Was macht eigentlich Jérôme Boateng? Nur beim Basketball in der ersten Reihe
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.2021 war Schluss für den Weltmeister beim FC Bayern – nicht unbedingt gewollt. Dann ging Jérôme Boateng zu Olympique Lyon. Und wie läuft es dort seitdem?
Da saß er, direkt am Spielfeldrand in der Mercedes-Benz-Arena. Im Deutschland-Trikot. Fieberte mit den Tausenden anderen Fans mit, jubelte, zitterte, staunte.
Wer am späten Freitagabend vergangene Woche das dramatische 91:96 des DBB-Teams im Halbfinale der Basketball-Europameisterschaft gegen Spanien sah – ob vor dem Fernseher oder in der Halle –, der erlebte in vorderster Reihe am Parkett einen gelösten Jérôme Boateng. Der Fußball-Weltmeister von 2014 ist gemeinhin bekannt als Basketballfan, wollte den Höhenflug der deutschen Korbjäger beim Turnier zu Hause miterleben – und vielleicht auch dem eigenen Alltag entfliehen.
Denn 2022/23 ist der 34-Jährige für den einstigen französischen Serienmeister Olympique Lyon noch nicht zum Einsatz gekommen, stand auch im Schlagerspiel am Montag gegen Paris Saint-Germain nicht einmal im Kader von "OL".
Das Verhältnis zu Trainer Peter Bosz gilt mindestens als unterkühlt, seitdem der Niederländer, einstmals in der Bundesliga bei Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen tätig, im Sommer 2021 seinen Job im Südosten Frankreichs antrat.
Unglücklicher Abschied aus München
Es ist der nächste Schlag in der über viele Jahre so erfolgreichen Karriere des Innenverteidigers. Schon der Abschied beim FC Bayern, zu dessen Leistungsträgern der Berliner fast ein Jahrzehnt lang zählte, geriet unglücklich.
7. April 2021: "Jérômes Vertrag läuft im Sommer aus. Er wird nicht verlängert", erklärt Sportvorstand Hasan Salihamidzic im Live-TV, kurz vor dem Champions-League-Spiel der Münchner gegen PSG. Zuvor hatte der deutsche Rekordmeister bereits die Verpflichtung von Dayot Upamecano von RB Leipzig perfekt gemacht – und allein die Ablösesumme von 42,5 Millionen Euro für den jungen französischen Abwehrspieler verdeutlichte, dass da keine Ergänzung zu Boateng geholt wurde, sondern ein Ersatz. Der forcierte Abgang des Stammspielers stößt nicht nur dem damaligen Bayern-Trainer Hansi Flick übel auf – dieser hatte sich zuvor wiederholt für Boateng öffentlich starkgemacht.
Das Verhältnis zur Vereinsspitze allerdings war da schon beschädigt, die ganz große Liebesbeziehung war es wohl nie zwischen den Oberen des Klubs und dem durchaus auch eigenwilligen Fußballer mit seinen wechselnden Frisuren, seinem Faible für Mode, seinem mitunter auch mal turbulenten Privatleben.
Bereits im November 2016 fuhr Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge Boateng öffentlich barsch an. Gerade hatten sich die Bayern beim 2:3 in der Königsklasse beim russischen Underdog FC Rostow blamiert, Boateng war an gleich zwei Gegentreffern entscheidend beteiligt, musste dazu nach gut einer Stunde verletzt ausgewechselt werden.
Da entfuhr es dem Klubboss: "Jérôme muss mal wieder etwas zur Ruhe kommen. Das ist mir schon seit Sommer etwas zu viel. Es wäre in seinem Sinne und im Sinne des Klubs, wenn er mal wieder 'back to earth' kommen würde."
Boateng selbst konterte zeitnah in der "Bild": "Ich habe nicht gut gespielt. Das liegt auch daran, dass ich nach meiner Verletzung von der EM und dem späten Einstieg in die Vorbereitung noch nicht wieder bei 100 Prozent bin. Der Grund dafür sind aber nicht irgendwelche PR- oder Lifestyle-Termine. Wer mich kennt, weiß, dass ich immer alles tue, um in Topform zu sein." Das saß.
Flick stellte sich schützend vor Boateng
Im Frühling 2021 ist Ehrenpräsident Uli Hoeneß dran. Boateng würde er zur EM "nicht mitnehmen", rät er dem damaligen Bundestrainer Joachim Löw während seines kurzlebigen Expertenjobs bei RTL. Und legt noch nach: "Ich würde ihm empfehlen, den Verein zu verlassen."
Flick stellt sich wenige Tage später vor den Ungewollten: Er kenne es vom FC Bayern so, "dass man seine Spieler unterstützt" – und hält ein Plädoyer für Boateng. "Jérôme hat hart an sich gearbeitet, um wieder auf dieses Niveau zu kommen. Er kann jeder Mannschaft guttun." Wenige Tage später dann erklärt Salihamidzic das Aus.
Am 22. Mai 2021 läuft Jérôme Boateng zum letzten Mal für die Bayern auf, wird am letzten Spieltag der Saison beim 5:2 gegen den FC Augsburg nach 61 Minuten ausgewechselt. Weint bittere Tränen. Es ist vorbei. Nach 10 Jahren, 363 Pflichtspielen, 2 Champions-League-Siegen, 9 deutschen Meisterschaften, 5 DFB-Pokal-Siegen und 2 Klub-Weltmeisterschaften.
"Ich weiß, er wäre gerne auch in München geblieben, auch aufgrund seiner Familie", sagt der ebenfalls scheidende Flick nach der Partie. In seiner Mannschaft sei Boateng der konstanteste Verteidiger gewesen, und überhaupt: "Einer der besten Innenverteidiger Deutschlands" verlasse nun den Klub. "Ich hoffe, dass er einen guten Verein erwischt."
"Die Reise geht weiter"
Den findet er. Anfang September 2021, die Saison läuft schon, unterschreibt der vereinslose Boateng in Lyon, erhält einen Vertrag bis 2023. "Die Reise geht weiter" twittert er von seiner Vorstellung beim Klub. Mitunter den Ausschlag für "OL" gibt ein Telefonat mit Unterstützer Flick.
"Ich habe ihn nach seiner Meinung und seinem Rat gefragt", erklärt Boateng "Sport 1". "Das mache ich aber immer, weil ich zu Hansi schon immer ein gutes Verhältnis habe. Wir haben viele Titel miteinander gewonnen. Bei der Nationalmannschaft und beim FC Bayern. Er hat einen großen Anteil an meiner Karriere, weil er mich kennt und meinen Weg seit meiner Jugend begleitet."
Doch die Reise in Lyon, sie geht zunächst nur ein knappes halbes Jahr zügig weiter. Ist Boateng in der Hinrunde der Ligue 1 2021/22 noch fester Bestandteil der Startelf, kommt er im zweiten Halbjahr nur noch elfmal zum Einsatz, des Öfteren für Kurzeinsätze. Bosz setzt nicht mehr auf den Neuzugang.
Die "L’Equipe" berichtet von mehreren verbalen und sogar handgreiflichen Auseinandersetzungen Boatengs mit Teamkollegen, auch mit Bosz selbst habe der ehemalige Nationalspieler lautstark über dessen Taktik gestritten. "Ich kann nicht viel sagen", erklärt Bosz Mitte Februar dieses Jahres nach dem 2:0 in der Liga gegen Nizza, bei dem Boateng zum ersten Mal ganz im Aufgebot fehlt. "Für mich war er einfach nicht bereit, zu spielen." Unstimmigkeiten habe man durch ein Gespräch aus der Welt schaffen können.
Allerdings: Bis Saisonende änderte sich an Boatengs Situation nichts. Im Sommer stand er gleich mehrfach vor einem Wechsel in die Türkei. Meister Trabzonspor soll interessiert gewesen sein, doch das Gerücht zerschlug sich schnell wieder. Zum Saisonstart nun soll Boateng auch aufgrund muskulärer Probleme ausgefallen sein.
Doch eventuell nimmt seine Reise in Lyon nun doch wieder unerwartet Fahrt auf: Er sei wieder ins Training eingestiegen, berichtete Bosz in der vergangenen Woche. "Das ist sehr positiv", schlug der Niederländer ungewohnt wohlwollende Töne an.
"Wenn alles gut geht, dann trainiert er bald wieder mit der Mannschaft." Und weiter: "Wenn er zeigt, dass er besser ist als andere", dann sei natürlich wieder Platz in der Mannschaft für den Deutschen, beteuerte der 58-Jährige.
- Leistungsdaten von Jérôme Boateng bei transfermarkt.de
- L'Equipe: Peter Bosz défend Thiago Mendes
- Flick: Boateng "wäre gerne in München geblieben"
- Sport 1: Flick adelt Boateng: "Einer der besten in Deutschland"
- Sport 1: Jérome Boateng schießt gegen Rummenigge zurück
- Jérôme Boateng über seinen Wechsel nach Lyon