltmission vorbei. Stattdessen erwartet uns eine ganz andere Aufgabe.

Welche denn?

Die Europäer müssen ihren Lebensstil verteidigen. Es geht um die Selbstbehauptung der westlich-europäischen Lebensweise. Ursula von der Leyen hatte mit ihrer Formulierung vom "European Way of Life", den es zu sichern gilt, völlig recht.

Aber gegen wen genau? Vermutlich meinen Sie nicht nur Staaten wie Russland?

Richtig. Die Verteidigung des europäischen Lebensstils und seiner Errungenschaften von Rechtsstaat und Demokratie, individueller Freiheit und Pluralismus richtet sich zunächst einmal nach innen: gegen linke Moralisten mit totalitärer Versuchung ebenso wie gegen rechte Extremisten und gegen muslimische Fundamentalisten, die unsere Art zu leben nicht akzeptieren wollen. Und auch gegen Herausforderungen wie etwa durch die amerikanischen Digitalkonzerne.

Unter moralischen Gesichtspunkten ist Ihre Empfehlung für ein Zurückfahren des westlichen Engagements für Menschenrechte ziemlich ernüchternd.

Sie können das gern für uninspiriert und defensiv halten. Aber so ist die Weltlage im Moment nun einmal. Und da ist mir verantwortungsvoller Realismus näher als fahrlässige Illusionen.

Aber wie passt das mit dem Vorstoß für eine Schutzzone in Nordsyrien zusammen? Die heißen Sie doch gut?

Wir müssen europäische Interessenpolitik betreiben. Und im Zusammenhang mit dem Syrien-Konflikt bedeutet dies, eine neue Flüchtlingswelle nach Europa zu verhindern.

Klingt ziemlich egoistisch.

Aus Sichtweise der Moral trifft das auch zu. Womit wir aber wieder beim Thema Realismus sind. Es gibt keine einfachen Wahrheiten. Dafür existieren Interessen, auch wenn diese in der deutschen Vorstellung etwas Anrüchiges sind.

Andere Mächte wie China, Russland und die USA vertreten ihre Interessen unverhohlen.

Besonders China ist interessant: Das chinesische Modell stellt die westliche Glaubensweisheit fundamental infrage, dass sich individuelle und ökonomische Freiheit, also Demokratie und Marktwirtschaft, eigentlich naturwüchsig miteinander verbinden müssten.

Russland hingegen galt einst als Kandidat für Demokratie.

Was erneut ein Beispiel für Selbstbehauptung ist. Wladimir Putin ist gewissermaßen die Revanche der sich gedemütigt fühlenden Russen am Westen, der sich als Sieger im Kalten Krieg fühlte.

Ist das Überleben der liberalen Demokratie angesichts der vielen Herausforderungen gefährdet?

Demokratie ist nicht gegeben, sondern muss immer wieder erkämpft und behauptet werden. Das lohnt sich! Ich jedenfalls will in keinem anderen politischen System leben.


Letzte Frage, zurück zum 9. November 1989: Wissen Sie noch, was Sie an diesem Abend gemacht haben?

Ich war damals als Student in Tübingen, wir waren in einer Studentenkneipe. Am späten Abend erfuhren wir, was in Berlin los war. Einen Tag später haben wir versucht, dorthin zu fahren – und sind heillos im Riesenstau stecken geblieben. Der erstreckte sich von Helmstedt bis nach Berlin. Auch so kann Weltgeschichte aussehen.

Professor Rödder, vielen Dank für das Gespräch.

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