ADHS und Lernprobleme "Nicht jedes impulsive Kind hat ADHS"
Als pädagogische Leiterin der Berliner Nachhilfeschule "Lernwerk" hat Swantje Goldbach immer wieder mit Schülern und Eltern zu tun, die an der Schule zu verzweifeln drohen – unter anderem wegen ADHS. Im Gespräch mit t-online.de zeigt sie Auswege auf.
Goldbach hat als Lehrerin zunächst an einer Realschule, später an einer Schule für verhaltensauffällige Kinder gearbeitet. Gerade solche Kinder bleiben in einem leistungs- und vergleichsorientierten Bildungssystem schnell auf der Strecke. Sechs Jahre werde ein Kind als kleiner Mensch mit individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften betrachtet, sagt sie. Doch sobald es erstmals eine Schule betrete, werde es zu einem "verglichenen Kind".
"Dieser Vergleich kann ja gar nicht objektiv sein. Wir haben es mit verschiedenen Bundesländern, Schulen, Lehrern, Lehrmethoden und Klassen zu tun. Das gegenwärtige System produziere zwangsläufig Versager. "Aber das können wir uns gar nicht leisten, die Gesellschaft braucht alle Kinder als künftige Arbeitskräfte."
Individuelle Fortschritte würdigen
Die Lernexpertin regt an, den individuellen Lernfortschritt eines Kindes zu bewerten und zu dokumentieren, damit es Motivation daraus schöpfen kann, zum Beispiel, wenn es sich von zehn Fehlern auf acht oder sieben verbessert hat. Sie plädiert dafür, die "Anstrengungsbereitschaft" der Schüler zu fördern, zum Beispiel durch ein neues Bewertungssystem. "Es bricht doch nicht alles zusammen, wenn wir Noten nicht mehr so machen, wie es derzeit der Fall ist."
Schüler müssen das Lernen lernen
Der Mensch ist zum Lernen geboren. Viele Kinder könnten die Schule besser meistern, wenn sie nur wüssten, wie sie lernen können – dieser Gedanke beschäftigte sie schon als Lehrerin. Mit einem wissenschaftlichen Projekt wollte sie den Beweis antreten. Was als Promotion geplant war, führte zur Gründung von "Lernwerk", das Goldbach als "Reformnachhilfeschule" definiert, weil es ihr nicht um Hausaufgabenhilfe, sondern um "Hilfe zur Selbsthilfe" geht.
Immer wieder erlebt die Pädagogin, dass die Kinder keine Strategien haben, um ihre Defizite aufzuarbeiten. Sie stehen dem Problem hilflos gegenüber und geraten in eine Spirale aus Misserfolgen und Frustration. Der Schulstoff kann nicht hängenbleiben, wenn die Grundlagen fehlen. Manchmal helfe es schon, den Schülern nochmals die Regeln von Sprache oder Mathematik zu erklären, damit sie eigenständig weiterlernen können.
Mehr aktives Lernen statt Frontalunterricht
Goldbachs Rezept für sinnvolles Lernen lautet: weniger Frontalunterricht und Arbeitsblätter, mehr projektorientiertes Arbeiten. Wissen verfestige sich umso besser, je mehr Sinne einbezogen und eigenes Denken und Handeln gefordert werden. Doch der Leistungsdruck auf die Schüler sei definitiv gestiegen, nicht zuletzt durch Früheinschulung und G8 ohne konsequente Entkernung der Lehrpläne.
Misstrauen gegen ADHS-Diagnosen in der Schulzeit
Wenn Schüler und Lehrer ein größeres Pensum in kürzerer Zeit absolvieren müssen, fallen unkonzentrierte, zappelige Kinder womöglich stärker auf. Der sprunghaften Häufung von ADHS-Diagnosen im Schulalter begegnet Goldbach misstrauisch.
Bei echten ADHS-Fällen gebe es schon im Baby- und Kleinkindalter Anhaltspunkte wie übermäßiges Schreien, Schlafstörungen, Konzentrationsmangel und hohe Muskelspannung. "Das Kind wirkt dann wie ein überspannter Bogen", beschreibt Goldbach. "Aber nicht jedes Kind, das bewegungsfreudig und impulsiv ist, hat ADHS." Bei Schülern, die eher über Bewegung als über Zuhören lernen, sei man schnell mit der ADHS-Diagnose bei der Hand. Es gelte, bei Lehren Verständnis für diesen Lerntyp zu wecken.
Bewegung in den sperrigen Lernstoff bringen
"Unsere Kinder haben so viel Input – durch Fernsehen, Medien, Spiele – aber so wenige Ausdrucksmöglichkeiten. Gerade unruhige Kinder müssten ihren Bewegungsdrang ausleben können." Sport in der Freizeit sei deshalb enorm wichtig. In ihrer Nachhilfeschule hat Goldbach Methoden entwickelt, Lernen mit Bewegung zu verknüpfen, zum Beispiel, um sich Vokabeln einzuprägen.
Kleine Tricks helfen ADHS-Kindern auch im Schulalltag: "Man kann ihnen Techniken beibringen, im Unterricht nicht so viele störende Geräusche zu machen. Zum Beispiel ein Stück Wachs zum Kneten und Rollen in die Hand geben. Oder ein Sitzkissen auf den Stuhl legen, das nicht quietscht, auf dem sie herumrutschen können."
Wichtig sei es, die Lehrer für die Eigenheiten des Kindes zu sensibilisieren. Warum nicht den Zappelphilipp losschicken, um Kreide zu holen oder bei Experimenten zu assistieren? "Das verbessert gleichzeitig die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und steigert die Motivation", weiß die Lernexpertin.
ADHS-Medikamente machen Schüler traurig und schlapp
Im Kinofilm "Kopfüber" verliert der Junge Sascha unter dem Einfluss von ADHS-Medikamenten sein Lachen. Solche drastischen Wesensveränderungen kennt Goldbach auch von ihren Nachhilfeschülern mit ADHS. "Wir erleben immer wieder, dass Kinder unter Medikamenten traurig und schlapp werden. Einer meiner Schüler erklärte mir, dass er sich einen Zettel geschrieben hat, auf dem steht: 'Ich bin nicht wirklich traurig, das ist nur mein Medikament. Ab 16 Uhr kann ich wieder essen und lachen.' Die Kinder sind zwar konzentrierter, leben dann aber nur noch für die Schule."
Goldbach findet es gut, dass der Kinofilm die Diskussion über die Medikation bei ADHS anregt. Allzu oft bekämen Kinder Ritalin, ohne dass alle Maßnahmen vorher ausgeschöpft würden.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.