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Historiker Rödder zur Bundetagswahl: So wird's mal wieder richtig Wahlkampf!


So wird's mal wieder richtig Wahlkampf!

Von Andreas Rödder

Aktualisiert am 18.08.2021Lesedauer: 4 Min.
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Armin Laschet, Annalena Baerbock und Olaf Scholz: Es ist Zeit, sich den grundlegenden Fragen im Wahlkampf zu stellen, fordert Andreas Rödder im t-online-Gastbeitrag.Vergrößern des Bildes
Armin Laschet, Annalena Baerbock und Olaf Scholz: Es ist Zeit, sich den grundlegenden Fragen im Wahlkampf zu stellen, fordert Andreas Rödder im t-online-Gastbeitrag. (Quelle: Sven Simon/imago-images-bilder)

Nebensächlichkeiten werden hochgejazzt, Kontroversen vermieden. Dabei geht es im Wahlkampf um wegweisende Entscheidungen. Die bürgerlichen Parteien sind besonders gefordert.

Der deutschen Öffentlichkeit kann man nichts recht machen. Allenthalben wird der Schlafwagen-Wahlkampf beklagt, in dem keine echten Debatten geführt werden. Wenn aber die Kampagne #GrünerMist mit scharfen Plakaten in die Offensive geht, werden Polarisierung und "Dreck" beklagt.

In der Tat ist #GrünerMist polemisch und Negative Campaigning, so wie der SPD-Spot über den engen Vertrauten von Armin Laschet fragwürdig ist. Immerhin aber zwingt die Kampagne zur Auseinandersetzung – über die Frage, in welcher Gesellschaft wir künftig leben wollen. Denn diese Frage steht im Raum.

Entscheidungen müssen her

Zwar wird in jeder Wahlkampagne gesagt, es handele sich um eine Richtungswahl – und meist wird es nicht geglaubt, weil es ja in jedem Wahlkampf gesagt wird. Tatsächlich aber stehen die westlichen Gesellschaften im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts vor Richtungsentscheidungen, die nicht einfach aus den Routinen der letzten Jahre getroffen werden können.

Andreas Rödder, geboren 1967, lehrt Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zurzeit fungiert der Historiker als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington, D.C. Rödder ist Mitglied der CDU und Autor des Buches "Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland".

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts waren die westlichen Gesellschaften der Meinung, mit ihrem Sieg über den Kommunismus sei das "Ende der Geschichte" gekommen, und ihr Modell von Demokratie, individueller Freiheit und Marktwirtschaft würde sich nun weltweit durchsetzen.

Drei Jahrzehnte später haben die westlichen Gesellschaften hingegen eklatante Ohnmachtserfahrungen gemacht: In der Migrationskrise sagte die deutsche Kanzlerin, der Staat könne seine Grenzen nicht schützen. Gleichzeitig ist Europa einem zunehmend unbeherrschbaren Migrationsdruck aus Afrika und dem Nahen Osten ausgesetzt. Die Klimakrise wird in Waldbränden und Flutkatastrophen erfahren, und die bange Frage ist, ob selbst radikale Maßnahmen zur Reduktion von CO2 in Europa diese Phänomene wirklich verhindern können.

Hinzu kommt eine Pandemie, die der Grunderfahrung der Moderne widerspricht, dass der Mensch die Natur beherrschen und ihre Grenzen überwinden kann. Zugleich erfordert sie staatliche Maßnahmen, die zu tiefen Eingriffen in die Grundrechte führen und Fragen nach dem Verhältnis zwischen individueller Freiheit und staatlicher Regulierung ganz neu aufwerfen. Und dabei sieht es so aus, als mache China uns mit seinem Modell eines autoritären Staatskapitalismus vor, wie man die Zukunft eines 21. Jahrhunderts gewinnt, in der Europa nicht mehr so recht vorkommt.

Ist das westliche Modell zerstörerisch?

All dies zusammen führt zu einer akuten Verunsicherung. Das überkommene Selbstverständnis des Westens steht infrage: Zerstört unsere Wirtschafts- und Lebensweise unsere Lebensgrundlagen? Und ist das westliche Gesellschaftsmodell, vom Kolonialismus bis zur Rolle von Frauen, Migranten und LGBTQ nicht grundsätzlich auf Diskriminierung und Ausbeutung aufgebaut? Fridays for Future, Identitätspolitik und "no borders, no nations" werden diese Fragen grundsätzlich mit "ja" beantworten und haben daher klare Gegenvorstellungen: Sie setzen auf einen grundlegenden Umbau des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems und auf die Öffnung nationalstaatlicher Grenzen.

Eine Politik der Gleichstellung zielt unter der Devise von "Teilhabe" auf die Bevorzugung all derjenigen, die öffentlich als benachteiligt gelten: Frauen, Migranten und Nichtweiße oder Nicht-Heterosexuelle, wobei der Anspruch auf Repräsentation vor allem durch Quoten umgesetzt wird.

Damit steht die Frage im Raum, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Eine Option ist eine Gesellschaft, die sich nach Gruppen organisiert, die wiederum durch Identitätsmerkmale bestimmt werden: Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, sexuelle Orientierung – und weitere Merkmale, die sich in der öffentlichen Debatte als Benachteiligungsgründe behaupten können.

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Diese gleichgestellte Gesellschaft muss der Staat organisieren, der überhaupt eine zentrale Rolle als Regulierer spielt – und die Pandemie hat dazu eine Blaupause geliefert, die sich auch auf die Klimapolitik übertragen lässt. Der Vorschlag der Grünen, ein Klimaministerium mit Vetorecht auszustatten, spiegelt eben dies wider.

Die Systemfrage wird gestellt

Diesem Modell einer neuständischen Gesellschaft steht die bürgerliche Gesellschaft gegenüber, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt und die Ordnung der Gegenwart hervorgebracht hat: Demokratie und Rechtsstaat, individuelle Freiheit, soziale Marktwirtschaft und Wohlstand sagen ihre Verteidiger. Diskriminierung und Zerstörung sagen ihre Gegner, die daher eine "große Transformation" und eine neue Ordnung anstreben.

Das ist mehr als die Frage, ob Klimaziele ein oder zwei Jahre früher oder später erreicht werden. Dahinter steht die Systemfrage: Ist das westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell grundsätzlich diskriminierend und zerstörerisch, und verlangt es daher einen grundlegenden Umbau? Oder erbringt es Freiheit und Wohlstand und muss da korrigiert werden, wo dies nicht gelingt?

Daraus folgen politische Grundsatzfragen: Ist es richtig, Gleichstellung herbeizuführen, um Ungleichheit zu beseitigen? Oder ist es richtig, Gleichberechtigung zu fördern und Startchancen zu verbessern, Ungleichheit aber da zu akzeptieren, wo sie auf unterschiedlichen Leistungen oder freier Entscheidung beruht?

Zielt Integrationspolitik vor allem darauf, Diskriminierung durch die Aufnahmegesellschaft abzubauen? Oder geht es auch hier darum, Startchancen zu verbessern und sie zugleich mit verbindlichen Erwartungen zu verbinden, was die Regeln des Zusammenlebens in Deutschland betrifft? Ist es in der Klimapolitik sinnvoll, detaillierte Maßnahmen staatlich vorzugeben und Verbote zu verhängen, oder sollte Ordnungspolitik realistische Ziele setzen und die Umsetzung der Innovationskraft von Unternehmen im Wettbewerb überlassen?

Die "große Transformation" ist voller Herausforderungen

Wollen wir einen Staat, der immer weitere Angelegenheiten des öffentlichen, gesellschaftlichen und privaten Lebens regelt und dazu immer mehr Mittel benötigt? Oder setzen wir auf privaten Wohlstand, der die Finanzierung öffentlicher Aufgaben ermöglicht, aber insbesondere der Gestaltung individueller Lebensentwürfe dient?

Die Vertreter der "großen Transformation" haben auf all dies explizite Antworten, und die Grünen haben ihr Thema. Anhänger bürgerlicher Parteien haben andere Vorstellungen von der Gesellschaft, in der sie leben wollen – und sie erwarten von ihren Parteien Antworten auf die Frage, wie sich die Anforderungen von Klimapolitik, Integration und Gleichberechtigung umsetzen lassen, ohne das westliche Gesellschaftsmodell aufzugeben. Das verlangt mehr, als die Grünen gegen die Kampagne #Grüner Mist in Schutz zu nehmen und "gegen rechts" zu sein.

Es geht vielmehr darum, Grundsatzfragen und Richtungsentscheidungen aktiv aufzugreifen und nicht liegen zu lassen, um sie später stillschweigend abzuräumen. Das ist die Chance, und es ist die Verantwortung der bürgerlichen Parteien, nicht zuletzt der Union. Und dann klappt's auch mit dem Wahlkampf.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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