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Sprachprofiler: "Frauen schreiben in Drohbriefen härter als Männer"


Sprachprofiler
"Frauen schreiben in Drohbriefen härter als Männer"

  • Claudia Zehrfeld
InterviewEin Interview von Claudia Zehrfeld

Aktualisiert am 23.06.2020Lesedauer: 11 Min.
Interview
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Erpresserschreiben: Briefe mit aus Zeitungen ausgeschnittenen Buchstaben sind die Ausnahme. Oft werden Drohbriefe hingegen auf dem Computer getippt.Vergrößern des Bildes
Erpresserschreiben: Briefe mit aus Zeitungen ausgeschnittenen Buchstaben sind die Ausnahme. Oft werden Drohbriefe hingegen auf dem Computer getippt. (Quelle: susandaniels/getty-images-bilder)

Erhält ein Unternehmen anonyme Drohbriefe, können Leo Martin und Patrick Rottler herausfinden, wer diese verfasst hat. Die Sprachprofiler sind sogar in der Lage, durch die Analyse eines Textes Aussagen zur Persönlichkeit des Autors zu treffen.

Drohbriefe, gefälschte Testamente oder WhatsApp-Nachrichten von einem anonymen Stalker – mit diesen Texten haben Leo Martin (43) und Patrick Rottler (26) vom Institut für forensische Textanalyse München regelmäßig zu tun. Der Ex-Geheimagent Martin und der Kommunikationswissenschaftler Rottler unterstützen Unternehmen und Privatpersonen, die anonym angegriffen oder erpresst werden.

Die Sprachprofiler können anonyme Täter anhand der Sprachmuster in Texten überführen. Wie genau das funktioniert, erklären sie im Interview mit t-online.de. Außerdem berichten sie von einem Stalkingfall mit einer spannenden Wendung und verraten, woran man Lügner erkennen kann.

t-online.de: Sie analysieren Texte, um anonymen Tätern ein Gesicht zu geben, Verdächtige zu entlasten. Wie gehen Sie bei der Analyse vor?

Leo Martin: Wir haben zwei verschiedene Ansatzpunkte. Ansatzpunkt eins ist: Wir haben ein anonymes Schreiben. Niemand weiß, wer dahintersteckt. Dann können wir in einer günstigen Konstellation anhand dieses Textes ein Täterprofil erstellen. Wir filtern heraus, ob der Täter eher älter oder jünger ist, ob er eher weiblich oder männlich ist. Und was für ein Sprachniveau er hat, ob er Muttersprachler ist oder nicht. Auch über das Bildungsniveau können wir Aussagen treffen, den Autor manchmal sogar einer groben Berufsgruppe zuordnen. Das Profil dient dann als Arbeitshypothese für weitere Ermittlungen.

Und der zweite Ansatz?

Martin: Der zweite Ansatz ist noch spannender und unsere Hauptaufgabe: die vergleichende Textanalyse. Dabei untersuchen wir, welche Muster im anonymen Text vorkommen und ob wir diese auch in den Vergleichstexten von Verdächtigen finden. Das ist der Bereich, in dem wir am schlagkräftigsten sind.

Was sind das zum Beispiel für Muster?

Patrick Rottler: Wenn so ein Text auf meinem Schreibtisch landet, dann zerlege ich ihn in seine Einzelteile. Wir analysieren keine Handschriften, sondern Sprachmuster – also etwa Grammatikkonstruktionen, Wortwahl, Vorlieben für bestimmte Formulierungen, orthografische Fehler, Zeichensetzung. In einem weiteren Schritt schauen wir, ob diese Merkmale signifikant sind und systematisch vorkommen. Wenn die gefundenen Merkmale auch in den Vergleichstexten eines Verdächtigen auftauchen, haben wir unseren Autor – und damit den Täter.

Martin: Wir schauen konkret etwa, ob der Autor Haupt-/Nebensatz-Konstruktionen nutzt und sich verschachtelt oder ob er kurze, pragmatische Hauptsätze bildet. Oder für welche Synonyme er sich entscheidet. Benutzt er "da" oder "weil", "daher", "deshalb", "deswegen"?

Rottler: Man muss dabei beachten, dass man, wenn man zwei Texte miteinander vergleicht, immer gewisse Übereinstimmungen findet. Die Kunst ist es, zu erkennen, was signifikant und was systematisch ist. Was in einem Fall signifikant ist und für eine Täterschaft spricht, kann in einem anderen Fall komplett irrelevant sein.

Was kann denn zum Beispiel signifikant sein?

Martin: Die größte Signifikanz und die höchste Aussagekraft haben immer Fehler, die systematisch auftauchen. Wenn jemand einen Kommafehler macht, hat das wenig Signifikanz, wenig Aussagekraft, denn das ist weitverbreitet. Gleiches gilt, wenn jemand "das" und "dass" ständig falsch verwendet. Wenn eine Person aber etwa das Wort "nämlich" mit H schreibt oder die Formulierung "per Nachnahme annehmen" ohne H, dann wird es spannender. Es müssen aber nicht unbedingt nur Fehler sein. Auch wenn ein Autor zum Beispiel ständig Füllwörter, wie zum Beispiel "da" benutzt, kann das signifikant sein. Aber ein einzelner solcher Hinweis ist nie etwas wert, wir brauchen immer vier bis fünf starke Merkmale. Erst dann bekommt unsere Analyse ein Gewicht.

Leo Martin, Jahrgang 1976, hat Kriminalwissenschaften studiert und war zehn Jahre lang für den deutschen Geheimdienst im Einsatz. Dort hat er das Kommunikationsverhalten von Menschen in Extremsituationen analysiert.

Patrick Rottler, Jahrgang 1994, hat Kommunikationswissenschaften studiert und ist Experte für Datenanalyse. Als Sprachprofiler am Institut für forensische Textanalyse ist er für den Bereich Cybercrime verantwortlich.

Texte lassen auch Rückschlüsse darauf zu, welches Geschlecht der Täter hat. Woran kann man denn zum Beispiel erkennen, ob ein Text von einer Frau oder von einem Mann stammt?

Martin: Die Wissenschaft streitet, ob das wirklich möglich ist. Es gibt aber zumindest eine Handvoll Indikatoren. Frauen werden in Drohbriefen oft schneller persönlich angreifend, verletzend. Sie schreiben härter. Vielleicht, weil sie so ihre physiologische Unterlegenheit verbal ausgleichen, aber das ist nur eine Hypothese. Außerdem neigen Frauen eher zu Serien, schicken also immer wieder anonyme Texte an denselben Empfänger.

Rottler: Wir hatten einmal einen Fall, da hat eine Frau anonyme Nachrichten aufs Handy erhalten. Die Beleidigungen, die darin vorkamen, waren alle auf der optischen Ebene: Es ging um das Aussehen des Gesichts, um verpfuschte Schönheitsoperationen, um herunterhängende Brüste. Das sind Themen, die eher eine Frau anspricht, weil eine Frau genau weiß, dass sie damit einer anderen wehtun kann. Letztendlich legen wir uns bei der Aussage zum Geschlecht des Autors aber nie hundertprozentig fest. Es bleibt eine Hypothese. Wir sagen: Der Sprachgebrauch ist eher männlich oder eher weiblich. Denn auch eine Frau kann einen männlichen oder ein Mann einen typisch weiblichen Sprachgebrauch haben.

Wie hoch ist der Anteil eines Textes, aus dem Sie Informationen über den Autor ziehen können?

Rottler: Wenn es darum geht, ein Profil des Autors zu erstellen, gleicht es der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Nur etwa ein Prozent aller Merkmale im Text sagen etwas über den Autor aus. Wenn ein Text mit Vergleichstexten abgeglichen wird, ist hingegen alles relevant. Dann kann auch die Kommasetzung wichtig sein, die bei der Erstellung eines Täterprofils kaum eine Rolle spielt.

Kann ich mich in einem Drohbrief nicht so verstellen, dass Sie es nicht merken würden?

Martin: Vermutlich kann man uns täuschen, wenn man extrem viel Energie in Verstellung investiert. Oder wenn mehrere Leute an einem Text arbeiten. Wenn der Text sehr kurz ist, macht es uns das ebenso schwer.

Rottler: Trotzdem kannst du natürlich nur das verstellen, was dir auch bewusst ist. Die Verstellung bleibt dementsprechend auf einer sehr oberflächlichen Ebene. So ist das Spektrum der Verstellungsversuche sehr beschränkt. Oft wird zum Beispiel ein ausländischer Hintergrund vorgetäuscht. Der Täter gaukelt dann ein schlechtes Deutsch vor. Aber die, die das tun, machen es oft auf die gleiche Art und Weise: Fehler werden eingebaut, Verben bleiben im Infinitiv. Das sind so die Klassiker, aber das hat mit dem, wie jemand schreiben würde, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, gar nichts zu tun. Und dadurch verrät man sich natürlich.

Martin: Ein Beispiel ist die Formulierung "Du haben nur eine Chance" in einem Erpresserschreiben. Da steht das Verb "haben" im Infinitiv. So stellen sich Deutsche typische Fehler eines Ausländers vor. Dabei ist diese Konstruktion alles andere als naheliegend, wenn man sie grammatikalisch beispielsweise aus der türkischen oder einer arabischen Sprache herleitet. Außerdem fallen die Autoren irgendwann aus ihrem Muster. Spätestens, wenn es um die Forderung geht, wird das Deutsch oft plötzlich wieder besser, weil der Täter verstanden werden will.

Könnten Sie denn den perfekten Text schreiben, bei dem niemand darauf käme, dass er von Ihnen ist?

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Rottler: Ja, das hoffe ich doch. Aber wir haben es noch nicht getestet.

Ist in der Corona-Zeit die Zahl der Drohbriefe gestiegen?

Martin: Ja, wir haben bemerkt, dass sich da in letzter Zeit etwas tut. Wir haben zu bestimmten Begriffen wie "anonymer Brief" oder "Drohbrief" Google Alerts abonniert. Da mussten wir feststellen, dass seit Corona etwa 30 Prozent mehr in den Medien über Drohbriefe und anonyme Schreiben berichtet wird.

Der Virologe Christian Drosten etwa oder Politiker Karl Lauterbach haben im Rahmen der Corona-Krise Drohnachrichten erhalten. Die bestanden oft nur aus einer Zeile. Könnten Sie anhand von so kurzen Nachrichten auch schon etwas über den Täter herausfinden?

Martin: In der Regel gilt: Aus einer Zeile ist nichts herauszuholen. Je mehr Text, desto besser. Sinn macht es ab einer halben, drei viertel Seite Text. Man kann immer Sachen hineininterpretieren. Aber zu einer Klarheit wird das nicht führen und erst recht nicht zu einem gerichtsverwertbaren Beweis. Zumal so eine Drohung von überall herkommen kann.

Rottler: Es gab einen Fall in Hamburg zu Anfang der Corona-Phase. Da hat eine ausländische Familie einen Brief bekommen, in dem stand: "Ich habe Corona und habe diesen Brief angehustet und abgeleckt." Die Konsequenz war relativ hart, die Familie musste für 14 Tage in Quarantäne. Das Schreiben muss nicht zwingend aus der rechten Szene kommen. Es könnte auch nur ein verärgerter Nachbar gewesen sein.

Was hat sich in der Art der Drohbriefe in den vergangenen Jahren geändert?

Martin: Produkterpressungen sind zurückgegangenen. Also das klassische Das-Babynahrungsgläschen-im-Supermarkt-vergiften-und-zurück-ins-Regal-Stellen und dann ein Drohschreiben schicken, das ist weniger geworden.

Erinnern Sie sich an einen besonderen Fall, an dem Sie beteiligt waren?

Martin: Für mich war das der Fall eines Reality-TV-Darstellers, der versucht hat, wieder in die Medien zu kommen. Der hat sich selbst eine Stalkerin erfunden. Die hätte angeblich sein Leben zerstört: Seine Beziehung war kaputt, weil seine Freundin es nicht mehr ausgehalten hat, er konnte nicht mehr schlafen, sein Job war weg. Das war die Geschichte, die ihm teilweise große Artikel in Printmedien verschafft hat. Auf der Suche nach der Stalkerin hat ihn ein Ermittlerteam unterstützt, dessen Teil ich war. Die Stalkerin hat auf Social Media alles von ihm kommentiert und so gezeigt, dass sie alles sieht und über alles Bescheid weiß. Wir haben dann versucht, dieser Frau Fallen zu stellen. Komischerweise ist die nicht mal in der Nähe einer dieser Fallen aufgetaucht. Dabei haben wir ihm eine Freundin inszeniert, Bilder online gestellt, klargemacht, wo der Promi am Wochenende sein wird. Und dann sind wir Observationen gefahren, aber nichts passierte.

Und dann?

Martin: Irgendwann wollten wir wissen, wie die Stalkerin mittlerweile aussieht, weil das vermeintliche Opfer sie angeblich vor Jahren nur ein einziges Mal persönlich gesehen hatte. Wir haben unseren Promi zu einem Phantombildzeichner geschickt. Dort hat er die Dame beschrieben – und jeder Strich des Zeichners war ein Treffer. Wer Polizeiarbeit kennt, weiß aber, dass du als Phantombildzeichner normalerweise mehr den Radiergummi in der Hand hast als den Bleistift. Da ist die Nase zu dick, der Mund zu schmal, die Augen zu hoch oder zu tief. Und in diesem Fall passte alles auf Anhieb. So kam der Verdacht auf, dass etwas nicht stimmt. Daraufhin haben wir einen Linguisten beauftragt und die Texte der Stalkerin mit seinen eigenen Social-Media-Posts vergleichen lassen. Dabei kam heraus: Er hat die Texte der Stalkerin mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst verfasst und diese Geschichte erfunden, um medial präsent zu sein. Das war ein Fall mit einer spektakulären Wende.

Was hat den Promi auf textlicher Ebene verraten?

Martin: Er hat statt Anführungszeichen Apostrophe gesetzt, das hat ihn unter anderem verraten. Das ist signifikant, weil das extrem unüblich ist und selten vorkommt.

Der Promi hat also im Hinblick auf seine Stalkerin gelogen. Woran können Sie generell erkennen, ob jemand lügt?

Martin: Eine Lüge kann man nur aufgrund der Wahrheit erkennen. Kriminalisten prüfen auf Zusammenhänge, auf Widersprüche. Was wir erkennen können, ist der Druck, den eine Lüge erzeugt. Das heißt, wir erkennen Stressanzeichen wie einen geröteten Hals oder dass der Blick ständig ausweicht, obwohl die Person normalerweise schon in der Lage ist, Blickkontakt zu halten. Oder sie fokussiert auf einmal zu starr. Das sind Indizien dafür, dass etwas nicht stimmt. Dann macht es Sinn, tiefer zu bohren und nachzuhaken.

Gibt es auch in der Sprache Hinweise auf eine Lüge?

Rottler: Ja, man kann entsprechende Muster auf den Text und auf die Sprache konvertieren. Wenn in einem Text plötzlich Details vorkommen in einem Umfang, der nicht notwendig gewesen wäre. Oder Begründungen an einer Stelle, an der ich als Leser überhaupt gar keine Begründung erwarte, weil das überhaupt nicht infrage stand. Das können Indizien dafür sein, dass hier etwas nicht stimmt. Der Lügner versucht, die Geschichte durch besonders viele Informationen logisch erscheinen zu lassen. Das bedeutet aber nicht, dass jeder, der detailverliebt schreibt, lügt. Denn es gibt durchaus Leute, die immer so schreiben. Man sollte auf eine Abweichung vom normalen Verhalten achten. Dafür gibt es immer einen Grund. Ein möglicher wäre eine Schwindelei.

Sie sagen: "Sprachliche Spuren können mehr über den Täter aussagen als ein Fingerabdruck." Inwiefern?

Martin: Ein Fingerabdruck, also die Papillarlinien der Haut, verrät nur eine Sache: Person X hat Sache Y berührt. Unter Umständen sind noch Rückschlüsse auf das Alter möglich. Aber über den sprachlichen Fingerabdruck lassen sich auch Aussagen über den Bildungsgrad, über die soziale Herkunft, die regionale Herkunft, selbst über Interessen und die Persönlichkeit treffen.

Was verrät Sprache denn über die Persönlichkeit des Autors?

Rottler: Beispielsweise gibt es verschiedene Persönlichkeitstypen, die sich in der Sprache niederschlagen. Es gibt den "Machertypen", der nach vorne geht, pragmatische Entscheidungen trifft – ins Tun kommen will. Das spiegelt sich auch in seiner Sprache wider, er kommuniziert nämlich genau so: mit kurzen, klaren Sätzen, ohne Geschnörkel, ohne Fokus auf Beziehungen. Der Macher will schnell zu einer Lösung kommen, er schlägt Lösungen vor. Bei dem "Typ Kontakter" hingegen spielt die Beziehungsebene eine größere Rolle. Er spricht oft von einem Wir, bezieht andere Personen mit ein. Er ist empathischer und feinfühliger und ihm ist Harmonie wichtiger.

In Ihrem Buch "Die geheimen Muster der Sprache" beschreiben sie außerdem den Analytiker und den Visionär.

Martin: Der "Analytiker" ist einer, der sich eher für Details interessiert. Er denkt logisch, in Abhängigkeiten. Ihm ist Qualität sehr, sehr wichtig. Er schreibt gerne in längeren, verschachtelten Sätzen, die auch mal einen ganzen Absatz bilden können. Herr Rottler ist Analytiker, ich Macher. Man erkennt manchmal sogar in unserem Buch, wer von uns was geschrieben hat. Und dann gibt es den sogenannten visionären Typ, der das große Ganze braucht. Er besitzt eine sehr bildhafte Sprache, weil er eine gute Vorstellungskraft hat. Dafür strukturiert er weniger. Seine verschriftlichten Gedanken verweben sich, brechen teilweise auch plötzlich ab.

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Sie sagen, der Grundsatz "Jemanden so behandeln, wie man selbst behandelt werden will" gilt in der Kommunikation nicht. Warum nicht?

Martin: Ich sollte in der Kommunikation nicht von mir ausgehen. Ich sollte so mit meinem Gegenüber sprechen, wie es zu dessen Persönlichkeit passt. Denn wenn Sie auf dem Kanal senden, auf dem der andere hört, ist das günstig für die Kommunikation. Ich als pragmatischer Machertyp müsste etwa in der Kommunikation mit einem Analytiker genug Informationen und Details zur Verfügung stellen, weil er diese benötigt, um sich sicher zu fühlen. Ich hätte es dagegen gerne schnell, schnell. Ein Analytiker aber benötigt mehr Zeit und Tiefe, um die Situation realistisch zu bewerten. Und da ist natürlich ein Konflikt. Wenn ich nur von mir ausgehe, dann überfahre ich den Analytiker wie eine Dampfwalze.

In Corona-Zeiten sitzen viele von uns im Homeoffice, wir müssen deutlich mehr mit unseren Kollegen kommunizieren, oft schriftlich. Haben Sie vielleicht ein paar Tipps, worauf man in der schriftlichen Kommunikation achten sollte?

Martin: Es ist wichtig, zu erkennen, dass man auch in der schriftlichen Kommunikation nicht von sich ausgehen darf. Selbst ein Sachverhalt, der aus meiner Perspektive eindeutig und unmissverständlich aussieht, kann gar nicht eindeutig und unmissverständlich sein. Weil jeder aus seiner Perspektive, aus seinem Kontext bewertet. Ein Tipp ist, digitale Kommunikation immer analog vorzubereiten und immer analog nachzubereiten. Und immer dann, wenn Konflikte auftauchen oder sich ein Missverständnis abzeichnet, dieses persönlich und nie schriftlich zu klären. Am Telefon ist da das Mindeste – auch dann bin ich mir der Reaktion meines Gegenübers immer noch weniger bewusst als im persönlichen Kontakt.

Kann man in der Schriftsprache eine Verrohung der Gesellschaft erkennen?

Martin: Eine sprachliche Verrohung ist festzustellen. Das hat auch mit Social Media und mit WhatsApp zu tun. Wir werten nicht nur anonyme Anzeigen und Geschäftskorrespondenzen aus, sondern auch sehr viele E-Mail-Verläufe unter Kollegen. Die sind zunehmend wie gesprochenes Deutsch verfasst. Teilweise gilt das auch für E-Mails in Richtung Kunden, wenn die Beziehung eine stabilere ist. Gerade in Stalkingfällen werten wir zudem WhatsApp-Chatverläufe aus. Bei einem Fall Ende des vergangenen Jahres war die Verrohung sehr stark zu sehen: Die Nachrichten des Täters waren sehr fragmentiert und schlampig, das hatte mit Deutsch nichts mehr zu tun. Ohne Textpflege, ohne Groß- und Kleinschreibung. Und diese Art der Kommunikation nimmt zu, weil das geschriebene Wort immer mehr dem gesprochenen angeglichen wird.

Können Sie überhaupt noch private E-Mails schreiben und lesen, ohne gleich etwas zu analysieren?

Martin: Bei mir ist eine E-Mail eher ein schneller Schuss, ein Mittel zum Zweck. Das heißt, über Text und Textpflege mache ich mir nur bedingt Gedanken. Wenn man sich mit dem Thema Sprachprofiling beschäftigt, dann denkt jeder, du darfst keinen einzigen Kommafehler mehr machen auf 240 Seiten Buch. Dabei macht man das natürlich trotzdem noch. Sprache ist Identität, sie ist ein Mittel zum Zweck. Das Profiling ist kein Fluch, der einen verfolgt, sodass man nicht mehr abschalten kann. Es ist vielmehr eine Fähigkeit, die man bewusst dazuschaltet, wenn man sie braucht. Weil das halt auch echt Arbeit ist.

Vielen Dank für das Gespräch und den Einblick in Ihre Arbeit, Herr Rottler und Herr Martin.

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