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Russland: Kolumnist Wladimir Kaminer über Putin, den Kreml und Propaganda


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Stimmung in Russland
Jeder will wissen, wann Putin stirbt

MeinungEine Kolumne von Wladimir Kaminer

15.10.2023Lesedauer: 4 Min.
Wladimir Putin: Russischsprachige Exilmedien wollen dem Kremlchef das Leben schwerer machen, meint Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russischsprachige Exilmedien wollen dem Kremlchef das Leben schwerer machen, meint Wladimir Kaminer. (Quelle: Sergei Karpukhin/imago-images-bilder)

Unablässig verkünden Russlands Staatsmedien den Menschen die Propaganda des Kremls. Zum Glück gibt es auch andere Stimmen. Meint Wladimir Kaminer.

In meiner Kindheit wusste ich nicht, was freie Medien bedeutet. Es gab damals zwei Dutzend Zeitungen, die ähnliche Namen trugen: Sie hießen "Komsomolzen Wahrheit", "Pionier Wahrheit", "Moskauer Wahrheit" oder einfach nur "Wahrheit". Die Sowjetunion produzierte diese "Wahrheiten" wie am Fließband – und alle Texte waren gleich. Geradezu als wären sie von einer minderbemittelten Künstlichen Intelligenz geschrieben worden und nicht von real existierenden Menschen. Man kannte die Autoren nicht.

Niemand glaubte auch nur ein Wort von dem, was in diesen Zeitungen stand. Pikanterweise haben alle schlauen "Wahrheiten" den Untergang der Sowjetunion überlebt, alle erscheinen noch heute, einige sogar auf Papier, die anderen sind als digitale Medien gut unterwegs. Damals hinter dem Eisernen Vorhang forderten sie Freiheit, aber selbstverständlich nicht die Freiheit der eigenen Bürgerinnen und Bürger innerhalb der Sowjetunion. Sondern die Freiheit der angeblich Eingesperrten im kapitalistischen Lager des Westens.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Kürzlich ist sein neues Buch "Frühstück am Rande der Apokalypse" erschienen.

Als Schüler demonstrierten wir auf der Straße etwa für die Freiheit der amerikanischen Kommunistin Angela Davis. Wir taten es nicht freiwillig, aber schlecht war es nicht, die Freiheit für Nelson Mandela aus Südafrika oder für den Chilenen Luis Corvalán zu fordern. Einige von uns identifizierten sich tatsächlich mit diesen Gefangenen. Ein Mädchen aus meiner Schule schrieb das Gedicht:

„Ich darf leider nicht rüberschwimmen/

über den Ozean

ich hätte Dich gern gerettet/

Genosse Luis Corvalán."

Der Kreml kann es nicht lassen

Wir durften nicht raus, wir hatten keinen Zugang zu unabhängigen Medien. Als Erwachsene gingen wir aber regelmäßig zur Wahl – und wählten wie Idioten mittels einer Liste mit einem einzigen Kandidaten darauf. Kein Wunder, es gab nur eine Partei, nur einen Platz zu besetzen und dementsprechend nur einen Kandidaten. Der Kandidatenmangel folgte also einer gewissen Logik.

Durch die Perestroika unter Michail Gorbatschow bekamen die Medien dann immer mehr Unabhängigkeit. Plötzlich stellten wir fest, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger der gleichen Meinung waren, was die Zukunft des Landes betraf. Eine neue Generation von Journalisten entstand: Sie wurden zu wichtigen Stimmen des öffentlichen Lebens, sie spalteten und provozierten, sie wurden geliebt und gehasst.

Im Zuge von Putins Herrschaft begann der Staat aber schließlich erneut mit der Zensur. Diese bestand nun darin, dass ein Kurator der Kreml-Administration sich jeden Monat mit den Chefredakteuren traf. Sie freuten sich jedes Mal, wenn sie die Einladung aus dem Kreml bekamen. Auf festem weißen Papier mit goldener Schrift gedruckt, nahmen sie diese Einladungen als Beweis ihrer Wichtigkeit. Die Redakteure wurden auf diesen Treffen – um Gottes willen – zu nichts gezwungen. Sie sollten nur "die generelle Linie der Administration besser verstehen". So, so ...

Der Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat die unabhängigen Journalisten nun in weitere große Gefahr gebracht. Die staatlich gelenkten "Wahrheiten" sind geblieben, viele andere mussten fliehen. Das hat es auf der Welt schon oft gegeben: Nach einem politischen Wandel floh die regimekritische Presse ins Ausland, so haben es schon iranische, chilenische, afghanische und viele weitere Journalisten erlebt.

Das liebe Geld

Der Fall des heutigen Russlands mit seiner vor Putin geflüchteten Presse ist trotzdem einzigartig. Noch nie war eine unabhängige Presse samt und sonders umgezogen und zugleich in der Lage, im und vom Ausland aus weiterzumachen. Was natürlich damit zu tun hat, dass die Medien sich immer stärker vom Papier lösen – und als digitale Medien schwieriger zu drangsalieren sind. Das russische Zensurkomitee jagt schon längst keine Papiererzeugnisse mehr, stattdessen trachtet es danach, Internetseiten zu blockieren, die immer wieder aufs Neue entstehen. Wie Pilze nach dem Regen.

Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine 2022 sind mehr als 70 russischsprachige unabhängige Medien im Ausland registriert worden. Es sind nicht nur große hauptstädtische Zeitungen und Radiosender, auch die wichtigen Stimmen aus der Provinz sind dort: "Menschen um den Baikalsee" – ein großartiges und sehr populäres Medium aus Irkutsk ist nach Europa umgezogen.

Die ausgewanderten Medien haben in Russland eine Quote, die mit dem offiziellen russischen Staatsfernsehen mithalten kann. Die Videos von Radio Echo aus Berlin werden 20 bis 30 Millionen Mal pro Woche angeklickt, die staatlichen Medien haben circa 70 bis 80 Millionen Zuschauer. Das Hauptproblem dieser Exilmedien ist aber die Finanzierung. Mit Werbeaufträgen können sie nicht punkten, weil die Russen sanktioniert sind und so gut wie nichts aus dem Ausland beziehen dürfen.

Andererseits würde jeder russische Geschäftsmann, der bei den regierungskritischen Medien Werbung schalten sollte, sein Geschäft, wenn nicht gar sein Leben, riskieren. Deutsche Firmen, die sich dumm und dämlich in Russland verdient hatten, könnten nun helfen. Aber sie tun es nicht. Verwunderlich, wenn man überlegt, dass der schlimmste TV-Propagandist Wladimir Solowjow bis vor gar nicht langer Zeit das Gesicht der Automarke Mercedes in Russland gewesen ist.

Was verraten die Karten?

Heute hetzt er hingegen gefühlt jeden zweiten Tag zum heiligen Krieg gegen Europa auf und befürwortet die Bombardierung Deutschlands. Noch vor zwei Jahren lächelte sein Gesicht hingegen von mancherlei Mercedes-Plakat mit dem Spruch "Richtige Autos für richtige Kerle". In der langen Reihe der Unterstützer kritischer russischer Medien ist Deutschland derweil ganz unten auf der Liste, hinter Lettland und Litauen. Dabei wäre es nicht verkehrt, die Russen aufzuklären – das könnte schneller zum Frieden führen als der Einsatz von irgendwelchen Wunderwaffen.

Gerade herrscht in Russland ein großes Misstrauen den eigenen Medien gegenüber. Die Zunft der Tarot-Kartenleger, die neuerdings auch digitale Zahlung ermöglichen, haben enormen Zulauf. Die Menschen sind bereit zu zahlen, wollen aber eindeutige Voraussagen: Wird die zweite Mobilisierungswelle kommen? Wann stirbt Putin? Und vor allem: Wie geht der Krieg aus?

Die Kartenleger äußern sich allerdings kryptisch: Narr, Tod, Kelch und die Vier Schwerter würden nach einem zermürbenden Stillstand die notwendigen Transformationsprozesse einleiten, die einen radikalen Neubeginn versprechen. Hört sich doch beruhigend an.

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