Putins fatale Fehleinschätzung Der Blitzkrieg wird zum Blutbad
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Russlands Präsident Wladimir Putin gibt zu, dass er die Stärke der Ukraine unterschätzt hat. Was folgt daraus? Das Lehrbeispiel ist Syrien.
In Kürze jährt sich der Überfall auf die Ukraine. Nichts ist so gekommen, wie es sich der große Feldherr im Kreml ausgemalt hat. Wolodymyr Selenskyj ist noch immer Präsident, Kiew eine freie Stadt und das Land, dem Putin jede kulturelle oder politische Eigenständigkeit absprach, erweist sich als Hort nationalen Widerstandes.
Im Gespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett gestand Wladimir Putin ein, dass die Ukraine wehrfähiger ist, als ihm eingeflüstert wurde. Er schickte aber hinterher: "Wir sind ein großes Land und haben Geduld."
Für die nächsten Tage hat der Kreml eine große Rede des Präsidenten angekündigt. Niemand erwartet Friedensschalmeien, im Gegenteil: Russland könnte noch stärker auf Kriegswirtschaft umschalten oder noch mehr Kanonenfutter an die Front werfen. Alles andere wäre fast eine Überraschung.
Diktatoren lassen gern Köpfe rollen
Für das Frühjahr bereitet Russland offenbar eine Offensive vor. Der Krieg, das Töten geht weiter, immer weiter. Wie viele russische Soldaten schon gestorben sind und noch sterben werden, hat keine Auswirkungen auf Putins Gemüt.
Seine Generäle misst er daran, ob sie ihre haarsträubenden Fehler, die auf seinen haarsträubenden Fehlern beruhen, wettmachen können. Diktatoren lassen gerne Köpfe rollen, damit der eigene Kopf möglichst fest auf dem Hals sitzen bleibt.
In einer aufwendigen Recherche hat die "New York Times" die Anfänge des Krieges rund um den 24. Februar recherchiert. Die Reporter kamen in den Besitz geheimer Schlachtpläne, konnten abgefangene Funksprüche und Telefonate auswerten, interviewten russische Soldaten und sprachen auch mit Leuten, denen das Innenleben des Kremls vertraut ist.
Das Lehrbeispiel ist Syrien
Verwundete Soldaten erzählten, dass sie ohne ein Mindestmaß an militärischer Ausbildung in den Krieg ziehen mussten. Sie hätten nicht genug zu essen gehabt, Ausrüstung und Munition seien Mangelware gewesen. Scharfschützen hätten den Gebrauch ihrer Gewehre auf einem Wikipedia-Ausdruck studiert, die Landkarten für den Vormarsch in die Ukraine hätten aus den Sechzigerjahren gestammt. Da viele Soldaten per Handy daheim anriefen, war es ein Leichtes, sie zu orten. Auch so sind die hohen Verluste der russischen Streitkräfte zu erklären.
Das Lehrbeispiel ist Syrien. Was sich nicht erobern lässt, wird eben zerstört. Wie viele Soldaten dabei ihr Leben lassen, ist zweitrangig. Angeblich liegt Putins Limit bei 300.000 Toten. Aber wer will schon wissen, wann die Verluste an Menschenleben seine Macht bröckeln lassen?
Mit Putin gibt es keinen Frieden. Und ohne ihn?
Dem großen Strategen Putin gab Selenskyj schnell nach Kriegsbeginn Rätsel auf. "Was für eine Art Jude ist er?", fragte Putin den israelischen Ministerpräsidenten Bennett. "Er macht doch die Nazis dort salonfähig." Derart verantwortungslos, derart ahnungslos redet also der Mann, der sich für den Lenin des 21. Jahrhunderts hält und die Ukraine ins Reich holen will.
Ein Blitzkrieg sollte es werden. Ein lang anhaltendes Blutbad ist daraus geworden. Kein demokratischer Kriegsherr könnte sich im Amt halten, wäre er dermaßen seiner Selbstsuggestion erlegen. Nur ein Diktator mit seinem riesigen Manipulationsapparat kann von seinem fundamentalen Versagen ablenken.
Der Krieg sei "ironischerweise so schwer zu beenden, weil Russland ihn verloren hat", sagt der britische Historiker Lawrence Freedman in einem Interview. So ist es. Mit Putin gibt es keinen Frieden, lautet die Schlussfolgerung. Und ohne Putin?
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