Politologe Ben Ansell "Trump würde das Baltikum nicht verteidigen"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Populismus erstarkt, Europa steht vor einem möglichen Rechtsruck. Wie können sich die westlichen Demokratien behaupten in Zeiten von Donald Trump und Wladimir Putin? Politologe Ben Ansell macht Vorschläge.
Im Osten Europas führt Russland Krieg gegen die Ukraine, jenseits des Atlantiks droht die Wiederwahl Donald Trumps ins Weiße Haus – eine ohnehin schon brenzlige Situation für ein Europa, in dem rechte Populisten Macht und Einfluss gewinnen. Wie kann Politik wieder funktionieren, warum führen Populismus und Ideologie ins Unglück? Diese Fragen beantwortet der britische Demokratie-Experte Ben Ansell, Autor des Buches "Warum Politik so oft versagt", im Interview.
t-online: Professor Ansell, warum versagt Politik so oft? Sie haben ein ganzes Buch über diese Frage geschrieben.
Ben Ansell: Politik ist ein ziemlich heikler Begriff. Manche Menschen fühlen sich an korrupte Machenschaften von Politikern erinnert und sind davon eher abgestoßen, andere verbinden mit Politik die Chance, kollektiv das zu erreichen, was individuell nicht möglich ist. Womit wir beim Kern des Problems sind: Wir sind Individuen, die aber kollektiv handeln müssen. Dafür ist es aber notwendig, unseren Egoismus zu überwinden. So lautet übrigens der Untertitel meines Buches.
Das klingt, als wenn die westlichen Gesellschaften Therapiebedarf hätten?
Tatsächlich verstehe ich mein Buch als eine Art Angebot einer Therapie. Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand: Das sind die Ziele, um deren Erreichung die Menschheit seit langer Zeit ringt, angesichts der globalen Erwärmung und anderer Krisen müssen wir noch viel stärker darum kämpfen. Ohne Politik wird es nicht gehen, sie könnte unsere letzte Hoffnung sein.
Immer mehr Menschen wenden sich allerdings von der Politik ab, der sie keine Lösungen für die Probleme der Gegenwart zutrauen. Was tun?
Tatsächlich wird genau andersherum ein Schuh draus. Wann scheitert Politik tatsächlich? Wenn wir versuchen, Politik ohne Politik zu machen. Wir suchen stattdessen Lösungen etwa in Form technologischen Fortschritts oder politischer Quacksalber und Technokraten, die uns einreden wollen, dass es besser wäre, die Politik loszuwerden. Davor kann ich nur warnen: In unserem Zeitalter des Populismus ist die Versuchung groß, derart simpel erscheinende Auswege aus all den chaotischen Meinungsverschiedenheiten zu suchen. Aber so einfach ist es nicht.
Tatsächlich wirkt die Politik oft überfordert angesichts der multiplen Herausforderungen. Ist die Welt zu komplex geworden?
Können Sie mir einen Ort nennen, an dem die Dinge funktionieren? Diese Frage hat mir einmal jemand gestellt. Die Antwort ist schwierig, denn nirgendwo auf der Welt scheinen die Menschen wirklich glücklich zu sein.
Ben Ansell, Jahrgang 1977, lehrt Politikwissenschaften am Nuffield College der Universität Oxford. Ansell gehört zu den führenden Demokratie-Forschern, gerade erschien sein Buch "Warum Politik so oft versagt. Und warum das besser wird, wenn wir unseren Egoismus überwinden".
Besonders nicht in den westlichen liberalen Gesellschaften. Woran liegt das?
Wir haben eine Periode der Geschichte hinter uns gelassen, in der es mit den USA lediglich ein wirklich mächtiges Land auf diesem Planeten gegeben hat. Mittlerweile zählt der Wille der Vereinigten Staaten weit weniger, es existiert eine Vielzahl umtriebiger und aggressiver Konkurrenten für das System, mit dem Amerikaner und Europäer aufgewachsen sind. Hinzu tritt die Stagnation des Wirtschaftswachstums in vielen westlichen Ländern seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten.
Damals fand sich die Lösung anstehender Probleme im Geldbeutel?
So lässt es sich ausdrücken. Frühere Generationen, einschließlich der Babyboomer, konnten mit politischen Konflikten umgehen, indem sie mit der Gegenseite zu einer finanziellen Übereinkunft kamen. Das ist heute viel schwieriger. Wobei ich das Argument nicht gelten lasse, dass die Welt heute von mehr Konflikten geplagt wird als früher. Auch in der Vergangenheit gab es Krisen zuhauf. Aber Deutschland erlebt im Moment tatsächlich etwas Neues.
Worauf spielen Sie an?
Die deutsche Politik macht gerade etwas durch, was sie seit 1945 nicht mehr erlebt hat. Ähnliches gilt auch für Europa: Wahlen werden von Populisten bestimmt. Für Deutschland ist das ein besonderer Schock, weil das Land lange Zeit Stabilität erlebt hat. Nehmen wir eine Phase der USA zum Vergleich: 1963 wurde Präsident John F. Kennedy erschossen, fünf Jahre später sein Bruder Robert, der ebenfalls ins Weiße Haus einziehen wollte. Ebenfalls 1968 brachte ein Attentäter den Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. um, während weiterhin der Krieg in Vietnam herrschte. Präsident Richard Nixon trat dann 1974 wegen der Watergate-Affäre zurück. Das war überaus dramatisch.
Nun geht es in unserer Gegenwart ebenfalls dramatisch zu: Russland führt einen Angriffskrieg und zertrümmert die europäische Sicherheitsarchitektur, China steigt auf und in der westlichen Führungsmacht USA droht eine Rückkehr Donald Trumps an die Macht.
Die Menschen in den westlichen Demokratien sind besorgt – auch zu Recht angesichts der zahlreichen Krisen und Herausforderungen. Derartige Bedenken sollte man auch nicht einfach wegwischen mit dem lapidaren Verweis, dass Demokratien halt auch harte Zeiten durchmachen. Demokratien passen sich an, Deutschlands starke Unterstützung der angegriffenen Ukraine ist ein Beispiel.
Liberale Demokratien benötigen die Fähigkeit zu Anpassung, nicht zuletzt müssen sie aber auch den Kern ihres Wesens – eben Demokratie und Liberalismus – schützen. Sind die Institutionen der Vereinigten Staaten auf eine mögliche zweite Amtszeit Trumps vorbereitet?
Persönlich gehe ich zu diesem Zeitpunkt von einem eher knappen Wahlergebnis aus, das Joe Biden im Amt bestätigen wird. Denn Trump ist vor allem bei Menschen beliebt, die aller Wahrscheinlichkeit nach weniger zur Wahlurne gehen werden. Außerdem können die Demokraten mit ihrer Befürwortung des Rechts auf Abtreibung im Wahlkampf punkten. Was aber wird im Falle eines Sieges von Donald Trump geschehen? Er wird nicht in der Lage sein, die Grundpfeiler der amerikanischen Demokratie zu beschädigen. Dazu ist Trump nicht in der Lage, die Institutionen sind gerüstet.
Und wenn Trump eine Niederlage im kommenden November nicht akzeptieren sollte? Am 6. Januar 2020 hetzte er seine Anhänger zum Putschversuch auf.
Es sah damals nicht gut aus, aber die Institutionen der amerikanischen Verfassung haben unter Stress standgehalten. Falls es nach der nun anstehenden US-Wahl zu Unruhen kommen sollte, wird dies eher in kleinerem Rahmen geschehen. Etwa wie in Brasilien 2022, als Jair Bolsonaro abgewählt worden ist. Ohne das Militär ist ein Staatsstreich schwierig – und das Militär wird Trump nicht gewähren lassen. Für die amerikanische Demokratie ist Trump also keine Bedrohung, aber für die Demokratie in Osteuropa sehr wohl. Europa sollte sich dringend darauf vorbereiten.
Sie spielen auf Trumps immer wieder irrlichternde Äußerungen zur Nato an?
Ja. Trump würde das Baltikum nicht verteidigen. In diesem Fall wären die Europäer gefordert, die sich aber eben unzureichend vorbereitet haben.
In Europa erstarken rechtspopulistische Parteien, die ihrerseits eine Herausforderung für die liberale Demokratie sind. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Die Entwicklung in Italien ist überaus interessant. Dort regiert Georgia Meloni als Ministerpräsidentin, deren postfaschistische Partei Fratelli d’Italia einen überaus starken ideologischen Hintergrund hat. Meloni agiert überaus geschickt, wirkt hart wie ausgewogen und hat radikalere Vorschläge bislang nicht realisiert. Vielleicht zeigt dies eine Entwicklung für Europa auf.
Zahlreiche Experten halten Melonis moderaten Kurs allerdings für Täuschung.
Wohin genau Meloni steuert, wird sich erst nach längerer Beobachtung zeigen.
Kennen Sie ein Erfolgsrezept gegen den Populismus?
Ehrlichkeit ist wichtig. Das ist die Lehre aus meiner Heimat Großbritannien, wo es 2016 zu einer großen Rebellion gekommen ist.
Sie denken an das Brexit-Referendum?
Richtig. Wir sollten nicht so tun, als wenn die Menschen nicht wütend auf das System sind, wir sollten sie auch nicht dazu bringen, den Mund zu halten. Denn als die Menschen 2016 das Gefühl bekamen, dass die Brexit-Abstimmung die Gelegenheit war, um zu zeigen, wie unglücklich sie waren, taten sie es auch.
Die von Populisten beschworenen Vorteile eines EU-Austrittes Großbritanniens haben sich allerdings als leere Versprechungen erwiesen.
So können Populisten entzaubert werden: Wenn sie die Führung übernommen haben und dabei scheitern. Der früher bei vielen Briten beliebte Premierminister Boris Johnson wäre so ein Fall. Dann entscheiden sich die Wähler bei der nächsten Abstimmung gegebenenfalls anders. Giorgia Meloni in Italien ist hingegen noch nicht gescheitert, wir müssen die Entwicklung abwarten.
In Europa stehen im Juni Wahlen zum Parlament an, es wird ein Erstarken der Rechtspopulisten erwartet. Was erwarten Sie?
Das ist wahrscheinlich. Wichtig wäre eine stabile konservative Mitte, die nicht weiter nach rechts rückt. Tatsächlich bestünde aber in einem weiteren von rechts außen regierten großen EU-Staat für die Demokratie auf dem Kontinent die größte Gefahr. Nehmen wir Frankreich an dieser Stelle.
Hat die Demokratie ihre Anziehungskraft verloren? Früher war der Glaube verbreitet, dass Demokratie und Wohlstand Hand in Hand gehen, nun zeigt der Aufstieg Chinas, dass es die Demokratie nicht zwangsläufig dafür braucht.
Misstrauen und Unzufriedenheit in den westlichen Staaten gründen zu einem nicht unwesentlichen Teil auf dem stagnierenden Wirtschaftswachstum in diesen Ländern. Wer glaubt, dass sein Leben härter ist als das seiner Eltern, ist nicht unbedingt glücklich.
Aber stabile politische und gesellschaftliche Verhältnisse basieren doch nicht ausschließlich auf wirtschaftlichen Kennzahlen – gerade in Hinsicht auf globale Probleme wie die Klimakrise?
In solchen Zeiten sind Charisma und Führung wichtig. Deutschland wurde lange von Angela Merkel regiert, sie schwebte in gewisser Hinsicht über allen anderen.
Kommen wir noch einmal zur von Ihnen eingeforderten Ehrlichkeit zurück: Was zählen Sie dazu?
Die Politik muss den Menschen ehrlich erklären, dass die anstehenden Herausforderungen Opfer notwendig machen. Die Leute sind ja nicht dumm, nicht jeder wird ein Gewinner sein. Damit landen wir wieder beim eingangs erwähnten Egoismus: Menschen handeln eigennützig, genauso wie Staaten dies tun. Jede andere Annahme ist irrig. Die Demokratie akzeptiert diese Tatsache, zu Problemen kommt es in den Fällen, in denen wir diese Gegebenheit ignorieren. Deswegen geht es auch nicht ohne Regeln, sie bringen uns dazu, das Notwendige zu tun, dem unser Egoismus zunächst im Wege steht.
Also plädieren Sie in gewisser Weise für mehr Politik?
Die Politik wird niemals enden, auch wenn manche das wünschen. Ja, Politik kann schwierig sein, chaotisch und manch anderes. Aber sie ist stets besser als die Alternativen.
Professor Ansell, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Ben Ansell via Videokonferenz