Prominente Trauerfälle Die Eitelkeit stirbt zuletzt
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Der digitale Umgang mit Trauer wird immer seltsamer. Das zeigte sich schon bei Franz Beckenbauer und Tina Turner. Und nun auch beim Tod des Schriftstellers Paul Auster.
Vergangene Woche ist der US-Schriftsteller Paul Auster gestorben. Das ist ein großer Verlust, denn Auster hat tolle Romane geschrieben. Ich habe sie zum Teil verschlungen. Aber um mich soll es hier gar nicht gehen. Denn es gibt Momente, da muss man anerkennen: Einfach mal die virtuelle Kresse zu halten, wie man so schön sagt, ist alternativlos. Der Tod Paul Austers erzählt dazu eine eigene Geschichte. Eine über uns, über unsere Verantwortung im Netz. Denn um seine Leser, um Menschen, die erst in zweiter oder dritter oder x-ter Reihe von seinem Tod betroffen sind, ging es viel zu schnell. Und zwar direkt von Beginn an.
Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Aber lassen Sie mich kurz ausholen. Kürzlich erlebte ich in einer größeren Runde mit, wie jemand vom Tod eines Verwandten erfuhr. So eine Nachricht ist immer ein Schock, aber es bewegte sich in einem akzeptablen Rahmen. Beim Verstorbenen handelte es sich um einen älteren Herrn, dessen Tod sich schon länger abgezeichnet hatte. Trotzdem ist das traurig, überhaupt keine Frage. Die Person, mit der ich mich gerade in einem Raum befand, verabschiedete sich vorzeitig mit der Begründung, sie wolle diejenige sein, die ihren Liebsten diese Nachricht überbringt. Es handelt sich um eine große Familie, und Tanten, Cousinen, Geschwister könnten ihr zuvorkommen, war ihre Sorge. Nachvollziehbar, oder? Fast schon logisch.
Tod schneller im Netz
Ab einem gewissen Grad an Prominenz aber anscheinend immer schwieriger. Im Falle von Paul Auster nämlich lief es folgendermaßen ab: "Er starb mit uns, seiner Familie, bei sich, am 30. April 2024 um 6.58 abends", schrieb Austers ebenfalls prominente Witwe, die Schriftstellerin Siri Hustvedt auf Instagram: "Später fand ich heraus, dass die Todesnachricht in den Medien zirkulierte und Nachrufe gepostet wurden, noch bevor sein Leichnam aus unserem Haus geholt worden war. Weder ich noch unsere Tochter Sophie noch unser Schwiegersohn Spencer noch meine Schwestern, die Paul wie seine eigenen liebte und die bei seinem Tod dabei waren, bekamen die Zeit, unseren schmerzlichen Verlust zu begreifen. Keiner von uns konnte unsere Nächsten anrufen oder ihnen mailen, bevor das Geschrei online begann. Diese Würde wurde uns geraubt. Ich kann nicht ganz nachvollziehen, wie das passiert ist, aber eins weiß ich: Es ist falsch."
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Tja. Natürlich waren professionelle Medien beteiligt – aber einen beachtlichen Teil des medialen Brummens, das an Geschmacklosigkeit schwer zu überbieten ist, machten Otto Normaluser aus. Mit anderen Worten: Wir.
Übergriffigkeit in Trauerzeiten
Da waren sie also wieder, diejenigen, die die sozialen Netzwerke unbedingt für eines brauchen: zur Selbstdarstellung. Der oder die Erste zu sein, sich dem Schwarm anzuschließen, mittratschen zu können – das ist wichtiger, als eine Familie in Ruhe zu lassen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Zu akzeptieren, dass der Mann, der Vater, der Schwager nicht mehr da ist, das dauert. Sich um sich selbst ausreichend zu kümmern und um die anderen, die auch gerade einen geliebten Menschen verloren haben. Sich neu zu justieren in einer Welt, die man ohne den gerade Verstorbenen entweder gar nicht kennt oder sich nach all den Jahren zumindest nicht mehr vorstellen kann – das kostet Zeit und Kraft. Im Falle von Austers Hinterbliebenen muss Kraft aber auch darauf verwendet werden, die fehlende Privatsphäre und den Kontrollverlust in das sehr komplexe Gefühlsdurcheinander einzuarbeiten, das der Tod eines nahen Menschen bei uns allen auslöst.
Es ist höchst egozentrisch, um es mal deutlich zu sagen, es ist brutal und es ist zynisch, vermeintliche Trauer und Anteilnahme als Deckmantel für die eigene Eitelkeit und den eigenen Darstellungsdrang zu missbrauchen. Der Mensch, der gegangen ist und diejenigen, deren Leben sich dadurch von Grund auf ändern wird, die wirklich, wirklich traurig sind, werden zur Brücke degradiert, über die man ohne Rücksicht hinweg trampelt – dem Ziel des eigenen Bedeutungsgewinns entgegen.
Selfie-Kultur bei Trauerbekundungen
In dieselbe Kategorie fällt übrigens das seit jeher so beliebte Posten von Bildern, die den oder die Verstorbene mit den Postenden zeigt. "Guckt mal, hier, das sind Franz Beckenbauer und ich, als ich ihn mal am Flughafen Zürich um ein Selfie gebeten habe!" – "Seht her, Tina Turner ist tot. Sie ist übrigens die Frau neben mir; sie war damals nicht schnell und unfreundlich genug, um Nein zu sagen zu einem gemeinsamen Bild."
Leute, was soll das? Was soll denn das aussagen? Dass ihr wichtig seid? Dass ihr ganz nah dran wart? Das ist so durchsichtig in der kompletten Fehleinschätzung der eigenen Bedeutung, dass es euch noch kleiner macht, als ihr euch anscheinend ohnehin schon fühlt.
Also lasst es doch. Es ist pietätlos, es ist peinlich. Oder, vielleicht trifft ja dieses Argument den offensichtlich sehr ausgeprägten Nerv: Es lässt euch schlecht aussehen.
- Eigene Meinung