Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet."Gewinnen ist Glückssache" Das ist der wahre Grund für Deutschlands WM-Aus
Deutschland ist raus bei der Weltmeisterschaft – wen sollen die deutschen Fans nun anfeuern? Und noch wichtiger: Wer trägt die Schuld an der Niederlage der DFB-Elf? Fragt sich Wladimir Kaminer.
Ich verstehe nichts von Fußball, das möchte ich gleich betonen. In meiner Jugend in Moskau habe ich Eishockey gespielt, bin gerudert und geschwommen. Aber für Fußball war es draußen die meiste Zeit doch zu kalt und nass. Wir hatten einen kurzen Sommer, es regnete oft. Der Regen verwandelte jede zum Fußballspielen gewählte Fläche schnell in Matsch.
Dafür bin ich in Berlin in ein Haus neben einem Stadion gezogen, wo ständig gespielt wird, jede Woche ziehen Fußballfans an meinen Fenstern vorbei. Allein in unserer Straße gibt es drei Sportbars, wo freundliche Menschen mit großen Bieren auf massive Bildschirme starren und kleinen, sprintenden Figuren in bunten T-Shirts auf einem grünen Hintergrund beim Hin- und Herlaufen zugucken. Das sind meine Lieblingskneipen geworden.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neues Buch "Wie sage ich es meiner Mutter. Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel".
Dort habe ich den Fußball kennengelernt. Nun, da die deutsche Elf ihren Kurzaufenthalt in Katar ruhmlos zu Ende brachte, hat sich die Anzahl der Sportbarbesucher nur unwesentlich verkleinert. Sie haben jetzt alle bloß eine neue Fußballidentität. Die meisten sind für Brasilien, da kann man nichts falsch machen. Die deutschen Fans sind ein duldsames Völkchen, sie haben nicht nur die wenigen Spiele gesehen, die die deutsche Fußballnationalmannschaft abgeliefert hat. Sondern sich auch die ganze Aufarbeitung der Niederlage von der Expertenarmee reingezogen.
Wenn man die Fernsehstunden zusammenrechnet, hat die Selbstzerlegung und die Suche nach den Schuldigen länger gedauert als die verlorenen Spiele selbst. Auch die Besucher der Sportbar haben an der Diskussion mit Enthusiasmus teilgenommen. Wer hat schuld, wer trägt die Verantwortung? Die Sportbargesellschaft war da geteilter Meinung.
Quälende Schuldfrage
Für die einen war es der Bundestrainer, der die Mannschaft falsch aufgestellt habe, für die anderen waren es die Spieler selbst – allesamt hochnäsige, abgehobene Millionäre, die keine Lust mehr hätten, sich zu verausgaben. Wieder andere gaben dem Deutschen Fußball-Bund und dem Wüstenemirat Katar die Schuld an der Niederlage der Deutschen: Das ungewohnte Klima und die schlechte Organisation der Reise hätten unsere Spieler auf dem Feld ausgebremst.
Die Sexisten gaben dann LGBTQ die Schuld an der Niederlage. Hätten unsere Spieler sich bloß nicht so viel mit "One Love"-Binden beschäftigt und stattdessen besser aufs Spiel konzentriert, wären sie sicher ins Achtelfinale gekommen. Die Anhänger von Fridays for Future wiederum behaupteten, die Niederlage sei vorprogrammiert gewesen: eine logische Konsequenz aus dem allgemeinen Lauf des Lebens, in dem nicht nur die Deutschen, sondern alle alten weißen Männer grundsätzlich auf ganzer Linie versagen.
Die Fridays-Menschen setzen auf Marokko als möglichen zukünftigen Weltmeister. Die alten weißen Männer in der Bar auf die Franzosen. Die Verschwörungstheoretiker, die offensichtlich auch gerne Buchstaben zählen, entdeckten plötzlich einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Buchstaben im Namen der Bundestrainer und den erfolgreichen WM-Spielen.
Die Deutschen haben nämlich insgesamt in ihrer Geschichte viermal die WM gewonnen, die Trainer mit langen und mit kurzen Namen wechselten sich dabei ab: Herberger-Schön-Beckenbauer-Löw. In diesem Wechsel sehen die Verschwörungstheoretiker das Geheimnis des deutschen Erfolgs. Nach Logik der Buchstabenzähler hätte nach Löw einer mit einem längeren Namen an der Reihe sein sollen, stattdessen kam Flick und versaute alles.
Mit der Expertise ist es so eine Sache
Ich habe schon früher bemerkt, dass Fußball sich von allen anderen Sportarten in der Anzahl der Experten unterscheidet. Es sind Millionen. Ich habe sie nicht nur in der Sportbar, in sozialen Medien oder im Fernsehen gesichtet, sondern auch im Speisewagen im Zug und im Supermarkt in der Schlange zur Kasse. Kurz gesagt: Die Experten sind überall, sie alle wussten anscheinend viel besser als die Spieler Bescheid, wie man "richtig wedelt".
Nun ist die entscheidende Frage bei jeder Expertise die nach der Kompetenz. Wie kann derjenige, der dir zu erklären versucht, was wirklich passiert ist, seine Kompetenz beweisen? Am besten durch eigene Erfahrung. Er muss also selbst schon mal Fußball gespielt und gewonnen haben – nicht unbedingt bei einer WM –, dann kann er mit gutem Recht darüber reden. Und Fußball haben alle gespielt, es gibt kaum jemanden hier, der nicht schon einmal dem Ball hinterhergelaufen ist.
Und deswegen hat Fußball in Deutschland eine sehr große Expertenrunde. Wir können die Meinungen der Experten nicht nachprüfen, wir wissen nicht, wie sie selbst gespielt hätten, gegen Japan in Katar. Wir glauben ihnen aber aufs Wort. Ich bin so ziemlich der Einzige in der Sportbar, der keine Expertise liefert, ich habe wie gesagt nie Fußball gespielt. Ich sage immer nur: "Hey Leute, es ist nur ein Spiel. In einem Spiel geht es auch darum, manchmal zu verlieren. Gewinnen ist Glückssache. Natürlich ist das Können wichtig, aber auch eine gehörige Portion von Fortuna gehört dazu."
Es ist schade, dass die deutsche Mannschaft vorzeitig aus dieser höchst spannenden WM ausgeschieden ist. Die Erwachsenen schauen aber trotzdem weiter, bei den Kindern sehe ich jetzt etwas weniger Interesse. Die Kinder mögen die Gewinner, mit denen sie sich identifizieren können. Viele Freunde von mir, die als Fans von Werder Bremen oder Schalke 04 durchs Leben gehen, konnten ihre Begeisterung für diese Mannschaften nicht an ihre Kinder weitergeben.
Die Kinder sind gern für Bayern München, weil, wie sie sagen, "Bayern München immer gewinnt". Es gilt in Kinderkreisen geradezu als sozial verächtlich, gegen Gewinner zu sein. Die Kinder machen sich keinen Kopf, für wen man mitfiebern soll, sie wollen einfach auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Die Erwachsenen mühen sich hingegen mit der Suche nach einer neuen Identität ab: Ungewöhnlich viele haben nun einen Brasilianer in sich entdeckt.