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Russische Offensive im Ukraine-Krieg: "Putin will Waffen aus China"


Krieg in der Ukraine
"Es ist ein Ablenkungsmanöver"

InterviewVon Patrick Diekmann

15.05.2024Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Wladimir Putin: Der russische Präsident setzt zum nächsten Großangriff in der Ukraine an.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident setzt zum nächsten Großangriff auf die Ukraine an. (Quelle: Mikhail Klimentyev/reuters)

Die russische Armee hat ihre Sommeroffensive begonnen und drängt die ukrainischen Truppen zurück. Plant Wladimir Putin, eine ukrainische Großstadt einzunehmen? Der Militärexperte Gustav Gressel ordnet ein.

Die Lage für die ukrainische Armee im Krieg gegen Russland ist heikel. Die russischen Truppen haben eine weitere Großoffensive begonnen und Kreml-Herrscher Wladimir Putin lässt erneut Wellen von russischen Soldaten gegen die ukrainischen Verteidigungsstellungen anrennen – ohne Rücksicht auf Verluste. Neben schweren Kämpfen im Osten fallen russische Truppen in der Region Charkiw ein.

Möchte Putin die Millionenstadt etwa erobern?

Video | Russland gelingt Vormarsch an Ostfront
Quelle: Glomex

Der Militärexperte Gustav Gressel erklärt, welcher Plan der russischen Führung hinter den Angriffen im Norden steckt. In der Absetzung des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu durch Putin sieht er außerdem ein Manöver, das auf eine stärkere Kriegsbeteiligung Chinas zielt.

t-online: Herr Gressel, die russische Armee intensiviert in der Ukraine ihre Angriffe und gewinnt an mehreren Frontabschnitten Gelände. Die USA sehen aber aktuell keine Gefahr eines Durchbruchs. Teilen Sie diese Analyse?

Gustav Gressel: Ein Durchbruch ist aktuell nicht sehr wahrscheinlich, das heißt nicht, dass er nicht passieren kann. Aber vor allem im Donbass verteidigt die ukrainische Armee eigentlich gut.

Inwiefern?

Die Verzögerungsgefechte der ukrainischen Armee funktionieren dort, wo sie sich zurückziehen muss, relativ gut. Aber das ist eine Momentaufnahme, in Kriegen kann immer viel schiefgehen. Auf Fehler müssen sich alle Seiten gefasst machen, sonst können daraus auch Durchbrüche passieren.

Zur Person

Gustav Gressel ist als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik "European Council on Foreign Relations" (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.

Welche Dimensionen hat denn die aktuelle Offensive der russischen Armee?

Wir erleben aktuell die befürchtete Sommeroffensive, die im Prinzip an denselben Hauptachsen verläuft wie die Angriffe im Winter. Im Osten bei Krasnohoriwka, Tschassiw Jar oder bei Otscheretyne. Im Norden laufen die russischen Vorstöße in Richtung Kupjansk. Das sind die Hauptachsen dieses Angriffs, und dort beobachten wir aktuell Kämpfe mit sehr hoher Intensität.

Wie sehen diese Kämpfe aus?

Die Russen bereiten ihre Angriffe durch starken Beschuss mit Artillerie und aus der Luft vor. Dann gibt es noch an anderen Frontabschnitten Angriffe, um die ukrainischen Truppen dort zu binden und um es der ukrainischen Führung schwieriger zu machen, auf die Probleme im Donbass zu reagieren.

Wie viele Soldaten hat die russische Armee denn aktuell im Einsatz?

Insgesamt umfasst die russische Streitmacht aktuell etwa 520.000 Soldaten, 3.400 Kampfpanzer und 5.000 Schützenpanzer.

Aber die werden nicht alle bei der Offensive eingesetzt.

Nein. In jedem Frontabschnitt greifen zwar Kräfte in Divisionsstärke – also bis 30.000 Soldaten – an, aber jeweils sukzessive: Artillerievorbereitung, Stoßtrupps, dann werden Kräfte nachgezogen und die Artillerie nimmt sich den nächsten Graben vor. Der aktuelle Kräfteeinsatz bei dieser Offensive ist zwar groß, verteilt sich aber auf viele Angriffsachsen und Abschnitte.

Sind die Verluste auch dementsprechend hoch?

Durchaus. Putins Armee erleidet hohe Verluste, die Ukraine schätzt sie auf 2.000 Soldaten am Tag. Erfahrungsgemäß dürfte die tatsächliche Zahl etwas darunter liegen, aber Russland hat in jedem Fall deutlich höhere Verluste als noch im Winter.

Neben den Fronten im Osten greift die russische Armee auch im Norden im Raum Charkiw an. Ist das ein ernsthafter Vorstoß, um die Stadt einzunehmen?

Im Raum Belgorod-Kursk befinden sich etwa 50.000 russische Soldaten, die über 1.000 gepanzerte Fahrzeuge und 1.200 Artilleriesysteme verfügen. Das ist aus westlicher Perspektive viel, aber es reicht definitiv nicht aus, um eine Stadt wie Charkiw zu erobern. Das ist aber auch nicht das Ziel der Russen.

Was dann?

Es geht den Russen darum, die Ukraine zu zwingen, ihre Reserven in diesem Gebiet einzusetzen. Es ist ein Ablenkungsmanöver, um ukrainische Kräfte zu binden. Die können dann nicht anderswo eingesetzt werden. Das Gebiet ist für Russland günstig, weil sie es kennen und weil sie dort in Grenznähe frei operieren können.

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Wurden die Ukrainer von diesem Angriff nördlich von Charkiw überrascht?

Nein. Der ukrainische Generalstab hat schon einen Tag davor eine Warnung herausgegeben. Das war zu erwarten, weil die Grenze dort nicht verteidigt ist – es gibt lediglich Vorposten und Minenfelder. Da die Orte in Grenznähe ständig beschossen und von russischen Drohnen aufgeklärt werden, macht eine Verteidigung hier auch keinen Sinn. Deswegen liefen die ukrainischen Verteidigungslinien ein paar Kilometer im Landesinneren. Aber den Russen ist es gelungen, eine dieser ausgebauten Linien zu durchbrechen.

Wie das?

Dort ist der Ukraine wahrscheinlich ein taktischer Fehler unterlaufen. Deswegen wurde auch der Kommandeur des zuständigen Korps dort abgelöst, was zeigt, dass auch der Stab in Kiew mit der Verteidigung unzufrieden war. Das meinte ich: Fehler passieren, Dinge können schiefgehen. Nun müssen ukrainische Reserven versuchen, die russischen Kräfte hinter diese Linie zurückzudrängen. Aber das wird ein schwieriger Kraftakt. Für die ukrainische Armee kommt erschwerend hinzu, dass ihre Kräfte im Raum Charkiw weniger Erfahrung haben und schlechter ausgebildet sind als die Truppen im Donbass.

Video | Russland rückt in Charkiw vor - Ukraine spricht von schwieriger Lage
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Quelle: reuters

Erbitterte Kämpfe scheint es vor allem um die Stadt Wowtschansk bei Charkiw zu geben. Warum versuchen die Russen, diese Stadt einzunehmen, wenn es lediglich ein Ablenkungsmanöver ist?

Weil sie das bisher relativ einfach erreichen konnten. Die Stadt ist nun zur Hälfte unter ukrainischer und zur Hälfte unter russischer Kontrolle. Die Russen werden nun schauen, dass sie das eingenommene Gelände halten. Sie sind hinter der ukrainischen Verteidigungslinie und das ist eine gute Ausgangsposition für weitere Vorstöße. Als Ortschaft kann man Wowtschansk gut zur Verteidigung nutzen, es gibt Keller und gemauerte Gebäude. Es bietet sich also an, sich zunächst einmal dort festzusetzen. Wenn die Ukraine jetzt mit eigenen Angriffen versucht, die Russen wieder zurückzuwerfen, erleidet sie dabei wahrscheinlich erhebliche Verluste. Darauf spekuliert die russische Armeeführung.

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Das ist besonders ärgerlich für die Ukraine, weil diese Reservekräfte eigentlich woanders dringend benötigt werden.

Genau, im Raum Awdijiwka zum Beispiel. Dort ist der russischen Armee ein Durchbruch durch eine gut ausgebaute Verteidigungslinie gelungen und dort erleben wir aktuell sehr starke Angriffe, weil sie die ukrainische Schwäche in diesem Frontabschnitt natürlich nutzen möchte. Die nächste ukrainische Verteidigungslinie ist nun ein paar Kilometer weiter westlich. Deswegen erlebten wir dort in den vergangenen Tagen immer mehr russische Geländegewinne und Verzögerungskämpfe der Ukraine. Die ukrainischen Verteidiger können sich bisher nicht an einer zweiten Linie festkrallen.

Könnte sich das durch die westlichen Waffen ändern? Immerhin haben die USA nun weitere Hilfspakete freigegeben.

Das braucht zumindest bei schwerem Gerät Zeit, bis dieses auf den Gefechtsfeldern ankommt. Immerhin ist die Munition schon dort und das macht einen Unterschied. Die ukrainische Armee kann nun wieder so feuern wie vor den Engpässen der vergangenen Monate. Aber das Großgerät muss nun erst einmal in die Armee eingegliedert werden.

Es geht für die Ukraine momentan also vor allem ums Standhalten.

Das Großgerät wird die Verluste der vergangenen Monate ausgleichen, aber es ist zu wenig, um die Ukraine in die Offensive zu bringen. Für die ukrainische Armee geht es nun darum, den Russen so hohe Verluste wie möglich zuzufügen. Aber die russische Armee ist aktuell so stark aufgestellt, dass es für Kiew schwierig werden wird, die Initiative zurückzugewinnen. Um wieder in die Offensive zu kommen, muss sich das russische Offensivpotenzial erst einmal abtragen.

Das macht wenig Hoffnung.

Trotzdem ist eben noch nicht alles verloren. Es wird ein langer Krieg und für die Ukraine hängt vieles auch weiterhin mit der Unterstützung aus dem Westen zusammen. Wir wussten, dass 2024 ein schwieriges Jahr für die ukrainischen Verteidiger werden wird, weil sich die westlichen Hilfen verzögert haben. Je besser die Ukraine nun verteidigt, desto mehr Zeit erkauft sie sich, um ihre Probleme zu lösen. Es braucht etwa Zeit, um schwächere Brigaden besser auszubilden oder neue rüstungstechnische Entwicklungen anzustoßen. Die Frage ist nur, wie sehr sie der Westen dabei unterstützen möchte – und da bin ich nach den vergangenen Monaten zunehmend skeptisch.

Aber die russische Armee steht nicht morgen vor Kiew, wenn es so weitergeht?

Nein, die Russen stehen noch lange nicht in Kiew.

Putin hat bisher wenige größere Städte eingenommen.

Das ist aber auch nicht sein Ziel. Die russische Führung weiß, dass sie nicht den großen und schnellen Durchbruch erzielen und das Land erobern kann. Putin will die gesamte Ukraine unterwerfen, indem er den militärischen Widerstand der Ukraine langsam erstickt. Wo die Russen die ukrainische Armee zermürbt, ist dabei aus Perspektive des Kremls egal. Deswegen werden sie keine großen Städte angreifen, solange sich die ukrainische Armee noch an allen Frontabschnitten verteidigen kann. Kiew wiederum weiß, dass sie nur auf dem Schlachtfeld oder am Verhandlungstisch etwas erreichen können, wenn die russische Streitmacht erodiert. Aber das ist noch ein langer Weg.

Stellt sich Putin mit der Benennung von Andrej Beloussow zum neuen Verteidigungsminister auf einen noch längeren Krieg ein?

Beloussow ist zumindest nicht nur ein Wirtschaftsfachmann, sondern er unterhält auch gute Beziehungen zu China. Genau darauf spekuliert Putin. Die chinesische Führung unterstützt Russland, die liefern Bauteile, chemische Vorprodukte und Maschinen. Russland hat aber nur begrenzte Kapazitäten, um Fahrzeuge und Waffen selbst zu produzieren – und das ist ein Problem für den Kreml. Putin will Waffen und Munition aus China und es kann durchaus sein, dass er mit seiner Ministerrochade eine breitere Unterstützung aus Peking bekommen möchte. Das ist auch wichtig für Europa.

Warum das?

Weil die Chinesen den europäischen Markt weiterhin brauchen. Deswegen hat der Westen einen Hebel, um auf China einzuwirken. In jedem Fall sollten die Europäer gegenüber China deutlich machen, dass direkte Waffenlieferungen an Russland Konsequenzen hätten.

Das klingt so, als würde für Putin in diesem Jahr vieles nach Plan laufen. Sehen Sie auch Rückschläge für den Kreml?

Die Verluste sind hoch für Russland, nicht nur an Menschenleben, sondern auch an Material. Sie werfen momentan mehr Kriegsgerät in die Kämpfe, als sie nachproduzieren können. Das ist logisch, weil sie aktuell die Schwächephase der Ukraine ausnutzen möchten. Das Problem für Moskau: Wenn die Ukraine standhält und sich die operativen Gewinne im Verhältnis zu den hohen Verlusten in Grenzen halten, dann kann sich das Blatt wenden. Putin spielt momentan mit einem sehr hohen Einsatz.

Dabei ist bemerkenswert, dass es trotz der hohen Verluste in Russland kaum Widerstand gegen Putin gibt.

400.000. So viele russische Soldaten wurden bisher in dem Krieg schwer verwundet oder getötet. Es soll 150.000 Gefallene geben. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die Soldaten gut bezahlt werden und dass die Familien auch nach ihrem Tod eine Menge Geld bekommen. Die russischen Personalreserven könnten erst im Jahr 2046 erschöpft sein, Putin kann also noch viele Menschen verheizen. Bei Panzern und anderem Kriegsgerät ist der Ofen aber viel früher aus.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Gustav Gressel
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